Symbolik des Todes

„Stellen Sie Ihre profanen Gespräche ein … Kleiden Sie sich maurerisch.“ Diese Aufforderung ergeht feierlich und bestimmt zugleich. Und sogleich legt sich ein Schweigen auf uns. Zylinder werden aufgesetzt, weiße Handschuhe übergestreift.

Hiernach ziehen wir in den Tempel ein. In Zweierreihen. Still. In uns gekehrt. Achtsamen Schrittes.

Der Tempel ist in die Farben der Trauer und in die Symbolik des Todes gehüllt. Trauerloge. Heute gilt es all jenen zu gedenken, die im letzten Jahr von uns gegangen sind. Noch einmal die Erinnerung zulassen. Und den Schmerz, der so untrennbar in sie eingewebt ist.

Das Ritual der Trauerloge findet jedes Jahr um Totensonntag und Volkstrauertag statt. Und jedes Jahr erinnert sie mich auf’s Neue daran, dass wir nun endgültig in der dunklen Jahreszeit angekommen sind.

Die Tag-Nacht-Gleiche des September liegt lange hinter uns. Die bunten Blätter des Oktober rotten auf dem Boden vor sich hin. Und auch die einst so prachtvoll goldene Sonne fristet ein seltsam kraftloses und fahles Dasein am Firmament. Die Nächte dafür sind tiefschwarz und ihre kalten Schatten reichen bis weit in den Tag hinein.

Dunkelheit. Das freimaurerische Ritual bewahrt mich nicht vor dieser Finsternis. Es begleitet mich hinein. In das Herz dieser Finsternis. Und damit hilft es mir, mich der Realität dieser Finsternis zu stellen. Sie nicht zu verdrängen, sondern bewusst hindurch zu gehen.

Wenn die Brüder den Tempel nach dem Ritual der Trauerloge wieder verlassen, wird noch immer ein Schweigen auf ihnen ruhen. Doch dieses Schweigen wird anders sein. Nachdenklicher. Kontemplativer.

Der Versuch eines Nachrufs

WARUM EIGENTLICH?

Am 10. November 2015 verstarb Altkanzler Helmut Schmidt im Alter von 96 Jahren. Einer der wenigen weisen Männer dieses Landes in der Gegenwart. Ein Mann, an dessen Lippen ich hing, wenn er sich zu politischen oder historischen Themen äußerte. In der folgenden Zeit waren die Medien voll mit Rückblicken auf sein Leben. Und mehrfach ertappte ich mich dabei, dass ich regelrecht Gänsehaut bekam, wenn Ausschnitte seiner Reden gesendet wurden.

Doch warum berühren mich die Worte dieses alten Mannes so sehr? Warum beeindruckt mich das, was dieser alte Mann verkörperte und noch immer verkörpert?

EIN HEILIGER?

Zum Einen war da sein umfangreiches und fundiertes Wissen über historische und politische Zusammenhänge und Hintergründe. Sowie die Fähigkeit, dieses Wissen miteinander zu verknüpfen und ins Verhältnis zu aktuellen gesellschaftlichen und weltpolitischen Entwicklungen zu setzen.

Darüber hinaus schien bei Helmut Schmidt stets durch, dass es ihm um etwas viel größeres ging: Um eine Vision von dem Ideal ethisch-moralischen Handelns. Um eine Vision von dem Ideal einer menschlicheren Gesellschaft. Um eine Vision von dem Ideal einer besseren Welt. Eine Vision, die weit größer war als seine eigenen Pfründe und sein eigenes Fortkommen und weit über seine eigene Person hinausstrahlte. Auch wenn er meinte, man solle zum Arzt gehen, wenn man Visionen habe, so war er doch ein Visionär im positivsten Sinne. Und wenn er in gewohnt treffender Weise die Krisen unserer Zeit analysierte, so verwies sein gesamtes Wesen auf die Chance darin sowie auf die Hoffnung dahinter.

Und dann war da diese Bescheidenheit und diese Beständigkeit, die Helmut Schmidt verkörperte. Ein Leben lang an der Seite derselben Ehefrau. Vor meinem inneren Auge steigen Bilder auf, die von einer vertrauten und tief verbundenen Beziehung erzählen, wenn ich die Namen „Loki Schmidt“ und „Helmut Schmidt“ höre. Und ihr gesamtes Leben sind beide in demselben, vergleichsweise prunklosen Reihenhaus in Hamburg-Langenhorn zuhause. Skandale, extravagante Ausfälle oder Allüren sucht man vergeblich.

KEIN HEILIGER?

Strahlten Helmut Schmidts helle Seiten auch noch so stark, so waren auch seine dunklen Seiten nicht zu übersehen.

Von vielen seiner politischen Weggefährten wurde er in seiner Art oftmals als verletztend, schroff und herablassend beschrieben.

Seine Standpunkte in Sachen Umweltpolitik und direkter Demokratie muss man aus heutiger Sicht wohl als rückwärtsgewandt beschreiben. Und auch seine politischen Standpunkte in Sachen Sozialstandards und Arbeitnehmerrechte verdienten oftmals den Begriff „sozialdemokratisch“ nicht.

Immer wieder für Irritationen sorgte die Frage, wie es um seine innere Einstellung und die seiner Familie zum Nationalsozialistischen Regime des 3. Reichs bestellt war. Unbestritten ist, dass er als Wehrmachtssoldat im 2. Weltkrieg diente. Daher ist es nur schwer vorstellbar, dass ausgerechnet an seinen Händen keine Schuld geklebt haben könnte.

BRÜCHE UND AUTHENTIZITÄT

Helmut Schmidt war ein gegensätzlicher Charakter und ein streitbarer Mensch. Mit so manchen Bruch in seinem Lebenslauf.

Doch schien er die seltene Gabe zu besitzen, diese Widersprüchlichkeiten und Brüche nicht kaschieren zu müssen, sondern sie aushalten zu können. Ein Leben lang schien er aufrichtig mit ihnen zu ringen … Und daran zu wachsen.

Sein verdienter Lohn war das größte Gut, das ein Politiker besitzen kann: Authentizität. Im Umgang mit all seinen dunklen und all seinen hellen Seiten wirkte er zutiefst glaubwürdig und authentisch.

Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb er zu einer moralischen Instanz in diesem Land geworden ist. Auch lange nachdem er von der politischen Bühne abgetreten war. Und vielleicht ist genau das der Grund, weshalb die Menschen ihm zuhörten.

Ganz sicher aber ist dies der Grund, weshalb ich mich vor diesem Mann und seinem Lebenswerk verneige. Er war ein Politiker, wie ihn die politische Klasse viel zu selten hervorbringt und in den letzten Jahrzehnten wohl auch nicht mehr hervorgebracht hat.

Ruhen Sie in Frieden, Helmut Schmidt!