Die toxische Seite des Christentums

SPIRITUALITÄT UND TOXISCHE RELIGION

Wer auf meinem Blog liest, dem wird eines sehr schnell klar: Das prägende Element, das sich durch jedes meiner Bilder, durch jeden Buchstaben, den ich niederschreibe, zieht, ist Spiritualität. Und da ich die Geschichten, Symbole und Bilder meiner Spiritualität in erster Linie dem Christentum entlehne, nehme ich auch häufig Bezug auf Gott und auf Jesus Christus. Folglich ist auch meine grundsätzliche Beziehung zum Christentum zunächst eine positive.

Wenn Ihr wissen wollt, wie ich „Spiritualität“ für mich definiere, lest Ihr am besten meinen Artikel „Spirituelle Heldenreise„. Und wenn Euch interessiert, was ich unter „Gott“ verstehe, lege ich Euch meinen Artikel „Freimaurertum benötigt Spiritualität und Gottesbezug“ ans Herz. Diese Blogartikel vorausgesetzt, ist der Ausgangspunkt sowie der Endpunkt von Spiritualität, wie ich sie verstehe, immer das mit menschlicher und göttlicher Würde beschenkte Individuum. Und über diese Würde verfügt das Individuum ganz unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Religion, seinem kulturellen oder sozioökonomischen Hintergrund, seiner geschlechtlichen Identität, seiner Weltanschauung oder was auch immer. Weiter geht es in dieser Spiritualität immer um das Verbunden-Sein beziehungsweise das Eins-Sein dieses Individuum mit allem, was existiert und seinem eigenen göttlichen Urgrund. Es geht immer um die Überwindung des egodominierten Selbst („Falsches Selbst“), das Freilegen des eigenen ursprünglichen göttlichen Kerns („Wahres Selbst“) und die Rückkehr zum eigenen Ursprung. Folglich kann Spiritualität niemals faschistisch motiviert sein, sich über Feindbilder definieren oder im Widerspruch zur Wissenschaft stehen. Vielmehr ist sie sogar eine bereichernde Ergänzung, Fortführung und Horizonterweiterung der Wissenschaft. Spirituelle Weltsicht kann und muss immer undogmatisch, nondualistisch, interdependent und holistisch sein.

Dieses Verständnis von Spiritualität hat zur Folge, dass ich den unterschiedlichen Religionen und religiösen Traditionen der Menschheit zuerst einmal wertschätzend gegenüberstehe. Und aus der Innenansicht des Christentums heraus könnte ich unzählige Blogartikel mit der Nächstenliebe und dem sozialen und karitativen Engagement, das ich bei vielen Christen erleben durfte, füllen. Das bedeutet für mich im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ich die Religion im Allgemeinen oder das Christentum im Besonderen verkläre oder unkritisch sehe. Schließlich bin ich auf meinem Weg zur Genüge mit den toxischen Seiten der Religion in Berührung gekommen. Auf meinem Blog habe ich die Religion beziehungsweise bestimmte religiöse Auswüchse immer wieder auch kritisch gestellt.

Das aktuelle Weltgeschehen jedoch hat mich jüngst innehalten und die Rolle der Religion noch einmal kritischer hinterfragen lassen. Als Gläubiger ist mir hierbei aufgefallen, dass die Bilder der letzten 20 Jahre, die mich im Zusammenhang mit geopolitischen Machtkämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen am stärksten verstört und betroffen gemacht haben, die Religion zu verantworten hat. Und als Christ beobachte ich mit Sorge, dass Teile des Christentums zunehmend eine destruktive und lebensverachtende Rolle in diesen Machtkämpfen und Auseinandersetzungen einnehmen.

Im Folgenden werde ich exemplarisch vier dieser mich verstörenden Ereignisse herausgreifen und kurz Revue passieren lassen. Abschließend werde ich an dem, was der christliche Religionsgründer Jesus Christus laut biblischer Überlieferung zum Thema Macht und Gewalt vor etwa 2000 Jahren gelehrt hat, Maß nehmen, und daran die beschriebenen aktuellen Entwicklungen des Christentums bemessen. Auch, wenn mein Fokus primär auf dem Christentum liegt, so will ich, den Einstieg dennoch mit dem Islam machen.

ISLAMISTISCHER TERRORISMUS

Alles begann mit dem 11. September 2001. Von denen, die damals alt genug waren, den Anschlag auf das World Trade Center bewusst mitbekommen zu haben, ist mir bislang niemand begegnet, der nicht auch über 20 Jahre später noch klar benennen könnte, was er in dem Moment, als die Passagiermaschinen in die Tower stürzten, gerade machte. Ich selber nahm damals an einem „Ethik-Seminar“ teil. Es ging um ethisch-moralisches Handeln im beruflichen Kontext. Zuerst vibrierte mein Handy. Eine Freundin hatte mir eine SMS (denn WhatsApp und Co. gab es damals noch nicht) mit folgendem sinngemäßen Inhalt geschickt: „Das World-Trade-Center ist kaputt. Das Pentagon ist kaputt. Und mir ist auch schon ganz schlecht.“ Im nächsten Moment platzte eine Kollegin aufgeregt in den Seminarraum. Diese hielt sich ein Radio ans Ohr. So ein analoges Radio mit ausziehbarer Antenne und so. Im übernächsten Moment war der gesamte Kurs auch schon um einen Fernseher herum versammelt und zog sich die schockierenden Bilder aus New York rein. Immer und immer wieder. Als ich am nächsten Tag in einer norddeutschen Großstadt eine Tageszeitung kaufen wollte, gab es keine mehr. Vom deutschlandweiten Blatt bis hin zur kleinen Regionalzeitung, sie waren alle ausverkauft.

Der Anschlag vom 11. September hatte traumatisierendes Potenzial. Zum einen, weil die Weltgemeinschaft es niemals für möglich gehalten hätte, dass solch eine Tat auf amerikanischem Grund und Boden möglich sein könnte. Und zum anderen, weil er einer breiten westlichen Öffentlichkeit zum ersten Mal die Realität islamistischen Terrorismus‘ vor Augen führte.

In den folgenden Jahren sollten weitere Anschläge unterschiedlicher islamistischer Couleur auf europäischem Grund und Boden folgen. Insbesondere der Anschlag auf das Verlagsgebäude der französischen Satirezeitschrift „Carlie Hebdo“ im Jahr 2015 als Rache für die Veröffentlichung von Karikaturen des muslimischen Propheten Mohammed traf mich bis ins Mark. Er ließ mich fassungslos und wütend zurück. Schwang in der Tatausführung doch so unendlich viel Verachtung für die freiheitlichen Werte des Westens mit. Damals hätte ich nie zu denken gewagt, dass selbst diese Tat noch zu toppen gewesen wäre: Im Jahr 2020 wurden in Frankreich Lehrer von Islamisten enthauptet, weil der Stoff ihres Unterrichts nicht genehm war. Wie barbarisch, wie bestialisch!

