Falsche Grundannahmen

16. Prolog:

Wer meine beiden letzten beiden Blogartikel gelesen hat, weiß, dass ich die Frage bewege, ob und wenn ja, in welcher Weise, ich Freimaurer bleiben möchte oder nicht. Im ersten Blogartikel aus Juni 2023 berichtete ich davon, dass es zwischenmenschliche Erlebnisse waren, die bei mir zu einer Entfremdung mit dem Freimaurertum geführt hatten. Im zweiten Blogartikel aus Oktober 2023 veränderte ich den Fokus hin zu mir und ging unter anderem der Frage nach, was meine eigenen Anteile an der beschriebenen Entfremdung vom Freimaurertum sind.

Tatsächlich bin ich mittlerweile in einen machtvollen und nahezu alle Bereiche meines Lebens umfassenden, schmerzhaften Prozess der Dekonstruktion geworfen worden. Ich musste mich mir stellen, dem ungeschminkten Teil von mir gegenübertreten. Den vielen unbequemen Wahrheiten über mich selbst, über meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen, über die Dinge, die mir Angst machen, die in mir Schmerz und Trauer verursachen, die mich lähmen und bei denen ich über viele Jahre hinweg sehr viel Kraft aufgewendet habe, sie tief in mir wegzuschließen und ganz weit unten zu halten.

Hierbei musste ich feststellen, dass meine Beziehung zum Freimaurertum nur eine Baustelle von mehreren ist. Und es ist bei weitem nicht mal die größte Baustelle. Vielleicht ist sie auch nur ein Symptom. Je länger dieser Dekonstruktionsprozess andauert und je mehr er ans Eingemachte geht, desto mehr realisiere ich, dass der Teil dieses Prozesses, der das Freimaurertum betrifft, gänzlich anders und vor allem auch langwieriger verläuft, als ich dies zu Beginn hätte absehen können.

Und dadurch ist mir klargeworden, dass ich in meinen ersten beiden Blogartikeln zum Thema von zwei falschen – weil realitäts- und lebensfernen – Grundannahmen ausgegangen bin. Ich will diesen Artikel hier nutzen, um diese Grundannahmen ein für alle Mal abzuräumen.

17. WAS HAT DAS FREIMAURERTUM MIR GEBRACHT?

Die beiden falschen Grundannahmen, die ich in den ersten beiden Teilen dieser Blogserie voraussetze, verbergen sich in folgender Aussage von mir, die ich im ersten Teil dieser Blogserie gebracht habe: „Welche positiven „Früchte“ sehe ich in meinem Leben, die ich unmittelbar und ausschließlich auf das Freimaurertum zurückführen kann? Also kann ich positive Veränderungen und Entwicklungen benennen, die ich ohne das Freimaurertum nicht erlebt hätte?“

Zunächst einmal erntete ich für das Wording dieser Fragestellung einiges an Gegenwind und Widerspruch aus den Reihen der Freimaurer. Denn für einige (Brüder) schwang hier die Fragestellung „Was hat das Freimaurertum mir gebracht“ mit. Eine Herangehensweise an das Freimaurertum aus dieser Haltung und Motivation heraus sei mit dem freimaurerischen Weg unvereinbar, so der Vorwurf. Es gehe nicht um die Frage, was ich zu erhalten habe, sondern darum, was ich bereit sei zu geben. Die von mir gestellte Frage presse das Freimaurertum zu sehr in eine Kosten-Nutzen-Rechnung und folge zu sehr Prinzipien des Konsums. Nicht mehr die freimaurerische Idee stehe hierbei im Mittelpunkt, sondern meine Ego-Bedürfnisse. Ich verstehe diese Kritik und kann und will sie auch nicht entkräften.

Dennoch unterstelle ich, dass jede/r Freimaurer*in vor der Aufnahme ins Freimaurertum vorher überschlagen haben dürfte, was er/sie an Ressourcen (z.B. Zeit, Geld usw.) investiert und was ihm/ihr das bringt. Niemand wagt den Schritt ins Freimaurertum hinein, wenn er/sie sich davon nicht irgendetwas verspräche. Ich glaube, dass die Gretchenfrage eher ist: „Mit welcher Motivation schließe ich mich dem Freimaurertum an? Ist diese lauter oder unlauter?“

Und folglich schwingt diese Fragestellung auch in meiner Auseinandersetzung mit. Wenn das Freimaurertum keinen Mehrwert für mich (mehr) hat – oder wenn es mir sogar schadet – warum sollte ich dann noch Freimaurer bleiben?

