„Wenn ich
Silvester-Feuerwerk kaufen würde,
würde ich nur solches nehmen,
das hochfliegt
und oben am Himmel explodiert…
…damit auch die,
die kein Geld für Feuerwerk haben,
das sehen können
und sich daran erfreuen.“
(Mein ZEN-Meister)
„Wenn ich
Silvester-Feuerwerk kaufen würde,
würde ich nur solches nehmen,
das hochfliegt
und oben am Himmel explodiert…
…damit auch die,
die kein Geld für Feuerwerk haben,
das sehen können
und sich daran erfreuen.“
(Mein ZEN-Meister)
„Der Herbst
hat viele Geschenke für uns.
Ich mag den Herbst.“
(Mein ZEN-Meister)
„Wieso schippen die Leute den Schnee weg,
wenn da doch Kinder sind,
die noch Schlitten fahren wollen?“
(Mein ZEN-Meister)
Es war, als der Frühling langsam zum Leben erwachte. Die Strahlen der Sonne fanden zu neuer Kraft und der Gesang der Vögel hielt Einzug.
Es war eine dieser Nächte, die ich auf der Matratze auf dem Fußboden vor dem Bett meines Zen-Meisters zugebracht hatte. Wir hatten sein Zimmerfenster über Nacht offen gelassen.
Am nächsten Morgen erwachte ich, als die Vögel vor dem Fenster ihre Lieder sangen und die ersten Sonnenstrahlen an den Rollos und Vorhängen vorbei ins Zimmer schlichen. Mein Zen-Meister war bereits wach. Eingekuschelt in seine Bettdecke saß er auf dem Bett. Es war recht kühl im Zimmer.
Ich stand auf, um das Fenster zu schließen. „Nicht zu machen!“, sagte mein Zen-Meister, „Die Vögel singen gerade so schön!“ Kurz hielt ich inne. Das Lied der Vögel klang nicht anders als sonst auch.
Ich machte kehrt, krabbelte zu meinem Zen-Meister ins Bett und kuschelte mich zu ihm unter die Bettdecke. Und dort saßen wir dann. Und lauschten dem Lied der Vögel. Eine ganze Weile. Und mir wurde bewusst, dass die Vögel noch nie so schön gesungen hatten wie an diesem Morgen.
IM GRIFF DER SEUCHE
Es war in der Zeit, als die Seuche über uns hereinbrach. Nahezu unbemerkt hatte sie sich in unseren Alltag geschlichen. Es waren zunächst nur einzelne und nur wenige Krankheitsfälle aufgetreten. Doch dann griff das Virus um sich. In immer kürzeren Zeitabständen infizierten sich immer mehr Menschen. Und auch schwerste Krankheitsverläufe häuften sich.
Die Regale in den Supermärkten und Apotheken wurden leergekauft. Boutiquen und Geschäfte mussten schließen. Firmen stellen ihre Arbeit ein, Fabriken ihre Produktion. Ausgangssperren wurden verhängt. Bilder von den überfüllten Intensivstationen der Krankenhäuser und Patienten unter Beatmungsgeräten flimmerten über die Bildschirme. Fahrzeuge und Uniformen von Polizei und Militär auf den Straßen. Und täglich präsentierte man die steigende Zahl derer, die dieses Virus mit dem Leben bezahlt hatten. Das Wort Pandemie hing schwer wie Blei über diesem Land, über diesem Kontinent, über diesem Planeten.
Der stille Begleiter dieser Seuche war die Angst. Unmerklich krabbelte sie bis in den letzten Winkel der Gesellschaft. Und setzte sich in den Köpfen der Menschen fest. Sie begann jede noch so kleine menschliche Regung, jede noch belanglose Handlung des Alltags zu durchdringen. Und auf diese Weise beherrschte sie das Leben ganzer Länder und Kulturen. Denn dieses Virus war unsichtbar. Es konnte überall sein. Jeder konnte sein Träger sein. Es konnte zu jeder Zeit und an jedem Ort zuschlagen. Und das ganz plötzlich. Niemand konnte absehen, wie lange es noch wüten würde. Und wieviele ihm noch zum Opfer fallen würden.