Neun Jahre nach dem Terroranschlag vom 11. September nahm ich an einem Seminar der Universität Hamburg teil. Es ging um den Umgang mit Menschen anderer Kulturen. Zwei Aussagen, die dort von den Dozenten getätigt wurden, sind bei mir haften geblieben. Die erste Aussage war: Es gibt eine Korrelation zwischen der sozialen Lebenssituation in einer Gesellschaft und der Bereitschaft des Einzelnen, islamistisch motivierte terroristische Anschläge zu begehen. Je unsicherer ein Gesellschaftssystem und je prekärer die Lebenssituation der Bevölkerung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort auch Terrorakte verübt werden. Daher ereignet sich auch die große Masse islamistischer Terroranschläge in muslimischen Ländern. Und die zweite Aussage war: Die mit großem Abstand meisten Opfer islamistischer Terrorakte sind Moslems. Klar, beides relativiert nicht die Verantwortung, die die Religion des Islam für diese menschen- und lebensverachtenden Taten trägt, aber es ordnet sie in einen größeren Kontext ein und leitet sie ein wenig her. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Islam die rechtfertigende Ideologie und auch die praktische Infrastruktur für diese Taten geliefert hatte.

In den christlichen Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, wurde vergleichsweise schnell mit dem Finger auf den Islam gezeigt. Die Gräueltaten des islamistischen Terrorismus galten als letzter Beweis dafür, dass der Islam an sich von Grund auf böse oder gar ein satanischer Irrweg sei. Die Gräueltaten des Christentums, wie zum Beispiel Kreuzzüge und Hexenverbrennungen, lagen lange genug zurück, so dass mancher Christ sich ruhigen Gewissens über „diese Moslems“ erheben konnte. Damals war die Welt noch in Ordnung: Die Moslems waren die Bösen und die Christen die Guten. Doch schleichend und von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt, sollte sich dies nach und nach ändern…

REGENWALD IN FLAMMEN

2018/2019 gingen Bilder durch Presse und soziale Medien, auf denen große Flächen des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes in Flammen zu sehen waren. Dieser Regenwald brannte in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit wie niemals zuvor. Mitverantwortlich dafür zeichnete der damalige brasilianische Präsident, Jair Messias Bolsonaro. 2018 ins Amt gewählt, betrieb er eine Politik, die der Brandrohdung des Amazonas-Regenwaldes Vorschub leistete und Bestimmungen zum Schutz des Regenwaldes sukzessive aufgeweichte und abgeschaffte. Auch seine Maßnahmen zur Eindämmung der Brände wurde als völlig unzureichend kritisiert. Sie waren zu wenig, zu langsam und zu halbherzig.

Laut Wikipedia vertritt Bolsonaro „gesellschaftspolitisch rechtspopulistische bis rechtsextreme und wirtschaftspolitisch neoliberale Positionen“. Was mir lange Zeit gar nicht bewusst war, war, wie tief Bolsonaro in den evangelikal christlichen Milieus Brasiliens verwurzelt ist. Und dass die Stimmen eben dieser Milieus ausschlaggebend für seine Wahl zum Präsidenten Brasiliens gewesen waren. In diesen Milieus soll er Zustimmungswerte von bis zu 73 Prozent erhalten haben.

Doch wie kam es dazu? Denn noch Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts waren 9 von 10 Brasilianern katholisch gewesen. Seither jedoch sind die evangelikalen Richtungen des Christentums dort die am stärksten wachsenden Glaubensgemeinschaften. Mittlerweile zählen rund 30 Prozent von Brasiliens Gesamtbevölkerung zu evangelikal christlichen Kirchen. Geht diese Entwicklung so weiter, wird es dort in absehbarer Zeit mehr Evangelikale als Katholiken geben. Und die evangelikalen Milieus sind welche, die sich ins politische Geschehen einmischen und versuchen, Einfluss zu nehmen. Sei es, um Steuererleichterungen für ihre wie Wirtschaftsunternehmen geführten Kirchen zu erreichen, sei es, um ihre national rechts-konservativen Positionen in der Gesellschaft durchzusetzen und zu verfestigen oder um ihnen wohlgesonnene Entscheidungsträger an den wichtigen gesellschaftlichen Positionen zu installieren. Bolsonaro hatte dies erkannt und sich den evangelikal christlichen Milieus angedient. Die Frau, die er geheiratet hatte, entstammte der evangelikalen Kirche des populären Predigers Silas Malafai. In selbiger Kirche hatte Bolsonaro sich 2016 medienwirksam taufen lasse, und das obwohl er nach wie vor Katholik gewesen war. Im Wahlkampf schließlich hatte er die Positionen der evangelikalen Christen beispielsweise in Fragen der Sexualethik, der Drogenpolitik oder auch der Familienpolitik eingenommen und war mit Slogans wie „Brasilien über alles. Gott über allen“ in den Wahlkampf gezogen. Als Dank war in den evangelikal christlichen Milieus fleißig das Kreuz bei Bolsonaro gemacht worden.

Und kaum hatte Bolsonaro die Macht ergriffen, gingen diese apokalyptischen Bilder aus dem brasilianischen Amazonas-Regenwald um die Welt. Dieser brannte in einem Ausmaß nieder, wie es bis dahin nicht vorstellbar gewesen wäre. Die internationale Presse beobachtete das Krisenmanagement des neuen Präsidenten mit Unverständnis. Steckte dieser selbst hinter diesen Bränden, mit dem Ziel neues Weideland zu generieren? Verschleppte und unterminierte er bewusst die Brandbekämpfungsmaßnahmen? Oder war seine Intervention einfach nur schlecht koordiniert und durchgeführt? So mancher begründete Verdacht wurde in den Medien diskutiert. Und auch wenn man in dieser Sache von außen ziemlich eindeutige Indizien sammeln konnte, so liegt es doch in der Natur der Sache, dass die abschließende Beweisführung unvollendet bleiben musste.

Was einen aber förmlich ansprang, war das Schweigen der großen Mehrheit des evangelikalen Christentums, das Bolsonaro ins Amt gewählt hatte. Es war das Schweigen eben jener Christen, die sonst so lautstark ihre Stimme erheben, wenn es darum geht, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen oder die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu kämpfen. Als es um die Bewahrung der Schöpfung, um das Ausrotten ganzer Tierarten, um die Vernichtung des Lebensraumes indigener Menschen und die Bekämpfung des Klimawandels ging, da schwiegen genau diese Christen. Und dieses Schweigen war unüberhörbar.

ERSTÜRMUNG DES KAPITOLS

Am 06. Januar 2021 erstürmte ein Mob überwiegend weißer Männer eines der zentralen Symbole der amerikanischen Demokratie: Das Kapitol. Der Grund hierfür war die demokratische Abwahl des bis dato amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald John Trump. Auch wenn dieser Sturm vergleichsweise gesittet vonstattenging, so brachte er dennoch Vandalismus und Diebstahl mit sich und forderte eine Handvoll Menschenleben. Viel schlimmer jedoch: Es war ein Tabubruch von ungeahnter Reichweite, weil er fundamental mit der demokratischen Idee brach. Sehr schnell wurde klar, dass dieser Sturm in seinem Kern christlich motiviert war. Für den geneigten Beobachter dürften insbesondere die Bilder dieses gehörnten, halbnackten und stark tätowierten, selbsternannten „Q-Anon-Schamanen“, der nach der Erstürmung im Inneren des Kapitols unter „Halleluja“- und „Amen“-Rufen eine christliche Gebetsgemeinschaft anleitete, am schwersten einzuordnen und zu ertragen gewesen sein.

