Nebliger Dunst

Ich trat vor dieses alte Haus. Es war Teil eines kleinen Gehöftes, irgendwo auf dem einsamen Land. Seine Außenwände waren weiß verputzt. Ringsherum lagen Felder und Weiden. Der nächtliche Vollmond schenkte die spärliche Ahnung von Licht. Vereinzelt durchzogen hier und da Nebelschwaden das Bild. In dem Haus sollte ich auf die Frau treffen, die ich heimlich begehrte und auf das kleine Kind, das meiner Hilfe bedurfte.

Ich drückte die schwere, leicht angerostete Türklinke herunter und die alte, massive Holztür auf. Ich trat ein. Nach links und rechts erstreckte sich ein in kahlem Weiß gehaltener, schmaler Flur. Kein Licht war entzündet. Zusätzlich zur nächtlichen Dunkelheit hüllte ein nebeliger Dunst den Flur ein. Links und rechts vom Flur gingen hölzerne Zimmertüren ab.

Langsamen und bedächtigen Schrittes ging ich den Flur zur linken Seite herunter. Jedes Zimmer, in das ich vorsichtig eintrat, war leer. Weder wartete dort die Frau, noch das Kind. Lediglich der Vollmond ließ sein fahles Licht durch die Fenster ins Innere der Zimmer fallen.

Am Ende des Flures stand ich schließlich in der geräumigen Küche des Hauses, welche rechts vom Flur abging. Die Küche, der Ort, an dem Menschen gemeinsam Essen zubereiten, zusammen am Tisch sitzen und miteinander speisen. Der Ort, an dem Menschen Gemeinschaft haben und sich austauschen. Doch auch dieser Ort war menschenleer. Meine Sehnsucht, mein Verlangen, meine Neugier hatten mich hierhergeführt. Doch hier war nichts.

Ich schritt den Flur zurück. Vorbei an geschlossen und offenstehenden hölzernen Zimmertüren, vorbei an kahlen Wänden. Durch dunklen und nebelartigen Dunst hindurch.

Am anderen Ende das Flurs stieß ich auf eine Wendeltreppe. Geschwungen führte diese tief hinab. Ich schaute ihr nach bis kein Unterschied mehr zu erkennen war zwischen ihr und dem Dunst des Dunklen, der sie umgab. Sollte ich hinabsteigen in die Tiefe und das Dunkle? „Tu es. Du weißt, wie es geht. Und Du weißt, dass da unten nichts ist, was Dich übermannen könnte. Nichts, wovor Du Dich fürchten müsstest.“, flüsterte eine Stimme in meinem Inneren.

Vorsichtig setzte ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe. Behutsam nahm ich die Wendeltreppe. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Meine Schritte hallten von den Stufen wider. Langsam tauchte ich in das Dunkel ein, das die Treppe umso stärker umgab, je mehr ich sie hinabstieg. Irgendwann blieben nur noch ich und die jeweils nächste Treppenstufe, auf die ich meinen Fuß setzen konnte.

Als ich das Ende der Wendeltreppe erreicht hatte, war plötzlich helligter Tag. Doch die Sonne verbarg sich hinter grauen Wolken. Saftig grüne Wiesen umgaben mich. Sie erstreckten sich zu allen Seiten, so weit das Auge reichte. Weit hinten irgendwo zeichneten sich Schemen von Wäldern ab.

Im Grün der Wiesen klafften matschig braune Flecken. Krater und Furchen. Von Granaten und schwerem Gefährt gerissen. Zerstörtes Kriegsgerät, zurückgelassene Waffen, leblose Körper in Uniformen und Schwaden gezündeten Schwarzpulvers durchsetzten die Landschaft. Dazwischen immer wieder Soldaten mit Gewehren in der Hand, die vorwärts drängten.