18. FALSCHE GRUNDANNAHMEN

Doch was an der oben zitierten Aussage ist nun so falsch, dass ich sie mit diesem Blogartikel ein für alle Mal abräumen will?

Wenn ich frage, welche „positiven Früchte“ ich „ausschließlich auf das Freimaurertum zurückführen“ kann und welche „positive Veränderungen und Entwicklungen“ ich „ohne das Freimaurertum nicht erlebt“ hätte, impliziert das, dass ich in der Lage wäre, dies unzweifelhaft herauszuschälen. Allerdings musste ich feststellen, dass mir dies gar nicht so recht möglich ist. Denn im meinem Leben gibt es schließlich nicht nur das Freimaurertum: Ich übe einen Beruf aus, der mich fordert, bin Ehemann und Vater, stehe in vielerlei familiären, freundschaftlichen und anderweitigen sozialen Beziehungen und Verpflichtungen. Darüber hinaus reflektiere ich mein Leben und arbeite an mir selbst, indem ich neben dem Freimaurertum noch Teil einer spirituellen Männergruppe bin, die Natur und die Stille suche, Joggen gehe, schreibe und einige, teilweise auch qualifizierte, Menschen um mich herum habe, die mir unverblümt ins Leben reden dürfen. Dieses Geflecht ist so mannigfach, vielschichtig und wechselseitig von einander abhängend, dass es mir gar nicht möglich ist, einen einzelnen Teil dieses Geflechts als alleinig verantwortlich dafür zu benennen, wenn ich positive oder negative Entwicklungen in meinem Leben registriere.

Und meine zweite falsche Grundannahme ergibt sich aus der ersten: Es ist mir auch nicht möglich, ein Thema wie das Freimaurertum isoliert von den anderen Themen meines Lebens zu betrachten und zu bearbeiten. Und das ist vielleicht auch die größte Erkenntnis meines bisherigen Prozesses. Meinem vordergründigem Thema mit dem Freimaurertum liegen weitaus größere und umfassendere Lebensthemen im Hintergrund zu Grunde. Und nur in dem Grad, in dem ich beginne, diese aufzulösen, werde ich bemächtigt sein, auch mein Thema mit dem Freimaurertum auflösen.

19. NOCH SO’N AUSBLICK

Doch wie geht es nun weiter? Zunächst einmal ging es mir darum, durch das Abräumen meiner falschen Grundannahmen meinen gesamten Prozess bezüglich des Freimaurertums in eine realistischere und gesündere Bahn zu lenken.

Nun ist es so, dass dieser schmerzende und tiefgreifende Prozess der Dekonstruktion, in dem ich mich seit einigen Monaten befinde, in zutiefst persönliche und intime Bereiche meiner Selbst geht. Daher kann und will ich diesen Prozess nicht ohne Weiteres eins zu eins auf meinem Blog begleiten und offenlegen. Zumal ich bei vielem noch nicht einmal sicher absehen kann, wo ich mal rauskommen werde.

Ganz sicher werde ich vieles von dem, was ich gerade durchmache, auch irgendwann auf meinem Blog reflektieren. Doch das wird aus der Retrospektive geschehen. Denn zunächst benötigt dieser Prozess vor allem eins: Nämlich Zeit. Und die nehme ich mir…

Die Pandemie und mein Zen-Meister

IM GRIFF DER SEUCHE

Es war in der Zeit, als die Seuche über uns hereinbrach. Nahezu unbemerkt hatte sie sich in unseren Alltag geschlichen. Es waren zunächst nur einzelne und nur wenige Krankheitsfälle aufgetreten. Doch dann griff das Virus um sich. In immer kürzeren Zeitabständen infizierten sich immer mehr Menschen. Und auch schwerste Krankheitsverläufe häuften sich.

Die Regale in den Supermärkten und Apotheken wurden leergekauft. Boutiquen und Geschäfte mussten schließen. Firmen stellen ihre Arbeit ein, Fabriken ihre Produktion. Ausgangssperren wurden verhängt. Bilder von den überfüllten Intensivstationen der Krankenhäuser und Patienten unter Beatmungsgeräten flimmerten über die Bildschirme. Fahrzeuge und Uniformen von Polizei und Militär auf den Straßen. Und täglich präsentierte man die steigende Zahl derer, die dieses Virus mit dem Leben bezahlt hatten. Das Wort Pandemie hing schwer wie Blei über diesem Land, über diesem Kontinent, über diesem Planeten.