Die Erstürmung des Kapitols stellte den vorläufigen Höhepunkt einer längeren Entwicklung dar, die in den 1970er Jahren ihren Anfang genommen und unter Präsident Trump eine neue Intensität und Dynamik bekommen hatte. Über Jahrzehnte hinweg hatten sich im christlich evangelikalen Spektrum der USA sehr meinungsstarke und medial zunehmend präsente Strömungen herausgebildet, die ihren Einfluss auf die Politik, insbesondere ins Republikanische Milieu hinein, sukzessive ausbauten. Sich im apokalyptischen Endkampf gegen die antichristlichen Kräfte des omnipräsenten, jedoch nur schwer greifbaren Feindbildes „Kultur-Marxismus“ wähnend, hatten sich diese evangelikalen Strömungen ideologisch zusehends radikalisiert und ihr politisches Koordinatensystem ins Rechtsextremistische und Nationalistische verschoben. Auffällig war auch, wie dieses Weltbild nach und nach anschlussfähig für die krudesten Verschwörungsideologien geworden war. Hervorzuheben seien hier die Ideologien rund um „Q-Anon“ (oder auch einfach nur „Q“). Deren Kern die Annahme ist, dass weltweit satanische Eliten in Hinterzimmern und Kellern Kinder quälten und töteten, um anschließend deren Blut zu trinken. In Präsident Trump hatte dieses christlich evangelikale Spektrum „seinen“ Präsidenten im Amt. Ein Präsident, der ihresgleichen an den wichtigen Schalthebel der Macht installiert und Gesetzesvorhaben in ihrem Sinne verabschiedet hatte.

Lässt man diese Entwicklung des evangelikalen Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika Revue passieren, überrascht es nicht mehr wirklich, dass es allem voran Christen waren, die in den Chor derer einstimmten, die die Abwahl von Donald Trump als durch Betrug zustande gekommen ansahen. Und dies, ohne dass es belastbare Beweise für diese Behauptung gegeben hätte. Und es überrascht ebenso wenig, dass es eben diese Christen waren, die vorneweg marschierten, als es darum ging, das Kapitol zu erstürmen. War diesen Menschen bewusst, was für einen Schaden ihr Verhalten im Herzen der Demokratie anrichtete; was für eine Signalwirkung dies für nicht-demokratische oder demokratiefeindliche Gesellschaftssysteme gehabt hat? Und auch hier war wieder augenscheinlich, welche zentrale Rolle das Christentum bei der Rechtfertigung dieser Taten spielte. Denn deren Antriebsfedern waren christlich begründete Apokalyptik und christlich legitimierte Feindbilder.

RUSSLAND-UKRAINE-KRIEG

Am 24. Februar 2022 begann Russland einen brutalen und gnadenlosen Angriffskrieg, als es mit einem massiven militärischen Aufgebot zu Land, zur Luft und zur See in den benachbarten Bruderstaat Ukraine einmarschierte. Was dies auslöste, wird von vielen Russen und Ukrainern als Bruderkrieg bezeichnet. Wie wahrscheinlich ganz Europa versetzten auch mich die Bilder, die dieser Krieg produzierte, in eine Art Schockstarre. Und es dauerte einige Tage, bis ich anfing, mich aus ihr zu lösen und Worte zu finden.

Neben den unzähligen Fragen, die solch ein Krieg immer aufwirft, fragte ich mich zunehmend auch, welche Rolle die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Auseinandersetzung eigentlich einnimmt. In ersten Internet-Recherchen fand ich Bilder von deren Geistlichen, die russische Raketen und Schusswaffen segneten. Allerdings konnte ich nicht verifizieren, dass diese Bilder tatsächlich im Zusammenhang mit dem aktuellen Russland-Ukraine-Krieg stehen. Was ich jedoch verifizieren konnte, war, dass Russisch-Orthodoxe Geistliche vor der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 militärisches Gerät, Raketen, Schusswaffen und Soldaten der russischen Streitkräfte gesegnet hatten. In den Jahren danach jedoch war innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche ein leidenschaftlicher Streit darum entbrannt, ob es aus christlicher Sicht überhaupt zu vertreten sei, Kriegswaffen zu segnen. Aber selbst, wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Frage ihre Position in Frage gestellt und geändert haben sollte, so befremdet ihre Haltung im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine dennoch sehr. In der Vergangenheit waren von dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I. (der im Übrigen mehrfacher Milliardär ist) zu hören, dass der Kriegsdienst ein Akt der Nächstenliebe sei. Und auch als die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin sich in Richtung Ukraine in Bewegung setzte, war keinerlei Intervention von Seiten dieser Kirche zu vernehmen. Das höchste der Gefühle war der Appell, die Anzahl der Kriegsopfer möglichst gering zu halten. Mit zunehmender Kriegsdauer radikalisierten sich die Worte des Russisch-Orthodoxen Kirchenoberhauptes. So begann er irgendwann, den Krieg gegen die Ukraine als notwendigen und apokalyptischen Glaubenskrieg gegen einen gottlosen Westen, gegen „die Kräfte des Bösen“ zu deklarieren. Und für solch einen heiligen Krieg nimmt man Opfer unter den orthodoxen Glaubensgeschwistern in der Ukraine sowie die Zerstörung ihrer Gotteshäuser als notwendigen Kollateralschaden halt in Kauf. Meiner Ansicht nach, gibt es für dieses Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche zwei Beweggründe:

Zum einen ist da dieser uneingeschränkt herrschende Machthaber Russlands, Wladimir Putin. Dieser inszeniert sich seit Jahren als orthodoxer Christ und sucht auf diese Weise den Schulterschluss mit der Russisch-Orthodoxen Kirche. So lässt er sich gerne in medial wirksamer Weise beim Besuch russisch-orthodoxer Gottesdienste, beziehungsweise beim Praktizieren russisch-orthodoxer Rituale in Szene setzen und soll auch schon Gesetzesentwürfe vorab mit der Kirchenführung abgestimmt haben. Weiter umgibt er sich mit einer verklärenden Lebensgeschichte, wonach seine gläubige Mutter ihn als Säugling heimlich und gegen den erklärten Willen seines atheistischen Vaters hatte taufen lassen. Das entsprechende Taufkreuz soll auf dramatische Weise einen Brand in einem von Putins Anwesen überstanden haben. Dies und die Tatsache, dass seine Familie diesen Vorfall unversehrt überlebt hatte, soll Putins Bekehrungsmoment zum russisch-orthodoxen Glauben gewesen sein. Daher trägt er dieses Kreuz bis heute unablässig um seinen Hals. Putin weiß, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht nur etwa 70 Prozent der Bevölkerung bindet, sondern auch, dass sie eng mit der russischen Geschichte und der russischen Identität verbunden ist. So war sie ein entscheidender Faktor des inneren Zusammenhalts, als sich im 10. Jahrhundert der erste Staat auf russischem Gebiet gründete und stabilisierte. Und gerade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1980er und 1990er Jahren, gab sie weiten Teilen der russischen Gesellschaft Zuflucht, Trost und Identität. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist in Russland ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Putins Großmachtfantasien lassen sich nur mit ihr verwirklichen, nicht gegen sie. Am 18. März 2022 schließlich erreichte der Orthodoxe Christ Wladimir Putin einen an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbietenden Tiefpunkt. Am Jahrestag der Annexion der Krim riss er den Bibelvers „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannesevangelium, Kapitel 15, Vers 13) völlig aus dem Zusammenhang und entfremdete ihn dahingehend, ihn als göttliche Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine zu missbrauchen.

Darüber hinaus gibt es Stimmen, die der Ansicht sind, die Russisch-Orthodoxe Kirche selbst habe ein vitales Interesse daran, dass Russland diesen Krieg mit der Ukraine führt und auch gewinnt. Hintergrund ist, dass auf ukrainischem Boden mehrere orthodoxe Kirche existieren. Hervorzuheben, weil sie aufgrund ihrer Größen herausragende Stellungen einnehmen, sind hierbei die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarch untersteht, sowie die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die sich 2018 aus dem Zusammenschluss verschiedener orthodoxer Kirchen gründete und bis 2019 dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel unterstanden hatte. 2019 war diese Ukrainisch-Orthodoxe Kirche für eigenständig erklärt und in der Folge durch das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat von Alexandria, die Kirche von Griechenland und Zypern, anerkannt worden. Dies hatte natürlich auch die Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russlands zementiert und die Einflusssphären der Russisch-Orthodoxen Kirche geschmälert. Eine wie auch immer geartete Eingliederung der Ukraine in ein russisches Reich würde dies wieder abmildern.

Natürlich sind die Motivationen für den Einmarsch Russlands in die Ukraine vielschichtig und mannigfaltig. Es spielen geopolitische und wirtschaftspolitische Gründe, die Frage nach Lebensraum und Rohstoffen sowie nationalistische und geschichtsrevisionistische Beweggründe hinein. Darüber hinaus aber, so mein Eindruck, tobt unter seiner Oberfläche ein Religionskrieg; und zwar ein christlich motivierter. Dieser Eindruck verfestigte sich zusehends, als ich in den Sozialen Medien von Vertretern einer rechtsextrem christlichen Weltsicht las, die Wladimir Putin dafür feierten, dass dieser mit militärischer Stärke in letzter Konsequenz gegen einen dekadenten, degenerierten und von links-grün versifften Eliten durchseuchten Westen zu Felde zieht.

ZWISCHENRUF

Das waren jetzt drei Ereignisse, die aufgrund ihres verstörenden Charakters bei mir besonders haften geblieben sind. Drei Ereignisse, bei denen das Christentum direkt oder indirekt eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hat. Als ich diesen Blogartikel schrieb, wurde mir bewusst, dass die Auswahl dieser Ereignisse willkürlichen Charakter hat, weil man noch so viel mehr ähnlich gelagerte Ereignisse hervorkramen könnte. Was ist beispielsweise mit dem Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche? Hat es außerhalb des Christentums je solch ein System gegeben, in dem über Jahrhunderte hinweg, durch die Hierarchien der Institution gedeckt und vertuscht in struktureller Weise Kinder misshandelt und missbraucht werden? Ernüchternd ist es auch, sich mal mit dem Verhalten großer Teile der westlichen Christenheit zu den Abwürfen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945, die bis heute vielen hunderttausend Menschen das Leben gekostet haben, auseinanderzusetzen. Diese Aufzählung ließe sich wohl noch lange fortsetzen…

In diesem Kontext stellt der Religionsgründer des Christentums, Jesus Christus, dem Christentum in weiten Teilen ein Armutszeugnis aus, wenn er in der Bibel (Matthäus 7, 17-21) folgendes sagt: „So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Was sind die Früchte des Christentums?

Ich stelle all diese Fragen als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger. Und als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger muss ich es mir gefallen lassen, wenn Menschen, die sich nicht zum Christentum zählen, mir genau diese Fragen vorwerfen. Tatsächlich kam mir beim Schreiben dieses Blogartikels die Frage, ob diese Welt nicht ein besserer Ort wäre, wenn es meine Religion, das Christentum, einfach gar nicht gäbe.

DIE LEHRE JESU CHRISTI

Auch wenn es seltsam klingt, mir geht es in diesem Blogartikel nicht darum, mich politisch zu positionieren. Ich kann und will nicht darüber urteilen, ob man als Gläubiger seinen christlichen Glauben eher konservativ oder eher liberal zu leben hat. Für beides gibt es gute Gründe. Und für beides gibt es schlechte Vorbilder. Für mich haben die „Christen in der AfD“ dieselbe Berechtigung wie die „Bundesarbeitsgemeinschaft Christ*innen bei Bündnis90/DIE GRÜNEN“. Egal jedoch, ob konservativ oder liberal, Jesus Christus, der Begründer des Christentums, hat klare und unmissverständliche Ansagen dazu gemacht, was den Umgang mit Gewalt und dem Mitmenschen angeht. Und an diesen Standards habe ich als Christ Maß zu nehmen, egal, ob ich mich als konservativ oder als liberal verorte.