Mit einem Mal wusste ich: Ich stand inmitten des Schlachtfeldes zwischen Russland und der Ukraine. Um mich herum tobte Krieg…

Horizont

Unsere Füße versanken in weichem Sand. Dünengräser streichelten unsere Beine. Mit jedem Schritt. Obwohl die Sonne den Sand noch vor ein paar Stunden unter unseren Füßen hatte förmlich brennen lassen, fühlte er sich jetzt unerwartet kühl an. Obwohl die Sonne noch vor ein paar Stunden jegliche Feuchtigkeit aus dem Sand förmlich herausgebrannt hatte, durchzog ihn jetzt eine zarte Nässe.

Wir ließen unsere Blicke über die Weite des Meeres schweifen. Es lag beinahe regungslos und totenstill vor uns. Seine Ruhe durchsetzte das gesamte Bild bis hin zum Horizont. Und legte auf eine ganz eigentümliche Weise die ihm innewohnende Friedfertigkeit auf das gesamte Panorama.

Nach einigen hundert Metern hatten wir unseren Platz gefunden. Wir ließen uns im Sand nieder und den Ausblick auf uns wirken. Dämmriger Schleier webte sich in die Landschaft ein. Und begann sanft, die verbliebenen Reste des Tages aus dem, was sich uns darbot, herauszusaugen.

Von weit hinten aus, von dort aus, wo Himmel und Meer aufeinandertrafen, breitete sich seltsames Lila aus. Erst erklomm es den Horizont. Dann färbte es das Meer ein. Es schlich uns entgegen. Und schließlich umhüllte es uns von allen Seiten.

Die Natur erstrahlte in einer Weise, die wir vielleicht zum allerersten Mal in unserem Leben wahrnahmen. Wir verloren uns in diesem Anblick. Unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Welch ein Privileg, zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort verweilen zu dürfen.

Als das Dunkle die Oberhand gewann, erstand am Horizont ein feuriger Pilz. Es sah aus, als stiege er irgendwo weit hinter dem Meer auf. Erst noch ganz klein. Doch langsam wurde er größer und breitete sich aus.

Böse Vorahnungen stiegen in uns auf. Wenige tausend Kilometer in die Richtung, aus der dieser feurige Pilz aufstieg, sprachen in diesem Moment die Waffen. Brudervolk gegen Brudervolk hatte sich erhoben. Ein hoher Blutzoll wurde gezahlt. Und schleifte die gesamte Menschheitsfamilie ins Ungewisse. Drohungen einer nuklearen Eskalation hingen wie ein Damoklesschwert über dem Kriegsgebiet. Sollte dort das eingetreten sein, wovor wir uns alle so sehr gefürchtet hatten? Sollten dort gerade durch das nukleare Schwert ganze Landstriche, Städte und unzählige Menschen ausgerottet werden? Sollte das Unvorstellbare tatsächlich eingetreten sein?

Je höher dieser feurige Pilz aufstieg, desto mehr enzwickelte er sich zu einem roten Ball. Von dort ganz hinten aus, wo Himmel und Erde aufeinandertrafen, begann er die gesamte Szenerie zu überstrahlen. Kein Atompilz, sondern der Mond. Blutroter Vollmond. Je mehr die Nacht alles zudeckte, desto mehr erleuchtete er sie. Das Dunkel der Nacht konnte ihn nicht überwältigen. Und so würde es bleiben bis zum Morgengrauen.

Gen Süden

Ihr Ruf traf mich. Mein Blick folgte diesem Ruf. Weit oben, in großer Entfernung entdeckte ich sie. Riesige Schwärme. Angeordnet in Keil-Formationen glitten sie durch die Lüfte. In Richtung Süden. Ihre Rufe hallten über das Firmament hinweg. Ich blickte ihnen nach. Meine Gedanken verloren sich. In ihrem Ruf lag so etwas wie Vorfreude. So etwas wie Hoffnung. Vorfreude und Hoffnung auf den Ort, der da vor ihnen liegen mochte.