Der stille Begleiter dieser Seuche war die Angst. Unmerklich krabbelte sie bis in den letzten Winkel der Gesellschaft. Und setzte sich in den Köpfen der Menschen fest. Sie begann jede noch so kleine menschliche Regung, jede noch belanglose Handlung des Alltags zu durchdringen. Und auf diese Weise beherrschte sie das Leben ganzer Länder und Kulturen. Denn dieses Virus war unsichtbar. Es konnte überall sein. Jeder konnte sein Träger sein. Es konnte zu jeder Zeit und an jedem Ort zuschlagen. Und das ganz plötzlich. Niemand konnte absehen, wie lange es noch wüten würde. Und wieviele ihm noch zum Opfer fallen würden.

FAHRRADFAHREN LERNENDER ZENMEISTER

In diese Zeit fiel es, dass mein Zen-Meister gerade das Fahrradfahren erlernt hatte. Und so fuhr er mit seinem Fahrrad vor mir her. Noch ganz unsicher und wackelig. Seine gesamte Konzentration war darauf ausgerichtet, die notwendigen Bewegungen und Abläufe richtig zu koordinieren, um mit dem Fahrrad voranzukommen. Ich spazierte hinter ihm her. Immer, wenn er ein paar Meter vorausgefahren war, hielt er an, drehte sich zu mir um und wartete auf mich. Freudestrahlend. Und wenn ich dann bei ihm angelangt war, lobte ich ihn für das, was er da vollbracht hatte. Voll von unbändigem Stolz und motiviert bis in die Haarspitzen setzte er seinen Weg anschließend fort.

Mein Zen-Meister schien nichts zu wissen von all der Gefahr und all der Angst, die mittlerweile seit vielen Wochen diese Gesellschaft durchzog. Für ihn gab es nur dieses Fahrrad. In diesem einen Moment. Dem galt seine gesamte Aufmerksamkeit.

Und ich folgte meinem Zen-Meister. Wir hatten kein Ziel, das wir erreichen wollten. Es gab keine Mindeststrecke, die wir zurücklegen wollten. Ich freute mich für ihn für die vielen kleinen Fortschritte, die er machte. Und ich freute mich mit ihm. Mit jedem Schritt, den ich zurücklegte.

Irgendwann und fast schon nebenbei fiel mir auf, dass sich in die so kalte wie klare Luft des ausklingenden Winters unlängst die Milde des Frühlings gemischt hatte. Und sie verkündete etwas zutiefst Hoffnungsvolles. Es war die Botschaft von dem Leben, das erneut geboren wurde. Es war die Botschaft von dem Licht, das die Dunkelheit und die Kälte zurückdrängte. Es war die Botschaft von der Überwindung des Todes und die Botschaft von dem Neuanfang. Mit einem Mal fiel mir auf, dass die allermeisten Büsche und Bäume bereits Knospen trugen. Vereinzelt begangen diese bereits aufzugehen. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein.

Nach einer Weile kamen mein Zen-Meister und ich an einem Baum vorbei, der gerade von einem Gartenlandschaftsbauer beschnitten wurde. Ich fragte ihn, ob ich uns ein paar der abgeschnittenen Zweige mitnehmen dürfte. „Natürlich, gerne.“, entgegnete er. Also sammelte ich ein paar dieser Zweige auf. „Das war ganz schön nett von dem Mann.“, bemerkte mein Zen-Meister. „Ja, das war es.“, dachte ich, als ich die Zweige zurechtschnitt, in Vasen mit frischem Wasser drapierte und in unserem Zuhause aufstellte.

Abstieg

Ich weiß nicht, wie lange wir dort oben schon gestanden hatten. Schweigend. In uns gekehrt. Erstarrt. Das Licht des Mondes und das der Sterne waren zugedeckt von tiefschwarzen Wolken. Jegliche Helligkeit war wie aufgesogen von dieser Schwärze. Zu unseren Füßen erstreckten sich zerklüftete Gesteinshänge. Die sich weit unter uns irgendwo im Dunkel verloren.

Wir blickten auf das Tal vor uns und diesen undurchdringlichen Wald, den es umschloss. Er lag eingehüllt in dichten Nebelschwaden. Riesige Fackelmeere unterbrachen seine Finsternis wie Placken glühender Lava inmitten schwarzen Vulkangesteins. Fürchterliches Kriegsgeschrei, das Wiehern von Pferden, kämpferisches Dröhnen von zahllosen Trommeln und der Rhythmus von Schwertern, Äxten, Keulen und Spießen, die auf Schilde geschlagen wurden, trug der eisige Nachtwind zu uns herauf. Dämonische Heerscharen hatten sich versammelt. Sie waren wütend. Sie waren gierig. Und sie waren bereit für die letzte Schlacht.