FAHRRADFAHREN LERNENDER ZENMEISTER
In diese Zeit fiel es, dass mein Zen-Meister gerade das Fahrradfahren erlernt hatte. Und so fuhr er mit seinem Fahrrad vor mir her. Noch ganz unsicher und wackelig. Seine gesamte Konzentration war darauf ausgerichtet, die notwendigen Bewegungen und Abläufe richtig zu koordinieren, um mit dem Fahrrad voranzukommen. Ich spazierte hinter ihm her. Immer, wenn er ein paar Meter vorausgefahren war, hielt er an, drehte sich zu mir um und wartete auf mich. Freudestrahlend. Und wenn ich dann bei ihm angelangt war, lobte ich ihn für das, was er da vollbracht hatte. Voll von unbändigem Stolz und motiviert bis in die Haarspitzen setzte er seinen Weg anschließend fort.
Mein Zen-Meister schien nichts zu wissen von all der Gefahr und all der Angst, die mittlerweile seit vielen Wochen diese Gesellschaft durchzog. Für ihn gab es nur dieses Fahrrad. In diesem einen Moment. Dem galt seine gesamte Aufmerksamkeit.
Und ich folgte meinem Zen-Meister. Wir hatten kein Ziel, das wir erreichen wollten. Es gab keine Mindeststrecke, die wir zurücklegen wollten. Ich freute mich für ihn für die vielen kleinen Fortschritte, die er machte. Und ich freute mich mit ihm. Mit jedem Schritt, den ich zurücklegte.
Irgendwann und fast schon nebenbei fiel mir auf, dass sich in die so kalte wie klare Luft des ausklingenden Winters unlängst die Milde des Frühlings gemischt hatte. Und sie verkündete etwas zutiefst Hoffnungsvolles. Es war die Botschaft von dem Leben, das erneut geboren wurde. Es war die Botschaft von dem Licht, das die Dunkelheit und die Kälte zurückdrängte. Es war die Botschaft von der Überwindung des Todes und die Botschaft von dem Neuanfang. Mit einem Mal fiel mir auf, dass die allermeisten Büsche und Bäume bereits Knospen trugen. Vereinzelt begangen diese bereits aufzugehen. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein.
Nach einer Weile kamen mein Zen-Meister und ich an einem Baum vorbei, der gerade von einem Gartenlandschaftsbauer beschnitten wurde. Ich fragte ihn, ob ich uns ein paar der abgeschnittenen Zweige mitnehmen dürfte. „Natürlich, gerne.“, entgegnete er. Also sammelte ich ein paar dieser Zweige auf. „Das war ganz schön nett von dem Mann.“, bemerkte mein Zen-Meister. „Ja, das war es.“, dachte ich, als ich die Zweige zurechtschnitt, in Vasen mit frischem Wasser drapierte und in unserem Zuhause aufstellte.
WUNDERVOLLE KLEINE MOMENTE
Unbeholfen rückte sie ihren kleinen Kinderstuhl durch das Wohnzimmer. Bis er schließlich direkt vor dem Weihnachtsbaum stehen blieb. Und dann setzte sie sich auf den Stuhl und blickte ihn überwältigt an. Diesen Baum, der so prachtvoll geschmückt war. In dem so viele Lichter funkelten. Ehrfurchtsvoll berührte sie einzelne seiner Zweige. Ganz vorsichtig und ganz verstohlen. Auf ihrem Gesicht hatte sich ein Strahlen ausgebreitet, wie ich es bei ihr noch nie zuvor gesehen hatte. Der ganzen Situation wohnte eine tiefe Ruhe und Ergriffenheit inne.
Zwischen den Tagen besuchten wir Freunde. Natürlich stand auch bei denen ein Weihnachtsbaum im Wohnzimmer. Irgendwann bemerkten wir, dass unsere Tochter sich auf ein Kissen vor den Weihnachtsbaum gesetzt hatte. Wieder blickte sie ihn überwältigt an. Wieder dieses Strahlen in ihrem Gesicht. Als sie merkte, dass wir sie beobachten, guckte sie uns an, zeigte auf den Baum und rief freudestrahlend: „Weiha, Weiha!“ Ihr Wort für „Weihnachtsbaum“.
In beiden Situationen war er plötzlich wieder da: Dieser Kloß in meinem Hals. Für einen kurzen Moment traten mir die Tränen in die Augen. Es waren wieder welche von diesen unzähligen, kleinen, wundervollen Momenten, wie ich sie so oft erlebe, seitdem unsere Tochter auf der Welt ist.
Diese Weihnachtszeit war die erste Weihnachtszeit, die unsere Tochter bewusst erlebt hat. Und sie war es, die ein wenig des Weihnachtszaubers zurückholte, den ich seit meiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte. Auch wenn mir bewusst ist, dass sie das alles in ein paar Wochen oder Monaten wieder vergessen haben wird. Es wird eine dieser Erinnerungen sein, die ich für sie bewahren werde. Und wenn sie möchte, werde ich diese Erinnerung einmal mit ihr teilen.