Langsam wurden sie kleiner und kleiner. Ihre Rufe leiser und leiser. Ich blieb zurück. Ja, fliegt dorthin, wo es Licht ist. Dorthin, wo es warm und einladend ist. Dorthin, wo das Leben ist. Ihr macht es genau richtig. Wie gerne hätte ich meine Flügel ausgebreitet, wäre abgehoben und ihnen gefolgt. Mein Herz rief: „Wartet auf mich!“ Doch mein Ruf verendete, noch bevor er mir über die Lippen gehen konnte. Er blieb mir in der Kehle stecken. Meine Füße waren durch schwere Eisen am Boden festgekettet. Keine Leichtigkeit, kein Ausbrechen.

Der Ort, an dem ich mich befand, versank langsam im Winter. Der Schatten des Krieges breitete sich aus. Dunkle Zeiten erhoben sich vor uns. Kälte zog ein. Das, was vor uns lag, war noch nie so ungewiss gewesen. Es war von Sorge, Angst und Verzweiflung durchsetzt.

Wenn die Zeit der Dunkelheit und der Kälte in einigen Monaten im Schwinden begriffen sein wird, werden die Zugvögel wieder zurückkehren. Zurückkehren von dem Ort, wo es die gesamte Zeit über so hell und so warm gewesen ist. Doch was werden sie hier vorfinden? Wie werden der Krieg und seine Auswirkungen diesen Ort hier verändert haben? Und wie werde ich selbst mich verändert haben? Bangen Auges blickte ich auf diesen Moment. Und doch schwang noch etwas ganz anderes mit, als ich an die Scharen der Zugvögel dachte, die am Firmament auftauchen, um die Natur um uns herum wieder zu bevölkern: Hoffnung.

#Gedanke: Mondnacht

„Es war, als hätt‘ der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.“

(Joseph von Eichendorff,
aus: „Mondnacht“)

#Gedanke: Sterben und Wiedererwachen

„Sterben und Wiedererwachen beherrschen die ganze Natur.

Das müde Jahr legt sich im Herbst zum Todesschlaf nieder, die müde Sonne versinkt am Abend im westlichen Meer, das Reich der Winterdämonen oder der unterirdischen Gottheiten breitet sich dann aus über alles, was lebt.

Es ist die Wanderung des Novizen durch Dunkel und Schrecken, seine Wanderung zu den Todesgottheiten über Totengebeine hinweg, bedrängt von Kälte, Müdigkeit und Verlassenheit, bis hin zum Licht.

Im Frühling kommt der verjüngte Vegitationsgott mit Jauchzen wieder hereingezogen, die sieghafte Sonne erhebt sich im Osten, die finsteren Gewalten entfliehen, eine neue Welt beginnt, und das Reich der Lichtgottheiten bricht an.“

(August Horneffer)

Spirituelle Heldenreise

DER GARTEN EDEN

Ziemlich zu Beginn der Bibel kann man eine interessante Geschichte lesen: Die ersten beiden Menschen, Adam und Eva, leben, nachdem sie von Gott geschaffen worden waren, in einem paradiesischen Garten. Dem Garten Eden. Ein Garten, in dem Gott ein- und ausgeht.

Ich habe keine Ahnung, ob diese Geschichte ein historischer Tatsachenbericht ist, ein Märchen oder irgendwas dazwischen. Was ich an ihr aber ansprechend finde, ist das Bild, das sie malt. Das Bild von einer unschuldigen Ursprünglichkeit, einer Harmonie mit allem Geschaffenen und eines Eins-Sein mit dem Göttlichen, in das die ersten Menschen eingewoben sind.

Doch die Geschichte geht weiter: Der Mensch verliert diesen harmonischen Urzustand und wird aus diesem paradiesischen Garten vertrieben. Danach findet er sich in der Welt wieder, die uns Tag für Tag umgibt und deren Gesetzmäßigkeiten wir unerbittlich unterworfen sind. Eine Welt, in der ein Großteil der Menschen wie gefangen in einem Kokon vor sich hin existiert und sich des eigenen Ursprungs überhaupt nicht mehr bewusst ist.