Angst kroch in mir hoch. Zog mir den Magen zusammen und schnürte mir die Kehle zu. Mein Blick wanderte zu meinem Seelenbruder. Er war noch immer an meiner Seite. Ruhig und klar stand er neben mir. Und betrachtete, was uns zu Füßen lag. Für einen Moment konnte ich diese Entschlossenheit und diese Zuversicht, die er ausstrahlte, spüren. Dann sah er mich fragend an. Ich nickte. Wollte ich leben, so musste ich dort hinunter. Hinein in die Finsternis und das Dämonische. Bis zum tiefsten Punkt meiner Angst. Ich musste dem, was dort unten auf mich lauerte, gegenübertreten. Und hindurchgehen.

Wortlos befestigten wir unsere Seile an zwei Bäumen und ließen sie den Abhang herabgleiten. Ihre Enden verschwanden irgendwo unter uns in dieser undurchsichtigen Suppe aus Dunkelheit und Nebel.

Und dann begannen wir an unseren Seilen den Abhang hinabzusteigen. Doch es war nur sehr schwer möglich, sicheren Stand zu bekommen. Immer wieder rutschten unsere Füße ab. Immer wieder brach Gestein unter unseren Füßen weg und stürzte in die Tiefe. Der eisige Wind durchzog unsere Körper mit Schmerz und Taubheit. Die Seile pressten rote Schwielen in unsere Hände. Mit jedem Meter, den wir uns herunterarbeiteten, sog der Nebel uns mehr und mehr in sich auf. Erst unsere Beine, irgendwann unsere Oberkörper. Und schließlich schwappte er über uns zusammen wie das Wasser über einem Stein, der ins Meer geworfen worden war. Von nun an galt es blind zu klettern. Nach und nach schwanden unsere Kräfte.

Die Schwielen an unseren Händen platzen auf. Blutige Spuren blieben an unseren Seilen zurück. Erschöpfung. Was wir da vorhatten, war überhaupt nicht zu schaffen! Warum zum Teufel fiel uns das jetzt erst auf? Wie dumm und naiv hatten wir nur sein können? Wir mussten unbedingt wieder hochklettern! Doch dafür waren wir mittlerweile zu weit unten. Keine Kraftreserven mehr für den Weg zurück nach oben. Also stiegen wir weiter bergab. Weiter, immer weiter. Meter für Meter. Kraftlos und mechanisch.

Als ich das Ende des Seils erreicht hatte, bekamen meine Füße unbeholfen einen schmalen, bröckelnden Steinvorsprung zu fassen. Zitternd verweilte ich. Keuchend. Die Hände ums Seil gekrampft. Zaghaft wanderte mein Blick nach unten. Doch nebliges Dunkel deckte alles zu. Wie weit war es noch bis zum Boden? Zwei Meter, zwanzig Meter? Es war nicht zu erkennen.

Mein Seelenbruder kam auf demselben steinernen Vorsprung zu stehen. Ausgelaugt und zittrig. Er atmete schwer. Die Zuversicht und die Ruhe waren aus seinem Gesicht gewichen. Er blickte nach unten und dann zu mir. Hoffnungslosigkeit und Angst mischten sich in seinen Blick. Der Weg nach unten war ungewiss. Doch der Weg zurück nach oben existierte für uns nicht mehr. Panik wallte in uns auf. „Was können wir jetzt noch tun?“, presste ich hervor. „Da ist nichts mehr, was wir noch tun können.“, war die Antwort meines Seelenbruders, „Es ist vorbei.“ Die Kälte des Windes schüttelte unsere Körper durch und entzog uns unser letztes Bisschen Kraft. Der Steinvorsprung, auf dem Wir Halt gefunden hatte, brach unter unseren Füßen langsam weg.

„Hier hast Du keine Macht und keine Kontrolle mehr.“, wisperte irgendeine Stimme von irgendwoher, „Lass los!“ Es klang so süß. Und so verführerisch. Und da war nichts mehr in mir, was diesem lieblichen Wispern hätte widerstehen können. Nichts, nur noch Kraftlosigkeit. Für einen Moment war es, als bliebe Die Zeit stehen. Und dann löste ich Finger für Finger meine tauben Hände vom Seil. Es fühlte sich wie eine lang ersehnte Erlösung an. Langsam kippte ich nach hinten über. Fragend sah mein Seelenbruder zu mir rüber. „Nein!“, schrie er, als er hektisch nach mir griff. Ich fiel. Er bekam mich noch zu fassen. Doch ich riss ihn mit. Wir beide stürzten hinab. Mitten hinein ins Dunkle und ins Ungewisse…

Ins Herz der Finsternis und des Dämonischen

Ich trat heraus aus der Ruine dieses einst so erhabenen und ehrwürdigen Ortes. Hinter mir zerfallene Überreste von dem, was mal war. Vor mir in Dunkelheit gehüllte Weite.