Um diesen Standards auf die Spur zu kommen, langt ein Blick in das Neue Testament der Bibel, um genau zu sein in das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5 bis 7. Dort findet sich die sogenannte „Bergpredigt“. Diese dürfte wohl die Predigt von Jesus Christus mit der größten Strahlkraft und dem höchsten Verbreitungsgrad sein. Sie durchzieht vom ersten bis zum letzten Buchstaben ein Geist kompromissloser Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit. Gleich zu Beginn, in den Seligpreisungen, wird dort diese Richtung unmissverständlich klargemacht. So wird unter anderem den „Leid Tragenden“, den „Sanftmütigen“, den „nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden“, den „Barmherzigen“, den „Frieden Stiftenden“ und den „um der Gerechtigkeit Willen Verfolgten“ Seligkeit zugesprochen (Matthäus 5, 1-12). Dadurch hebt Jesus Menschen, die diese Eigenschaften aufweisen oder diesen Werten nachstreben, gleichzeitig auch als Menschen hervor, an deren Lebenswandel es sich zu orientieren lohnt. Im Weiteren scheint Jesus so etwas wie einen Wesenskern zu definieren, den jeder Einzelne von sich aus besitzt und der von seinem Gegenüber zu respektieren ist und nicht angerührt werden darf. Der Vergleich zur Menschenwürde drängt sich auf. Zumindest deute ich es in diese Richtung, wenn Jesus sagt, dass man sich seinem Bruder gegenüber nicht erst dann schuldig macht, wenn man ihn tötet, sondern bereits, wenn man ihn „nur“ mit Worten wie „Nichtsnutz oder Narr“ belegt. Dies verbindet er mit der Forderung, sich mit seinem Widersacher unverzüglich versöhnen (Matthäus 5, 21-26). Eines der stärksten Motive in der Bergpredigt jedoch ist die Aufforderung, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Es soll kein „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ geben, sondern, wenn einem auf die rechte Backe geschlagen wird, soll man auch die andere hinhalten, wenn einem der Rock genommen wird, soll man auch noch den Mantel geben und wenn man genötigt wird, eine Meile zu gehen, soll man zwei Meilen gehen (Matthäus 5, 38-41). Diese ganzen Forderungen gipfeln schließlich in der Aufforderung, die eigenen Feinde zu lieben und für die zu bitten, die einen verfolgen. Nur durch dieses Handeln beweist man sich als Kind Gottes. Und: Wenn man nur die liebt, die einen auch lieben oder nur zu seinen „Brüdern“ freundlich ist, was tut man da Besonderes (Matthäus 5, 43-48)? Auch im Weiteren wendet Jesus den Blick weg vom äußeren Feind, hin zum inneren Feind, wenn er sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Es soll nicht darum gehen, den „Splitter“ im Auge des Nächsten zu sehen, sondern den „Balken“ aus dem eigenen Auge zu entfernen (Matthäus 7, 1-5). Für den Umgang mit unseren Mitmenschen formuliert Jesus abschließend folgende Maßgabe: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7, 12). Ein Verhaltenskodex, der auch unter „Goldene Regel“ bekannt ist. Eine Forderung, die oberflächlich betrachtet erst einmal griffig und nett klingt. Taucht man jedoch tiefer in sie ein, realisiert man, dass sie ganz viel Achtsamkeit und Empathie erfordert. Denn es geht darum, die eigenen Bedürfnisse und auch die des Mitmenschen wahrzunehmen, zu ergründen, zu verstehen und zu respektieren. Das war jetzt ein exemplarischer Ritt durch die Bergpredigt von Jesus Christus. Es ließen sich in den Evangelien des Neuen Testaments der Bibel zahlreiche weitere Stellen mit einer identischen Zielrichtung finden.

Mir ist schon klar, dass eine friedfertige und gewaltlose Ausrichtung, wie Jesus sie fordert, in der Realpolitik, in der es in letzter Konsequenz immer um Macht geht, wohl nicht umzusetzen sein dürfte. Zu komplex sind realpolitische Zusammenhänge und zu eindimensional sind Jesu Forderungen. Mein Eindruck ist jedoch, dass es Jesus in der Bergpredigt gar nicht um einen Leitfaden für politisches Handeln gegangen ist, sondern um eine Orientierung für die Menschen, die ihm nachfolgen. Und diese Nachfolger von Jesus Christus sind nun mal die Christen. An sie richten sich seine Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit. Der einzelne Christ wiederum ist derjenige, der politisch aktiv werden kann. Und mein Blogartikel zeigt, dass es tatsächlich viele Christen sind, die politisch Einfluss nehmen und sich engagieren. Und wenn diese Christen sich zu allererst an Jesu Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit orientierten und nicht damit beschäftigt sind, sich krankmachenden Endzeitideen, apokalyptischen Wahnvorstellungen und paranoiden Feindbildern hinzugeben, könnte diese Welt ein besserer Ort sein. Ganz sicher wären uns solch verstörende und traumatisierende Ereignisse, wie ich sie in diesem Blogartikel beschreibe, dann erspart geblieben. Ich frage mich, wann die Christen, die diese Ereignisse (mit) zu verantworten haben, endlich anfangen, die Lehre ihres Religionsgründers, Jesus Christus, von dem sie ja schließlich vorgeben, ihm nachzufolgen, ernst zu nehmen?

Kabbalistischer Rosenkranz

PROLOG

In diesem Artikel begehe ich gleich zweimal denselben Fehler. Einen Fehler, den man als Autor tunlichst vermeiden sollte. Denn ich benutze zwei mächtige Wörter, die jeweils viele sehr unterschiedliche Bedeutungsebenen beinhalten, ohne vorher in ausreichender Weise zu definieren, was ich unter diesen Worten verstehe und wovon ich ausgehe, wenn sie verwende. Es sind die Worte „Kabbala“ und „Rosenkranz“.

Die Lehre der Kabbala und das Beten von Rosenkränzen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun und sind auch nicht wirklich miteinander zu vergleichen. Denn das Eine (Kabbala) ist eine Lehre im weitesten Sinne und das Andere (Rosenkranz) eine Gebetsform. Und beide sind bezüglich ihres Umfeldes, in dem sie jeweils praktiziert werden, sowie in den Fragen ihrer Ableitung und Herkunft zu unterschiedlich.

Und dennoch geschah es vor etwa zwei Jahren, dass für mich beides zusammenkam und fortan meinen spirituellen Weg bereichert. Denn seither bete ich den Rosenkranz auf kabbalistische Weise. Was das bedeutet, davon will ich in diesem Blogartikel erzählen. Doch vorher will ich versuchen, zumindest in ganz grober Weise zu umreißen, wie ich die Begriffe Kabbala und Rosenkranz nutze.

KABBALA UND ROSENKRANZ

Kabbala. Seit einigen Jahren mittlerweile nähere ich mich der Lehre der Kabbala an. Doch ist sie ein zu vielgesichtiges und ungreifbares Mysterium, als dass ich von mir behaupten könnte, sie auch nur ansatzweise erfasst zu haben. Ich ringe mit diesem Geheimnis und ich umtanze es. Mit jeder Tür, die es mich durchschreiten lässt, zeigt es mir drei neue Türen auf, die es zu durchschreiten gilt. Es lässt mich aufgehen in den Mysterien allen Seins und wirft mich radikal auf mich selbst zurück. In meinem Blogartikel „Lebensbaum“ hatte ich im Herbst 2019 den ersten Schritt gemacht, auf meinem Blog auch über die Kabbala zu schreiben. Seither arbeitet die Frage in mir, wie der nächste Schritt wohl aussehen könnte. Zu vielfältig sind die Dimensionen der Kabbala und folglich auch die Wege, sich ihr anzunähern.

Wenn ich mein Verständnis der Kabbala mit einem Satz umreißen sollte, würde ich sie am ehesten als spirituellen, zutiefst mystischen Initiationsweg hin zur Vereinigung mit meinem im Göttlichen liegenden Ursprung beschreiben. Das klingt jetzt erstmal wie eine wohlklingende Aneinanderreihung markiger Worte. Wie gesagt, ich bin auf meinem Blog noch nicht an den Punkt angelangt, mein Verständnis der Kabbala vollends ausbreiten zu können. Diejenigen jedoch, die selbst den Weg der Kabbala gehen, werden aus dem, was ich im Folgenden schreibe, herauslesen können, in welcher dieser zahllosen kabbalistischen Facetten ich mich verorte. Und die, die mit der Lehre der Kabbala nichts anfangen können, werden begreifen, warum ich ihr Attribute wie „spirituell“, „mystisch“ und „initiantisch“ zuordne.