DAS WESEN DER HELDENREISE

Auf gewisse Weise stellt der Verlust des Gartens Eden den Startpunkt eines jeden menschlichen Lebens dar. Und gleichzeitig auch den Startpunkt eines jeden spirituellen Weges.

Der Mensch trägt dieses Erbe der Ursprünglichkeit, der Harmonie mit allem Geschaffenen und des Eins-Sein mit dem Göttlichen nach wie vor in sich. Dieses Erbe ist gleichzeitig seine Bestimmung. Doch der Kokon, in dem der Mensch eingeschlossen ist und in dem er sich allzu wohlig eingerichtet hat, sorgt dafür, dass er sich dessen nicht mehr bewusst ist.

Allerdings führt das Leben den Menschen immer wieder in Situationen der Krise, die ihn heraus aus seiner Komfortzone und an seine Grenzen führen. Situationen, in denen der Mensch nicht länger stark ist oder die Kontrolle hat. Diese Situationen – oder besser: diese Orte – nannten die alten Initiationsriten Schwellenräume. Diese Schwellenräume stellen den Menschen immer wieder aufs Neue vor die Entscheidung, ob er aufwachen und seiner Bestimmung folgen will. Oder ob er sich noch tiefer in seinen Kokon zurückziehen will. Der Schwellenraum ist ein schmerzhafter und beängstigender Ort. Doch dieser Ort birgt das Potenzial in sich, ein Heiliger Ort zu werden.

Die Überlieferungen der Menschheit erzählen uns davon, dass es in allen Kulturen und zu allen Zeiten einzelne Menschen gab, die aufwachten, nachdem das Leben sie in solche Schwellenräumen geführt hatte. Sie ließen zu, dass etwas ihren Kokon durchbrach, ihnen den Schleier vor ihren Augen hinweg nahm, sie aus ihrem Tiefschlaf riss.

Mit einem Mal, inmitten all ihrer Kontrolllosigkeit und Schwachheit, wurden sie sich eines leisen Wisperns bewusst, das die gesamte Schöpfung durchzieht. Und dieses Wispern erzählte ihnen von dieser tiefen Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, nach der Harmonie mit allem Geschaffenen, nach dem Eins-Sein mit dem Göttlichen. Dieses Wispern war schon immer da gewesen. Doch erst jetzt nahmen sie es wahr. Und mehr noch: Sie spürten, dass dieses Wispern auf eine tiefe und unaussprechliche Weise Resonanz in ihnen erzeugte. Es war nicht nur das Wispern der Schöpfung um sie herum, nein, es war gleichzeitig auch das Wispern ihres eigenen tiefsten Seelengrundes.

Also brachen diese Menschen auf. Und folgten diesem Wispern, dieser Sehnsucht und damit ihrer eigenen Bestimmung. Sie begaben sich auf ihre ganz persönliche Heldenreise. Und diese sollte sie tief hinein ins Fremde, in die entlegensten Landstriche führen. Auf dieser Reise hatten sie mit Monstern, Riesen und wilden Tieren zu kämpfen und mit Geistern und Schatten zu ringen. Sie mussten manche Prüfung bestehen. Sie mussten hinabzusteigen in die Dunkelheit und hinauf auf den Gipfel des höchsten Berges. Und auf dieser Reise schlussendlich wurden sie tödlich verletzt und starben schließlich.

Denn nur wenn diese Menschen ihrem eigenen Tod gegenübertraten und durch ihn hindurchschritten, wenn sie das Mysterium von Tod und Auferstehung durchlitten, nur dann brachen sie durch zu ihrer eigenen Ursprünglichkeit, zu der Harmonie mit allem Geschaffenen und zum Eins-Sein mit dem Göttlichen. Dies war seit jeher ihre eigentliche Bestimmung gewesen und ihre wahre Identität; ihr Wahres Selbst.