ARCHETYPISCHE BILDER UND SYMBOLE
Die beschriebenen Situationen warfen in mir die Frage auf, warum Weihnachtsbäume solch eine Faszination auf unsere kleine Tochter ausüben. Und das, obwohl sie noch gar nicht in der Lage ist, vom Verstand her zu begreifen, was es mit diesen Bäumen auf sich hat. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr reifte der Verdacht, dass es sich bei dem Weihnachtsbaum um ein archetypisches Symbol handeln könnte.
Archetypen sind Urbilder menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Diese haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte tief im kollektiven Unterbewusstsein der Menschheit verwurzelt. Sie manifestieren sich in kraftvollen Bildern und Symbolen. Jeder Mensch verfügt über einen intuitiven Zugang zu diesen Bildern und Symbolen. Archetypen können im Inneren eines Menschen Resonanzen auslösen und Prozesse anstoßen, noch bevor der Verstand sie überhaupt begreift.
Das wohl ultimative archetypische Bild ist das vom Kreislauf des „Werden und Vergehen allen Lebens“. Leben wird einmal geboren; Leben stirbt irgendwann; und aus dem Tod heraus entsteht neues Leben. Ich kenne keinen archaischen Initiationsritus, keinen Mysterienbund, der dieses Bild nicht rituell oder in Symbole gekleidet aufnimmt und ausdrückt.
DUNKELHEIT UND TOD
Irgendwann gelangt dieser Kreislauf des Werdens und Vergehens allen Lebens im Reich des Todes und der Dunkelheit an. Die Zeit, in der die Nächte tief und lang sind. Die Zeit, in der der Winter das ganze Land in seinen frostigen Klauen gefangen hält. Die Zeit, in der die einstige Kraft der Sonne verblasst ist.
Und genau in dieser Zeit stellen wir den Weihnachtsbaum auf. Einen Nadelbaum, der sowohl im Sommer, als auch im Winter sein grünes Kleid trägt. Ein Symbol für das Leben inmitten des Todes. Und diesen Nadelbaum schmücken wir mit Lichtern, die wir entzünden. Ein Symbol für die Hoffnung auf die Wiedergeburt des Lichtes inmitten der tiefsten Dunkelheit. Lässt man diese Bilder in sich nachhallen, merkt man, was für machtvolle Dimensionen ihnen innewohnen.
Während ich diesen Artikel schrieb, wurde mir bewusst, dass das Symbol des Weihnachtsbaums und die freimaurerische Andreasloge ganz ähnliche Resonanzen in mir erzeugen. Die Andreasloge umfasst die Grade vier bis sechs innerhalb des Lehrgebäudes des christlichen Freimaurerordens bzw. des sogenannten „Schwedischen Systems“. Ich selbst habe aktuell den fünften Grad inne. Die dominierenden Themen der Andreasloge sind (die eigene) Dunkelheit und (der eigene) Tod. Und trotzdem sind auch die Hoffnung auf Aufrichtung und Licht in diesem Herrschaftsbereich der Dunkelheit und des Todes präsent. Entsprechend sind das Ritual sowie die Einrichtung des Tempels der Andreasloge gehalten.
EPILOG
Anfang Januar schmückten wir unseren Weihnachtsbaum wieder ab und stellten ihn zur Abholung an die Straße. Als ich mit meiner Tochter das erste Mal an ihm vorbeiging, weinte sie, als sie ihn sah und rannte zu ihm hin. Dann schien es, als versuchte sie ihn zu umarmen oder aber an möglichst vielen Stellen zu berühren. Schließlich wollte sie ihn an der Spitze wieder zurück nach Hause zu schleifen. Als das nicht gelang, wimmerte sie: „Weiha, Weiha?“ Sie trauerte um ihren geliebten Weihnachtsbaum. Doch dessen Zeit war vergangen…
„13 Und sie brachten Kinder zu ihm (Jesus Christus), damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an.
14 Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.
15 Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
16 Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.“
(Die Bibel, Markus 10, 13-16)
MAROTTE SPIRITUELLER LEHRER
„Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Was für klare Worte, die Jesus Christus da wählt.