Rosenkranz. Was das Beten eines Rosenkranzes angeht, bin ich absoluter Rookie. Diese kleinen Gebetskettchen üben jedoch aufgrund ihrer Beschaffenheit seit jeher eine Faszination auf mich aus. In die Idee allerdings, die dahinter steht und wie man mit diesen Kettchen ordnungsgemäß betet, bin ich bestenfalls oberflächlich eingestiegen.

Kurz beschrieben handelt es sich bei einem Rosenkranz um ein Kettchen mit 54 (Holz-) Perlen, die in einem geschlossenen Kreis angeordnet sind. Am unteren Ende dieser Kette befindet sich ein Bändchen mit 5 weiteren (Holz-) Perlen, das durch ein Kruzifix abgeschlossen wird. Im Übergangsbereich von der Kette zum Bändchen kann sich auch noch ein Bild von Jesus Christus oder der Heiligen Jungfrau Maria befinden. Jede der Perlen hat eine Bedeutung; entweder ein Gebetswort oder einen Gebetssatz. Derjenige, der einen Rosenkranz betet, lässt Perle für Perle durch seine Finger gleiten und spricht für jede Perle das jeweilige Wort oder den jeweiligen Satz, der mit dieser Perle verknüpft ist. Dies kann innerlich geschehen oder durch akustisch wahrnehmbares Aussprechen. Das Rosenkranzgebet kann heute als die weit verbreitetste Gebets- und Andachtsform innerhalb der Katholischen Kirche angesehen werden. Inhaltlich ist diese eng mit der Heiligen Jungfrau Maria, Jesus Christus sowie dem christlichen dreieinigen Gott verbunden.

EIN INITIANTISCHES GEBET

Im Folgenden will ich nun beschreiben, wie diese Form des kabbalistischen Betens eines Rosenkranzes konkret ausgestaltet ist. Hierbei gibt es zwei Elemente, die für mich essentiell sind. Das Eine ist der Gottesname „JHWH“ und das Andere der kabbalistische Lebensbaum, der „Seohirothbaum“.

Der Gottesname JHWH. Mein gesamtes Rosenkranz-Gebet ist von diesem Gottesnamen durchzogen und auf ihn ausgerichtet. Der Name JHWH begegnet uns erstmalig im Alten Testament der Bibel, in 2. Mose 3, 14. Dort stellt sich Gott als JHWH, der „Ich bin“ oder der „Ich bin der ich bin“ vor. Interessant an diesem Namen ist, dass er Gott als etwas Seiendes und Allumfassendes beschreibt, das sich jedem Versuch, es zu definieren oder zu kategorisieren entzieht. Dadurch, dass dieser Name ohne Vokale geschrieben wird, spricht man ihn mit jedem Atemzug aus: „JH“ beim Einatmen und „WH“ beim Ausatmen. Alleine durch unser Da-Sein sind wir also schon aufs Tiefste mit diesem Namen verbunden, ohne dass wir irgendetwas dafür tun müssten. Und unabhängig davon, ob wir darum wissen. Im Frühjahr 2015 bereits widmete ich dem Gottesnamen „JHWH“ meinen Blogartikel „Mein Weg ins Auge des Sturms„.

Der Sephirothbaum. Hierbei handelt es sich um eines der zentralen Symbole der Kabbala. In diesem sind sämtliche kabbalistische Wege und Gesetzmäßigkeiten abgebildet. Der Sephirothbaum besteht aus zehn Sephiroth, die in einer bestimmten Weise zueinander angeordnet sind. In dieser Anordnung der Sephiroth schlummern nahezu unzählige Bedeutungsdimensionen und Möglichkeiten, diese zu lesen und sich zu erschließen. Die Dimension, die für mein Rosenkranz-Gebet relevant ist, ist folgende: Die Sephiroth sind in der Art und Weise übereinander angeordnet, dass man sie unter anderem als drei nebeneinander stehende Säulen erkennen kann. Die linke und die rechte Säule bilden sich jeweils aus drei Sephiroth und stehen in polaren und dualistischen Spannungsverhältnissen zueinander. Die mittlere Säule, die sich aus vier Sephiroth bildet, steht für den Ausgleich von Dualismus und Polarität. Und um diese mittlere Säule geht es mir. Wenn ich meinen kabbalistischen Rosenkranz bete, visualisiere ich mir innerlich den Sephirothbaum und bewege mich von unten nach oben durch die Sephiroth dieser mittleren Säule.

DER ABLAUF DES GEBETS

Wie oben erklärt, ist der praktische Ablauf, wenn ich meinen kabbalistischen Rosenkranz bete, jede einzelne Perle des Rosenkranzkettchens durch meine Finger gleiten zu lassen und innerlich das auszusprechen, was ich mit der jeweiligen Perle verknüpft habe. Und weil der Gottesname JHWH, der das zentrale Element meines Rosenkranz-Gebets darstellt, mit dem Atem eines jeden Einzelnen verbunden ist, habe ich auf jede Perle des Rosenkranzkettchens kein ganzes Wort oder gar einen kompletten Satz gelegt, sondern jeweils nur eine Silbe. Dies hat den Effekt, dass ich mit jeder ungeraden Perle einatme und mit jeder geraden Perle ausatme. Es ist folglich mein Atem, der mich durch das Rosenkranz-Gebet leitet. Diese Logik durchbreche ich lediglich bei zwei Perlen, bei denen ich jeweils einen kompletten Satz spreche. Hier war es mir aus intuitiven Gründen wichtig, die gesamte Bedeutung, die diese Sätze in sich tragen, vollständig in die jeweilige Perle zu legen und nicht aufzusplitten. Dadurch verweile ich jeweils drei Atemzüge lang bei diesen zwei Perlen.

Wie dargelegt, durchschreite ich auf der Ebene der Visualisierung im Zuge des Rosenkranz-Gebets die mittlere Säule des kabbalistischen Sephirothbaumes von unten nach oben. Hierbei werden die (gesprochenen) Worte von Sephira zu Sephira weniger. Bis am Ende nur noch der Gottesname JHWH bleibt, den ich (ein- und aus-) atme…

Doch genug der Erklärungen und Hinführungen, kommen wir zum praktischen Ablauf meines Rosenkranz-Gebets. Dieser sieht wie folgt aus:

1. Perle: „Ich“
2. Perle: „bin“
3. Perle: „der“
4. Perle: „ich“
5. Perle: „bin“

In den ersten fünf Perlen durchschreite ich die deutsche Übersetzung des Gottesnamen JHWH. Und zwar Wort für Wort. Hierbei bete ich pro Perle jeweils ein Wort dieses Namens.