Doch erst nach Vollendung der Heldenreise begriff der zum Helden gewordene Mensch, dass diese Sehnsucht, dieses Wispern, das ihn auf die Reise geführt hatte, aus den Tiefen seines eigenen Urgrundes aufgestiegen war. Folglich war das Ziel dieser Reise von Anfang an die Vereinigung mit seinem eigenen Ursprung gewesen. Doch es gab keinen anderen Weg dorthin zurück als den eigenen Tod. Dies konnte der Held aber erst im Rückblick verstehen.

BEDEUTUNG VON SPIRITUALITÄT

Diese Heldenreisen sind, meiner Meinung nach, von ihrem Wesen her immer zutiefst spirituell. Nun ist das Wort „Spiritualität“ eines, das ich zwar oft und gerne benutze, aber eben auch eines, das erstmal sehr unbestimmt und somit offen für alle möglichen Deutungen ist. Daher will ich mal versuchen, mich dem anzunähern, was ich unter Spiritualität verstehe und dies ins Verhältnis zum Wesen der Heldenreise setzen.

Über den von mir sehr geschätzten Freimaurer Jens Rusch bin ich über folgende Definition von Spiritualität gestolpert, deren Urheber ich allerdings nicht eindeutig verifizieren konnte: „Spiritualität ist der Ruf des Menschen nach sich selbst in einem geistigen Raum, der ihn übersteigt.“

Diese Definition von Spiritualität wirkt wie eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich zur Heldenreise geschrieben habe. Der „Ruf des Menschen“ ist das, was ich mit „Wispern“ oder „Sehnsucht“ umschrieben habe, was der Mensch zunächst als von außen kommend wahrnimmt und erst später realisiert, dass dieser Ruf seinem eigenen Inneren entspringt. Der „geistige Raum, der ihn übersteigt“, ist der Zustand, den ich als „eigene Ursprünglichkeit, Harmonie mit allem Geschaffenen und Eins-Sein mit dem Göttlichen“ umschrieb.

Schaut man bei Wikipedia nach, so wird „Spiritualität“ dort unter anderem wie folgt beschrieben: „…eine Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt. Spirituelle Einsichten können mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, mit der Erfahrung der Ganzheit der Welt in ihrer Verbundenheit mit der eigenen Existenz, mit der letzten Wahrheit und absoluter, höchster Wirklichkeit sowie mit der Integration des Heiligen, Unerklärlichen oder ethisch Wertvollen ins eigene Leben verbunden sein. Es geht dabei nicht um gedankliche Einsichten, Logik oder die Kommunikation darüber, sondern es handelt sich in jedem Fall um intensive psychische, höchstpersönliche Zustände und Erfahrungen, die direkte Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen der Person haben. Voraussetzung ist eine religiöse Überzeugung, die jedoch nicht mit einer bestimmten Religion verbunden sein muss.“

Diese Definition weist ebenfalls viele Aspekte auf, die sich auch in meiner Darstellung der Heldenreise wiederfinden lassen. So ist auch die Heldenreise ein „Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt“, die schließlich in „der Erfahrung der Ganzheit der Welt in ihrer Verbundenheit mit der eigenen Existenz“ mündet. Interessant hierbei ist, dass es sich „bei dieser Erfahrung nicht um gedankliche Einsichten, Logik oder die Kommunikation darüber“, sondern „um intensive psychische, höchstpersönliche Zustände und Erfahrungen, die direkte Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen der Person haben“ und deren Voraussetzung „eine religiöse Überzeugung, die jedoch nicht mit einer bestimmten Religion verbunden sein muss“, handelt.

Die beiden von mir angeführten Definitionen von Spiritualität lesen sich beinahe wie Blaupausen für die Idee und das Wesen der Heldenreise.