Auf der Idee, die in diesen Worten mitschwingt, kaue ich mittlerweile seit vielen Jahren herum. Denn so klar wie sich diese Worte auf den ersten Blick auch anhören, so unkonkret und beliebig sind sie auf den zweiten Blick. Denn Jesus hat bei dieser Aussage zwei „Fehler“ gemacht: Weder hat er konkretisiert, wie alt die Kinder sind, auf die er sich bezieht. Noch hat er definiert, welche kindlichen Eigenschaften er denn meint.
Es scheint so eine Marotte von spirituellen Lehrern zu sein, ihren Zuhörern nicht einfach nur „fertige Antworten“ zu servieren, sondern bei ihnen innere Prozesse anstoßen zu wollen. Und wahrscheinlich – so zunehmend mein Eindruck – wird auch am Ende dieser Prozesse keine „fertige Antwort“ stehen.
So ist es unsere mittlerweile gut ein Jahr alte Tochter, die mich auf die Fährte gesetzt hat, welche Intention Jesus mit dieser Aussage gehabt haben könnte. Drei Eigenschaften sind mir an ihr aufgefallen, die Jesus gemeint haben könnte.
DREI KINDLICHE EIGENSCHAFTEN
1) Urvertrauen
Beinahe jeden Morgen, wenn unsere kleine Tochter erwacht, lachen uns zwei große, strahlende Augen an. Lauthals ruft sie uns entgegen, wie sehr sie sich freut, Mama und Papa wiederzusehen. Und wie sehr sie sich auf den Tag freut, der vor ihr liegt. Sie kann es oft kaum erwarten, aus dem Bett zu kommen und dem neuen Tag, und was auch immer dieser für sie bereithalten mag, entgegenzueilen.
Und selbst, wenn sie auf Herausforderungen trifft, die ihre Fähigkeiten übersteigen, hat sie das Vertrauen, dass Mama und Papa größer sind als jede Herausforderung. Es sind dieselben Mama und Papa, in deren Arme sie sich flüchtet, wenn sie sich mal wieder wehgetan hat. Denn Mama und Papa sind auch größer als jeder Schmerz. Und egal, um welches Bedürfnis es auch geht, bei Mama und Papa wird es gestillt.
Mit jeder Pore ihres Seins strahlt unsere Tochter dieses unbedingte Urvertrauen aus. Urvertrauen, dass das Leben gut zu ihr ist. Urvertrauen, dass da jemand ist, der immer für sie da ist. Jemand, der ihr immer helfen kann.
2) Gegenwärtig sein
Die wundervollsten Momente sind für mich, wenn ich das Zimmer unserer Tochter betrete und sie mich gar nicht bemerkt, weil sie zu sehr in etwas vertieft ist. Ich liebe es, dann im Türrahmen stehen zu bleiben und ihr einfach nur zuzusehen. In diesen Momenten steht die Zeit für mich still. Und ich kann mein Glück über dieses kleine Wesen kaum fassen.
Es ist eine Gabe unserer Tochter, ganz und gar gegenwärtig sein zu können. Sie kann auf etwas so fokussiert sein, dass sie alles um sich herum vergisst. Ihre Aufmerksamkeit ist dann ungeteilt. Ganz bei ihr. Ganz in der Situation. Weder schweift sie umher, ob es noch irgendetwas anderes geben könnte, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten könnte. Noch grübelt sie über Vergangenes oder Zukünftiges nach.
Seit meine Tochter auf dieser Welt ist, schenkt sie mir diese Momente des Seins. Der erste dieser Momente hat sich tief in mir eingegraben. Es war ein oder zwei Tage nach ihrer Geburt. Ich saß an dem kleinen Tisch in unserem Krankenhauszimmer. Direkt am Fenster. Sie schlief in meinem Arm. Im Hintergrund lief „Mein Hurra“ von „Bosse“. Das Aroma des Kaffees, der vor mir auf dem Tisch stand, stieg in meine Nase. Und mein Blick verlor sich in den goldenen Sonnenstrahlen, die die morgendliche Landschaft vor dem Fenster durchfluteten. Wir saßen einfach nur da…
3) Alles ist ein Lehrmeister
Egal ob Spielzeug, Haushaltsutensil, Pflanze, Müll oder was auch immer. Alles wird von unserer Tochter – dieser kleinen Wissenschaftlerin – akribisch untersucht. Es wird eingehend betrachtet, in den Mund genommen, ausführlich mit den Händen abgetastet und mit anderen Gegenständen aneinandergeschlagen.