6. Perle: „Ja“
7. Perle: „kin“
8. Perle: „Er hat mich erschaffen“

9. Perle: „Bo“
10. Perle: „as“
11. Perle: „In ihm liegt meine Kraft“

Den nächsten sechs Perlen widme ich dem Namen „Jakin“ (oder auch: „Jachin“) und dem Namen „Boas“. Beide Namen entstammen dem Alten Testament der Bibel und bezeichnen die rechte und die linke Säule des Salomonischen Tempels (vergleiche 2. Chronik 3, 17). Im Ritual des christlichen Freimaurerordens, dem ich angehöre, spielen diese Säulen eine wichtige Rolle. Hier wird der Säule Jakin noch die Bedeutung „Er (Gott) hat mich erschaffen“ und der Säule Boas die Bedeutung „In ihm (Gott) liegt meine Kraft“ beigemessen.

Die innere Dynamik der Bedeutung von Jakin („Gott hat mich erschaffen“) ist die der göttlichen Emanation. Das Göttliche hat seine göttliche Ur-Heimat verlassen und ist in die Materie emaniert. Dies beschreibt einen Schöpfungsvorgang. Am Ende dieses Schöpfungsvorganges steht zunächst meine Zeugung und schließlich mein Geboren-Werden. Ich bin geboren worden beziehungsweise habe (materielle) Gestalt angenommen, als das Göttliche eine Verbindung mit der Materie einging.

An dieser Stelle imaginiere ich die unterste Sephira des Sephirothbaumes, „Malkuth“. Die Sephira Malkuth steht unter anderem genau dafür: Für die Schöpfung, in die das Göttliche emaniert ist. Daher widme ich dem Satz „Er hat mich erschaffen“ in meinem Rosenkranz-Gebet eine eigene Perle.

Die innere Dynamik der Bedeutung von Boas („In ihm liegt meine Kraft“) ist die Hinwendung zum Göttlichen, das Ausrichten auf das Göttliche und der erste Schritt auf dem Weg hin zur Wiedervereinigung mit dem eigenen göttlichen Ursprung.

An dieser Stelle imaginiere ich die Sephira „Yesod“. Diese folgt von unten aus gesehen in der mittleren Säule des Sephirothbaumes auf die Sephira „Malkuth“. In vielen Auslegungen der Kabbala repräsentiert sie unter anderem das Unterbewusste und Unbewusste. Ein Hinweis darauf, dass der, der aufbricht zur Wiedervereinigung mit seinem eigenen göttlichen Ursprung, sich zunächst seinen eigenen dunklen, schwachen und verdrängten Anteilen stellen und diese durchschreiten muss. Aus diesem Grund widme ich dem Satz „In ihm liegt meine Kraft“ in meinem Rosenkranz-Gebet ebenfalls eine eigene Perle.

12. Perle: „Ich“
13. Perle: „bin“
15. Perle: „der“
15. Perle: „ich“
16. Perle: „bin“

Hiernach durchschreite ich in den nächsten fünf Perlen erneut Perle für Perle und Wort für Wort die deutsche Übersetzung des Gottesnamen JHWH.

17. Perle: „Je“
18. Perle: „sus“

19. Perle: „Chris“
20. Perle: „tus“

Den hierauf folgenden vier Perlen widme ich dem Namen „Jesus Christus“. Diese beiden Namen finden ihren Ausdruck in dem Mysterium, das im Christentum seit vielen Jahrhunderten mit der Formulierung „Wahrer Mensch und wahrer Gott“ umschrieben wird. „Jesus“ steht hierbei für den Fleisch gewordenen Gott. Gottes eingeborener Sohn, der als Mensch unter Menschen wandelte. „Christus“ steht hierbei für das Bewusstsein, aus dem dieser Jesus lebte. Es ist das Bewusstsein, auf einer tieferen Ebene eins mit dem Göttlichen zu sein und verbunden mit allem Lebenden. Es ist das Bewusstsein, das göttliche Erbe, den göttlichen Lichtfunken stets in sich zu tragen. Und es ist das Bewusstsein, dass eine alles umfassende und jeden einschließende göttliche Liebe die Kraft ist, die alles durchströmt und trägt.

An dieser Stelle imaginiere ich die Sephira „Tiferet“. Tiferet folgt in der mittleren Säule des Sephirothbaumes auf die Sephira „Yesod“ und stellt den Mittelpunkt des Lebensbaumes dar. Es ist der Punkt, an dem göttliche und materielle Sphäre in Ausgleich und Einklang sind. Das gilt auch für die Kräfte des Lebens, die sich von außen betrachtet polar und dualistisch gegenüber zu stehen scheinen. Tiferet wird oft als Sitz dessen beschrieben, was spirituelle Lehrer wie der Franziskaner-Pater Richard Rohr als das eigene „Wahre Selbst“ beschreiben. Es ist die Entfaltung und der Ausgleich dieser beiden scheinbar so gegensätzlichen Naturen – Jesus und Christus.

21. Perle: „Ich“
22. Perle: „bin“
23. Perle: „der“
24. Perle: „ich“
25. Perle: „bin“

Anschließend durchschreite ich in den nächsten fünf Perlen wieder Perle für Perle und Wort für Wort die deutsche Übersetzung des Gottesnamen JHWH.

26. Perle: „JH“
27. Perle: „WH“

Abschließend widme ich die letzten beiden Perlen dem Gottesnamen JHWH. Zu diesem Gottesnamen habe ich weiter oben bereits alles geschrieben, was aus meiner Sicht für dieses Rosenkranz-Gebet relevant erscheint.

An dieser Stelle imaginiere ich die Sephira „Kether“. Dies ist die nach oben hin abschließende Sephira im Sephirotbaum und folglich die Vollendung des initiantischen Weges der Vereinigung mit dem eigenen göttlichen Ursprung. Von oben aus betrachtet ist es wiederum die erste und damit reinste, konzentrierteste und vollkommste Emanation des Göttlichen. Denn die Sephira Kether ist nicht nur der Abschluss des eigenen initiantischen Weges, sondern gleichzeitig auch der Beginn der Emanation des Göttlichen in diese Welt. Es kommt ganz darauf an, in welche Richtung der Seohirothbaum gelesen wird.

Hiernach beginne ich das Rosenkranz-Gebet in der beschriebenen Weise aufs Neue. Wenn ich dieses Gebet zweimal vollendet habe, habe ich die Rosenkranz-Kette einmal komplett „durchgebetet“.

DAS NACKTE GEBET

So, und nun nimm doch mal alle Erklärungen beiseite, die ich Dir zu diesem Rosenkranz-Gebet und seinen Hintergründen geliefert habe. Schalte ganz bewusst mal Deinen alles erklären und verstehen wollenden Verstand aus und bete dieses Gebet. Und anschließend spüre in Dich hinein, welche Resonanz es in Dir auslöst…

1. Perle: „Ich“
2. Perle: „bin“
3. Perle: „der“
4. Perle: „ich“
5. Perle: „bin“

6. Perle: „Ja“
7. Perle: „kin“
8. Perle: „Er hat mich erschaffen“

9. Perle: „Bo“
10. Perle: „as“
11. Perle: „In ihm liegt meine Kraft“

17. Perle: „Je“
18. Perle: „sus“

19. Perle: „Chris“
20. Perle: „tus“

21. Perle: „Ich“
22. Perle: „bin“
23. Perle: „der“
24. Perle: „ich“
25. Perle: „bin“

26. Perle: „JH“
27. Perle: „WH“

Amen.