INITIATION UND HELDENREISE

Von dieser Feststellung ausgehend – nämlich, dass die Heldenreise an sich zutiefst spirituell ist – ist es interessant, einen weiteren Bogen zu schlagen: Den zu den archaischen Initiationsriten.

Wiederholt habe ich auf meinem Blog von meinem spirituellen Vater geschrieben: Dem Franziskaner-Pater Richard Rohr. Mehrfach nahm ich hierbei Bezug auf dessen Erforschungen der alten, archaischen Männerinitiationen (hierbei möchte ich insbesondere auf meine Artikel „Adams Wiederkehr“ sowie „Die Sehnsucht der männlichen Seele“ verweisen).

Vergleicht man nun das, was Richard Rohr über Wesen und Inhalt der archaischen Initiationsriten herausgefunden hat, mit dem, was ich hier über die Idee der Heldenreise herausgearbeitet habe, so fällt auf, dass diese Riten ihre Initianten Rituale durchlaufen ließen, die markante Überschneidungen zur Heldenreise aufweisen.

So begannen auch die archaischen Initiationsriten immer mit dem Schwellenraum. Der Initiant, der in der Regel zum Zeitpunkt des Rituals auch an der Schwelle zum Mann-Werden stand, wurde einem Ort, einem Zustand der Kontrolllosigkeit ausgeliefert. Hier hatte er keine Macht mehr. Hier war er abgeschnitten von dem, was ihn bestätigte und stark machte. Hier war dieser junge und sonst vor Kraft und Energie nur so strotzende Mann plötzlich schwach, armselig, irrelevant, nackt, verletzlich. Er war aus seiner Rolle gefallen. Und er hatte keine Gewissheit, ob er von diesem Ort jemals wieder würde zurückkehren können.

Doch dieser Schwellenraum führte ihn weiter hinab in die Tiefe. Der Initiant hatte seinem eigenen Schatten gegenüberzutreten. Er musste sich dem stellen, was schon immer in ihm schlummerte, was er aber beharrlich verdrängt und unterdrückt hatte. All das Böse, all die Angst, all der Schmerz, all die Zwänge. Er musste mit der Bestie in sich ringen. Es ging darum, den Initianten auf sich selbst zurückzuwerfen, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen und ihm keine Möglichkeit zu lassen, aus dieser Situation oder vor sich selbst zu fliehen. Auf diese Weise sollte sein Ego-Selbst – oder auch: das Falsche Selbst – erschüttert und demontiert werden. Nur an diesem Ort, den kein Mann freiwillig und von sich aus je betreten würde, kann tiefgreifende Veränderung, wahre Transformation geschehen.

Schließlich wurde der Initiant schwer verwundet und in sein eigenes Grab geworfen. Er starb. Und das auf sehr dramatische sowie grausame Art und Weise. Doch dieser Tod war unausweichlich. Das alte, das egodominierte Falsche Selbst des Initianten musste sterben, wenn tiefgreifende Transformation geschehen sollte. Umgeben von der Finsternis und der Stille des Todes hatte er auszuharren.

Auf den Tod des jungen Mannes erfolgte die machtvolle Auferstehung des gereiften Mannes. Im Idealfall war dieser nicht nur ins Mann-Sein und damit einhergehend in die Gemeinschaft der Männer eingeweiht worden, sondern er war auch rückverbunden worden in das Mysterium des Lebens; in diese unschuldige Ursprünglichkeit, in diese Harmonie mit allem Geschaffenen und in dieses Eins-Sein mit dem Göttlichen, von dem ich eingangs sprach. Im Idealfall war das egodominierte Falsche Selbst des jungen Mannes gestorben und das Wahre Selbst, das seit jeher im Einklang mit den spirituellen Kreisläufen und Gesetzmäßigkeiten allen Seins existiert, auferstanden. Der Initiationsritus hatte somit zweierlei erfüllt: Er hatte einen „guten Anfang“ für den Weg des Initiierten gelegt und gleichzeitig hatte er den Initiierten in die Vereinigung mit seinem Ursprung geführt.

