Ich weiß nicht, wie lange wir dort oben schon gestanden hatten. Schweigend. In uns gekehrt. Erstarrt. Das Licht des Mondes und das der Sterne waren zugedeckt von tiefschwarzen Wolken. Jegliche Helligkeit war wie aufgesogen von dieser Schwärze. Zu unseren Füßen erstreckten sich zerklüftete Gesteinshänge. Die sich weit unter uns irgendwo im Dunkel verloren.
Wir blickten auf das Tal vor uns und diesen undurchdringlichen Wald, den es umschloss. Er lag eingehüllt in dichten Nebelschwaden. Riesige Fackelmeere unterbrachen seine Finsternis wie Placken glühender Lava inmitten schwarzen Vulkangesteins. Fürchterliches Kriegsgeschrei, das Wiehern von Pferden, kämpferisches Dröhnen von zahllosen Trommeln und der Rhythmus von Schwertern, Äxten, Keulen und Spießen, die auf Schilde geschlagen wurden, trug der eisige Nachtwind zu uns herauf. Dämonische Heerscharen hatten sich versammelt. Sie waren wütend. Sie waren gierig. Und sie waren bereit für die letzte Schlacht.
Angst kroch in mir hoch. Zog mir den Magen zusammen und schnürte mir die Kehle zu. Mein Blick wanderte zu meinem Seelenbruder. Er war noch immer an meiner Seite. Ruhig und klar stand er neben mir. Und betrachtete, was uns zu Füßen lag. Für einen Moment konnte ich diese Entschlossenheit und diese Zuversicht, die er ausstrahlte, spüren. Dann sah er mich fragend an. Ich nickte. Wollte ich leben, so musste ich dort hinunter. Hinein in die Finsternis und das Dämonische. Bis zum tiefsten Punkt meiner Angst. Ich musste dem, was dort unten auf mich lauerte, gegenübertreten. Und hindurchgehen.
Wortlos befestigten wir unsere Seile an zwei Bäumen und ließen sie den Abhang herabgleiten. Ihre Enden verschwanden irgendwo unter uns in dieser undurchsichtigen Suppe aus Dunkelheit und Nebel.
Und dann begannen wir an unseren Seilen den Abhang hinabzusteigen. Doch es war nur sehr schwer möglich, sicheren Stand zu bekommen. Immer wieder rutschten unsere Füße ab. Immer wieder brach Gestein unter unseren Füßen weg und stürzte in die Tiefe. Der eisige Wind durchzog unsere Körper mit Schmerz und Taubheit. Die Seile pressten rote Schwielen in unsere Hände. Mit jedem Meter, den wir uns herunterarbeiteten, sog der Nebel uns mehr und mehr in sich auf. Erst unsere Beine, irgendwann unsere Oberkörper. Und schließlich schwappte er über uns zusammen wie das Wasser über einem Stein, der ins Meer geworfen worden war. Von nun an galt es blind zu klettern. Nach und nach schwanden unsere Kräfte.
Die Schwielen an unseren Händen platzen auf. Blutige Spuren blieben an unseren Seilen zurück. Erschöpfung. Was wir da vorhatten, war überhaupt nicht zu schaffen! Warum zum Teufel fiel uns das jetzt erst auf? Wie dumm und naiv hatten wir nur sein können? Wir mussten unbedingt wieder hochklettern! Doch dafür waren wir mittlerweile zu weit unten. Keine Kraftreserven mehr für den Weg zurück nach oben. Also stiegen wir weiter bergab. Weiter, immer weiter. Meter für Meter. Kraftlos und mechanisch.
Als ich das Ende des Seils erreicht hatte, bekamen meine Füße unbeholfen einen schmalen, bröckelnden Steinvorsprung zu fassen. Zitternd verweilte ich. Keuchend. Die Hände ums Seil gekrampft. Zaghaft wanderte mein Blick nach unten. Doch nebliges Dunkel deckte alles zu. Wie weit war es noch bis zum Boden? Zwei Meter, zwanzig Meter? Es war nicht zu erkennen.
Mein Seelenbruder kam auf demselben steinernen Vorsprung zu stehen. Ausgelaugt und zittrig. Er atmete schwer. Die Zuversicht und die Ruhe waren aus seinem Gesicht gewichen. Er blickte nach unten und dann zu mir. Hoffnungslosigkeit und Angst mischten sich in seinen Blick. Der Weg nach unten war ungewiss. Doch der Weg zurück nach oben existierte für uns nicht mehr. Panik wallte in uns auf. „Was können wir jetzt noch tun?“, presste ich hervor. „Da ist nichts mehr, was wir noch tun können.“, war die Antwort meines Seelenbruders, „Es ist vorbei.“ Die Kälte des Windes schüttelte unsere Körper durch und entzog uns unser letztes Bisschen Kraft. Der Steinvorsprung, auf dem Wir Halt gefunden hatte, brach unter unseren Füßen langsam weg.
