IM GRIFF DER SEUCHE
Es war in der Zeit, als die Seuche über uns hereinbrach. Nahezu unbemerkt hatte sie sich in unseren Alltag geschlichen. Es waren zunächst nur einzelne und nur wenige Krankheitsfälle aufgetreten. Doch dann griff das Virus um sich. In immer kürzeren Zeitabständen infizierten sich immer mehr Menschen. Und auch schwerste Krankheitsverläufe häuften sich.
Die Regale in den Supermärkten und Apotheken wurden leergekauft. Boutiquen und Geschäfte mussten schließen. Firmen stellen ihre Arbeit ein, Fabriken ihre Produktion. Ausgangssperren wurden verhängt. Bilder von den überfüllten Intensivstationen der Krankenhäuser und Patienten unter Beatmungsgeräten flimmerten über die Bildschirme. Fahrzeuge und Uniformen von Polizei und Militär auf den Straßen. Und täglich präsentierte man die steigende Zahl derer, die dieses Virus mit dem Leben bezahlt hatten. Das Wort Pandemie hing schwer wie Blei über diesem Land, über diesem Kontinent, über diesem Planeten.
Der stille Begleiter dieser Seuche war die Angst. Unmerklich krabbelte sie bis in den letzten Winkel der Gesellschaft. Und setzte sich in den Köpfen der Menschen fest. Sie begann jede noch so kleine menschliche Regung, jede noch belanglose Handlung des Alltags zu durchdringen. Und auf diese Weise beherrschte sie das Leben ganzer Länder und Kulturen. Denn dieses Virus war unsichtbar. Es konnte überall sein. Jeder konnte sein Träger sein. Es konnte zu jeder Zeit und an jedem Ort zuschlagen. Und das ganz plötzlich. Niemand konnte absehen, wie lange es noch wüten würde. Und wieviele ihm noch zum Opfer fallen würden.
FAHRRADFAHREN LERNENDER ZENMEISTER
In diese Zeit fiel es, dass mein Zen-Meister gerade das Fahrradfahren erlernt hatte. Und so fuhr er mit seinem Fahrrad vor mir her. Noch ganz unsicher und wackelig. Seine gesamte Konzentration war darauf ausgerichtet, die notwendigen Bewegungen und Abläufe richtig zu koordinieren, um mit dem Fahrrad voranzukommen. Ich spazierte hinter ihm her. Immer, wenn er ein paar Meter vorausgefahren war, hielt er an, drehte sich zu mir um und wartete auf mich. Freudestrahlend. Und wenn ich dann bei ihm angelangt war, lobte ich ihn für das, was er da vollbracht hatte. Voll von unbändigem Stolz und motiviert bis in die Haarspitzen setzte er seinen Weg anschließend fort.
Mein Zen-Meister schien nichts zu wissen von all der Gefahr und all der Angst, die mittlerweile seit vielen Wochen diese Gesellschaft durchzog. Für ihn gab es nur dieses Fahrrad. In diesem einen Moment. Dem galt seine gesamte Aufmerksamkeit.
Und ich folgte meinem Zen-Meister. Wir hatten kein Ziel, das wir erreichen wollten. Es gab keine Mindeststrecke, die wir zurücklegen wollten. Ich freute mich für ihn für die vielen kleinen Fortschritte, die er machte. Und ich freute mich mit ihm. Mit jedem Schritt, den ich zurücklegte.
Irgendwann und fast schon nebenbei fiel mir auf, dass sich in die so kalte wie klare Luft des ausklingenden Winters unlängst die Milde des Frühlings gemischt hatte. Und sie verkündete etwas zutiefst Hoffnungsvolles. Es war die Botschaft von dem Leben, das erneut geboren wurde. Es war die Botschaft von dem Licht, das die Dunkelheit und die Kälte zurückdrängte. Es war die Botschaft von der Überwindung des Todes und die Botschaft von dem Neuanfang. Mit einem Mal fiel mir auf, dass die allermeisten Büsche und Bäume bereits Knospen trugen. Vereinzelt begangen diese bereits aufzugehen. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein.
Nach einer Weile kamen mein Zen-Meister und ich an einem Baum vorbei, der gerade von einem Gartenlandschaftsbauer beschnitten wurde. Ich fragte ihn, ob ich uns ein paar der abgeschnittenen Zweige mitnehmen dürfte. „Natürlich, gerne.“, entgegnete er. Also sammelte ich ein paar dieser Zweige auf. „Das war ganz schön nett von dem Mann.“, bemerkte mein Zen-Meister. „Ja, das war es.“, dachte ich, als ich die Zweige zurechtschnitt, in Vasen mit frischem Wasser drapierte und in unserem Zuhause aufstellte.