Der Wind hatte an Kraft zugelegt. Sanft trieb er die Wolken des Himmels vor sich her. Wieder und wieder riss er die Wolkendecke auf. So dass der volle Mond die Landschaft in fahle Helligkeit tauchen konnte. In die eisige Kälte der ewigen Nacht hatte sich ein milder Hauch des immer wiederkehrenden Morgens gemischt.

Mein Blick schweifte in die Ferne. Irgendwo weit hinten zeichnete sich die Silhouette eines so dunklen wie tiefen Waldes ab. Gebieterisch erhob er sich aus dem Nichts. Bei seinem Anblick kroch eine unwillkürliche Angst in mir hoch. Eine Angst, die ich schwer nur zu fassen bekam. Angst. Etwas in mir sagte, dass ich den Wald betreten und bis in sein tiefstes Herz vordringen musste. Dort würde ich meiner Angst begegnen. Und damit auch mir selbst.

„Ich werde Dich begleiten.“, vernahm ich eine vertraute Stimme neben mir. Ich blickte mich um und sah in treue Augen. Ruhig und entschlossen stand er neben mir. Mein Freund, mein Weggefährte, mein Bruder. Seine Zuversicht und seine Klarheit schenkten mir den Mut loszugehen.

Schweigend gingen wir nebeneinander her. Verbunden auf tiefe Weise. Die Weite vor uns wurde ein Teil von uns, je weiter wir sie durchschritten. Nach und nach hatte der Wind die Wolken vertrieben. Über uns prangte ein Meer von Sternen. Der Vollmond erleuchtete unseren Weg.

Schließlich erreichten wir die ersten Ausläufer des Waldes. Karge Äste zeichneten sich am Himmel ab. Der Geruch von feuchtem Moos und Kiefernholz lag in der Luft. Tannenzapfen, Heidekraut und abgebrochene Äste knackten nun bei jedem Schritt unter unseren Füßen.

Plötzlich und unerwartet ragte dieser kalte monolithische Stein vor uns empor. Sein Sockel fest verankert im Erdboden. Sein Haupt von Baumkronen geküsst. Stolz reckte er sich den Sternen entgegen. Hatte die Natur ihn dort hingestellt, oder war er das Werk von Menschenhand? Zeugte er von glanzvollen Zeiten voller Macht und Herrlichkeit? Ein Überrest längst vergangener Königreiche? Ein heiliger Platz unserer Urahnen? Einer Gottheit geweiht? Oder hatte eine willkürliche Laune der Natur ihn erschaffen und zurückgelassen? In uns gekehrt verweilten wir einen stillen Moment lang. „Ein Mahnmal.“, ging es uns mit einem Mal durch den Kopf. Es warnte uns vor dem, was da vor uns lag. Vor dem, was uns noch begegnen mochte auf diesem Weg. Generationen von Männern waren ihn vor uns gegangen. Doch viele von ihnen waren nie zurückgekehrt.

Der Anblick dieses Mahnmals brannte sich tief in uns ein. Er sollte uns noch lange begleiten. Als wir unseren Weg fortsetzten, zog sich der dunkle Wald noch einmal zurück. Seine Fängen entließen uns abermals auf eine weite Ebene. Doch die Helligkeit des Mondes und der Sterne wurde nach und nach von Wolken wieder zugedeckt. Was zurückblieb war dunkel.

Und schließlich waren wir am Rand angelangt. Am Rand dessen, was uns bekannt war. Am Rand dessen, was uns vertraut war. Zu unseren Füßen fiel ein Abhang ab. Und am Fuße des Abhangs breitete sich erneut ein Wald aus. Finster und dicht, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Eingehüllt in Nebel. Baum an Baum reichte er bis zum Horizont.

Dämonische Heere hatten sich versammelt. Widerliche und grauenvolle Fratzen soweit das Auge reichte. Sie waren gekommen, um in meine Welt einzufallen. Um sie niederzureißen und zu verwüsten. Um über mich herzufallen und mich zu zerstückeln. Wütend stießen sie ihre Schwerter, Äxte, Spieße und Keulen in die Luft. Wieder und wieder. Ihr rhythmischer Kriegsgeschrei drang bis zu uns herauf.

Mein Weggefährte und ich verharrten bei dem, was wir vor uns ausgebreitet sahen. Wollte ich leben, musste ich dort hinein. Mitten in das Herz der Finsternis und des Dämonischen.