„Hier hast Du keine Macht und keine Kontrolle mehr.“, wisperte irgendeine Stimme von irgendwoher, „Lass los!“ Es klang so süß. Und so verführerisch. Und da war nichts mehr in mir, was diesem lieblichen Wispern hätte widerstehen können. Nichts, nur noch Kraftlosigkeit. Für einen Moment war es, als bliebe Die Zeit stehen. Und dann löste ich Finger für Finger meine tauben Hände vom Seil. Es fühlte sich wie eine lang ersehnte Erlösung an. Langsam kippte ich nach hinten über. Fragend sah mein Seelenbruder zu mir rüber. „Nein!“, schrie er, als er hektisch nach mir griff. Ich fiel. Er bekam mich noch zu fassen. Doch ich riss ihn mit. Wir beide stürzten hinab. Mitten hinein ins Dunkle und ins Ungewisse…
Ich frage mich gerade… muss es immer erst so schwierig sein, bis zum Ende der Kräfte, bis zum Ende des Wissens, bis zum Ende des Halts, um loszulassen? Braucht die Angst vor dem Dunklem in uns immer erst das?
Kann es nicht auch langsam und liebevoll, in etwas Größeres gehüllt, was zur Seite steht, vorangehen? Das Seil bis zum Grund reichen, die Kräfte bis zum Ende helfen, die Angst Halt finden?
Ich weiß es nicht…
Gerne gelesen. Danke fürs Teilen.
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Liebe Sophie,
ganz ehrlich, ich weiß es auch nicht sicher, weil meine Erkenntnis auch nur bruchstückhaft ist und mein Wissen sich laufend erweitert beziehungsweise verändert.
Ich glaube: Ja, man muss aus seiner Wohlfühlzone raus, wenn man wachsen will. Ebenso muss man dahin kommen, die eigene Kontrolle beziehungsweise den Wunsch nach Kontrolle aufzugeben; sprich man muss lernen loszulassen. Meine Erfahrung ist: Dies tut man erst, wenn das Leben einen in eine krisenhafte Situation führt, die unsere Fähigkeiten und Kräfte übersteigt. Es muss so sehr wehtun, dass man sich bewegen will und muss. Irgendwie scheint man nur dann die notwendigen Kräfte zu entwickeln, über sich hinauszuwachsen. Und nur dann scheint man überhaupt erst die Notwendigkeit zu erkennen, sich zu verändern. Das ist zumindest das, was ich in meinem Leben beobachte.
Und ich glaube auch daran, dass es ein notwendiger Lebens- und Entwicklungsprozess ist, in sich hinabzusteigen und sich den eigenen Ängsten und Schatten zu stellen. Jeder von uns trägt seine ganz eigenen dunklen Schattenseiten mit sich herum. Und in der Regel verwenden wir viel Zeit darauf, diese dunklen Schattenseiten sorgfältig unter Verschluss zu halten. Unsere persönliche Heldenreise ist, sich diesen Anteilen in uns zu stellen.
Ich glaube aber auch: Die Krisen, in die uns das Leben stellt, sind nie größer als unsere Kräfte, sofern wir uns diesen Krisen stellen. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht schmerzen, uns nicht Angst machen und uns nicht an den Rand unserer Kräfte bringen wird.
Und ich glaube auch: Egal, was wir an Finsternis auch in uns vorfinden, nichts davon ist stärker oder größer als wir. Es geht nicht darum, diese Finsternis zu bekämpfen oder wegschließen, sondern sich ihr zu stellen, sie zu umarmen und hindurchschreiten.
Ich hoffe, Du kannst mit meiner Antwort etwas anfangen.
Vielen Dank für Deine wertschätzende Rückmeldung!
Lieben Gruß!
Hagen Unterwegs
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Dein atmosphärischer Schreibstil spricht mich sehr an. Im Grunde beschreibst du eine mystagogische Seelenreise. Der Weg ins Licht führt durch die Dunkelheit. „ Wahrlich, keiner ist weise, Der nicht das Dunkel kennt…“ 🙂
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Vielen Dank, lieber Mark!
Du hast ganz Recht, die unterschiedlichen Heldengeschichten der Menschheit erzählen von eben genau dem: Nur wer die (eigene) Finsternis durchschreitet gelangt ins Licht.
Vielen Dank für Deine wertschätzenden Rückmeldungen auf meine Blogartikel.
Lieben Gruß!
Hagen Unterwegs
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Per aspera ad astra. „Über raue Pfade gelangt man zu den Sternen“
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