Denn jeder Gegenstand hat etwas zu lehren. Etwas über die Farben, die Formen, die Konsistenzen und die Eigenschaften, die Dinge haben können. Kein Gegenstand ist zu gering oder zu profan, um nicht ein Lehrmeister sein zu können.
Und unsere Tochter scheint offen dafür zu sein, sich darauf einzulassen, was diese Lehrmeister ihr mitzuteilen haben. Sie beurteilt sie nicht schon vorher oder steckt ihn in irgendeine Schublade bevor sie sich auf sie eingelassen hat. Sie scheint ihre Wahrnehmung dieser Gegenstände von ihrer Bewertung zu trennen.
Daher wohnt den Momenten, wenn ihr ein Gegenstand zum ersten Mal begegnet, auch immer ein Zauber inne. Wie sehr liebe ich diese Vorfreude auf ihrem Gesicht, wenn sie einen Gegenstand zum ersten Mal erblickt. Oft stößt sie regelrechte Jauchzlaute aus und bewegt sich sogleich, so schnell es ihr möglich ist, auf ihn zu. Unbändiger Stolz und Neugierde zieren ihr Gesicht, wenn sie ihn dann endlich in Händen hält.
ANFÄNGERGEIST
Unbedingtes Urvertrauen, die Fähigkeit gegenwärtig zu sein und alles, was das Leben mit sich bringt, als seinen Lehrmeister willkommen zu heißen… Ich glaube, dass Jesus Christus in der eingangs zitierten Bibelstelle diese Eigenschaften bzw. das Bewusstsein, das aus diesen Eigenschaften spricht, gemeint haben könnte, als er sagte, dass niemand ins Reich Gottes hineinkommt, der es nicht empfängt wie ein Kind.
Der Franziskaner-Pater Richard Rohr bezeichnet dieses Bewusstsein als „Anfängergeist“. In seinen Bibelauslegungen vertritt er weiter die Auffassung, dass Jesus, wenn er in den Evangelien vom „Reich Gottes“ oder vom „Himmelreich“ spricht, nicht nur einen jenseitigen Zustand meint, der erst nach dem eigenen Ableben eintritt. Vielmehr beschreibt Jesus einen Zustand, der schon in diesem Leben und in dieser Welt existiert. Und um in dieses Reich Gottes einzugehen, muss der Mensch lernen, aus diesem ursprünglichen, kindlichen Bewusstsein des Anfängergeistes heraus zu leben.
LANGSAMES STERBEN
Es gibt mir so unendlich viel, diesen Anfängergeist bei meiner Tochter erleben zu dürfen. Es sind tagtäglich unzählig viele kleine Situationen, die mich ganz tief berühren. Kleine Situationen, die ich in mir trage und von denen ich zehre.
Gleichzeitig aber schwemmt es in mir auch die Frage an die Oberfläche, wann ich selbst diesen Anfängergeist verloren habe. Wenn ich auf die Erinnerungsfetzen zurückblicke, die ich mein Leben nenne, dann erkenne ich, dass es ein schleichender Prozess des Sterbens gewesen sein muss.
Und daher weiß ich, so wundervoll es auch ist, dieses ursprüngliche kindliche Bewusstsein bei unserer Tochter zu beobachten, seit ihrem ersten Atemzug liegt es im Sterben. Es stirbt, je mehr Erfahrungen sie sammelt und je komplexer ihre Wahrnehmungsprozesse werden.
RÜCKKEHR
Dass Jesus in der eingangs zitierten Bibelstelle aber den Erwachsenen vorhält, dass niemand, der das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, ins Reich Gottes gelangen kann, zeigt mir aber, dass es einen Weg „zurück“ geben muss. Zurück zum unbedingten Urvertrauen. Zurück zu der Fähigkeit, gegenwärtig zu sein. Zurück zu der Fähigkeit, alles, was das Leben mit sich bringt, als Lehrmeister willkommen zu heißen.
Und auch das Bild der spirituellen Lehre der Kabbalah – wonach die Vereinigung mit dem eigenen Ursprung ein Ziel des eigenen Lebensweges ist – bekommt für mich durch die Idee, im Laufe seines Lebens zum ursprünglichen Anfängergeist zurückzukehren, eine weitere, wertvolle Facette.
Daher wünsche ich unserer Tochter die Weisheit, innezuhalten, wenn sie sich des Sterbens ihres Anfängergeistes bewusst wird. Die Stärke, umzukehren und sich auf den Weg zurück zu ihm zu machen. Und die Schönheit, die jedem Ursprung innewohnt.