In nicht wenigen Kulturen kehrte der initiierte, gereifte Mann aus diesem Ritual mit einem neuen Namen – seinem ureigensten Seelennamen – zurück. Nahezu immer aber, behielt der initiierte Mann Wunden von seiner Initiation zurück. Seine heiligen Wunden. Die daraus resultierenden Narben sollten ihn sein Leben lang an diese Erfahrung erinnern.

DER BEZUG ZUM FREIMAURERTUM

Ich hatte es in verschiedenen meiner Blogartikel angeführt: Steigt man tiefer ins freimaurerische Ritual und dessen Symbolik ein, realisiert man, dass es sich hierbei um einen althergebrachten Initiationsritus handelt. Und dieser Initiationsritus weist markante Parallelen zu den alten, archaischen Männerinitiationsriten auf. Für meine Großloge, den christlichen Freimaurerorden, kann ich dies ohne Abstriche feststellen. Spätestens ab dem dritten Grad, dem des Johannismeisters, ist dieses Erbe nicht mehr zu übersehen. In den Ritualen der anderen freimaurerischen Richtungen stecke ich in der Tiefe nicht drin. Doch bei dem, was ich von außen betrachtet sehe, scheint dies in allen freimaurerischen Ausprägungen der Fall zu sein. Im Laufe der Zeit jedoch geriet dieses Wissen zunehmend in den Hintergrund und verblasste von Ritualreform zu Ritualreform mehr und mehr.

Folglich lebt in dem Initiationsritual des Freimaurertums auch das Wesen der Heldenreise weiter. Ich würde sogar noch weiter gehen: Das freimaurerische Initiationsritual ist dem Wesen der Heldenreise nachempfunden.

Nun habe ich in diesem Artikel verschiedene Thesen aufgestellt, die alle aufeinander aufbauen, nämlich:
– Die Idee der Heldenreise ist von ihrem gesamten Wesen her zutiefst spirituell.
– Die archaischen Initiationsriten bergen das Prinzip der Heldenreise in sich.
– Das freimaurerische Initiationsritual birgt die Grundzüge der alten, archaischen Männerinitiationsriten in sich.
Als letzte Konsequenz bedeutet dies, dass das Freimaurertum an sich zutiefst spirituell ist.

Ich hatte es in meinem Artikel „Freimaurertum benötigt Spiritualität und Gottesbezug“ bereits geschrieben: Das spirituelle Wesen des Freimaurertums ging in jener Zeit, als das Freimaurertum sich nach und nach in institutionalisierte Formen goss, eine Vereinigung mit den Ideen der Aufklärung und des Humanismus ein. Das, was das Freimaurertum seither ausmacht, ist das Zusammenbringen und Aushalten genau dieser zwei gegensätzlichen Pole: Aufklärung und Humanismus auf der einen sowie Esoterik und Spiritualität auf der anderen Seite. Negiert man eine dieser beiden Seiten zu Gunsten der anderen, kommt eine Unwucht in den eigenen freimaurerischen Weg. Die freimaurerische Tugend der Mäßigkeit, die unter anderem ausdrückt, dass es darum geht, das rechte Maß zwischen den Extrempolen zu finden und diese in Einklang miteinander zu bringen, erinnert mich an genau diese Herausforderung.

Daher ist dieser Artikel ein Plädoyer dafür, im Freimaurertum nicht nur ein Instrumentarium für einen ethisch-moralischen Lebenswandel zu sehen. Nein, es gilt im Freimaurertum auch die Dimensionen der eigenen Heldenreise (wieder-) zu entdecken. Und dies ist der ganz persönliche Weg zurück zur unschuldigen Ursprünglichkeit, zur Harmonie mit allem Geschaffenen und zum Eins-Sein mit dem Göttlichen. Sprich: Der Weg zurück zur Vereinigung mit dem eigenen Ursprung. Und diese Heldenreise ist immer zutiefst spirituell…