Warum Freimaurer?

2. TEIL DER SERIE: „FREIMAUREREI ALS LEBENSEINSTELLUNG“ (GASTBEITRAG)

Was bleibt vom Freimaurertum? Wenn man diese ganzen freimaurerischen Äußerlichkeiten, die Ämter und Grade, die Hierarchien und Institutionen, die Etikette und das Elitäre und den ganzen Habitus, der daraus erwächst, wegnimmt, was bleibt dann noch vom Freimaurertum übrig? Was ist die freimaurerische Lebenseinstellung, der freimaurerische Lebensweg hinter alledem? Was am Freimaurertum hat Bestand, wenn man hinter dessen äußere Fassaden blickt? Seit einigen Monaten begleiten mich ebendiese Fragen. Und ich habe keine abschließende Antwort darauf.

Daher wuchs die Idee in mir, ganz unterschiedliche Feimaurerinnen und Freimaurer zu bitten, ihre Antworten zu diesen Fragen aufzuschreiben und auf meinem Blog zu veröffentlichen. Sie alle eint, dass ich sie als tiefgründig und inspirierend erlebe. Einige von ihnen kenne ich aus meinem tagtäglichen Leben, mit anderen wiederum habe ich mich bislang nur virtuell ausgetauscht. Zu einigen verbinden mich tiefe geschwisterlich freundschaftliche Beziehungen, andere erlebe ich aus der Ferne. Doch ich bin sehr gespannt, was sie dazu zu sagen haben. Über das Jahr verteilt will ich ihre Antworten auf diese Fragen nach und nach auf meinem Blog einstreuen.

Der zweite Text stammt von Stefan Szych. Wie ich Stefan ist Freimaurer und nach Richard Rohr initiiert. Er ist mir Bruder, Freund und Weggefährte. Stefan ist 1965er Baujahr, verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und lebt im Hamburger Einzugsbereich. 2004 wurde er in die Johannisloge „Zur unverbrüchlichen Einigkeit“ des christlichen Freimaurerordens aufgenommen. Mittlerweile hat er die zehnte Erkenntnisstufe inne. Seit jeher engagiert Stefan sich sehr stark in den unterschiedlichen Abteilungen des Freimaurerordens. Beispielsweise ist er aktuell der wortführende Logenmeister (Ritualleiter) der Andreasloge „Concordia“ (Grad 4 bis 6) sowie „Bruder Redner“ in seiner Johannisloge (Grad 1 bis 3) und in seinem Ordenskapitel „Inviolabilis“ (Grad 7 bis 10). 2016 durchlief er die Männerinitiation nach Richard Rohr.

WARUM FREIMAURER?

Als Hagen mich vor ein paar Monaten fragte „Was ist Freimaurerei für Dich?“, war die Antwort klar: Lebenspraxis nicht Hobby

Warum?

Dazu muss ich etwas ausholen. Macht es euch also bequem und folgt mir durch mein freimaurerisch-spirituelles Leben.

Ein Hobby übt man aus, wenn es die Zeit zulässt. Freimaurerei ist immer. Sprich, sie beeinflusst alles, was ich tue. Und wenn ich mal nicht maurerisch handele, meldet sie sich irgendwann wieder als jene innere Stimme, die mir zuflüstert „War das jetzt ok so?“

Das war nicht immer so, denn geboren bin ich als Profaner. Niemand wird als Freimaurer geboren.

Dabei lernte ich, wie ich im Nachhinein feststelle, den ersten Freimaurer in meiner Familie kennen: Mein Opa. Er kein echter Freimaurer, lebte aber wie einer. Er war friedlich, ausgleichend, liebevoll und ein Mann, der Kompromisse mehr schätzte als die bedingungslose Konfrontation. In Glaubensfragen konnte er bestimmt sein, ohne jedoch Dogmen anzuhaften. Er war Calvinist, seine Frau katholisch. Probleme im Glauben? Nie. Die Form war egal, der Inhalt zählte.

Den nächsten Freimaurer traf ich als Reporter im Niedersächsischen Landtag: Er war ein harter Hund in der Politik, Fraktionschef, Wadenbeißer, aber nie ehrabschneidend. Dass er Freimaurer war, erfuhr ich erst, als ich selbst aufgenommen worden war.

In meiner tiefsten Krise, als ich arbeitslos war, fand ich die ersten Bücher des Franziskaners Richard Rohr. Sie nahmen mich sofort gefangen und ich machte mich auf die Suche nach einer Männergruppe. Es sollte eine Gruppe sein, in der ich mich mit Männern über Männerthemen austauschen konnte.

Nein, nicht eine dieser Auto- und Fußballgruppen. Es sollte um mich und meine Gefühle, meine Ängste aber auch Hoffnungen gehen.

Auf der Suche nach so einer Männergruppe fand ich zunächst eine Opfer-Gruppe. Vier Männer, die sich abwechselnd bei einem der Mitglieder trafen und redeten. Dabei war „reden“ war das falsche Wort: Sie suhlten sich in ihrem Leiden, ihrem Selbstmitleid und den Ungerechtigkeiten dieser ach so harten Welt, in der sie sich von allen herumkommandiert fühlten: Von den Chefs, den Umständen, ihren Frauen und Kindern. Nach zwei Treffen war für mich Schluss.

Es sollte zwei weitere Jahre dauern, bis ich den dritten Bruder traf. Es war ein Kollege, der sich mir offenbarte und mich dann eineinhalb Jahre auf die Aufnahme vorbereitete – arbeitsbegleitend sozusagen. Er wurde mein Pate, begleitete mich durch die ersten Jahre des Logenlebens intensiv und auch heute noch.

Was zeichnet diese Drei Männer aus?

Sie lebten, was sie lehrten.

Und alle drei waren es gläubige Männer, die kein Tamtam um ihren Glauben machten, sondern ihn in sich trugen, verwurzelt, ihn lebten wie das Atmen.

Nach meiner Aufnahme suchte ich meinen Platz in der Loge, durchlebte als Geselle die freimaurerische Pubertät, denn nach der ersten Aufnahme in einen neuen Grad wusste ich natürlich alles besser als die Brüder, die seit 30 Jahren und mehr Jahren Freimaurer waren.

Langsam fand ich meinen Platz, wurde Redner und erarbeitete mir, während ich die Vorträge für die Loge schrieb, mein Wissen über die Freimaurerei.

Es sollte zehn Jahre dauern bis bei mir der Groschen fiel: Nach einer gescheiterten Wahl zum Logenmeister erlebte ich eine tiefe Krise mit Zweifeln an mir, der Freimaurerei, den Brüdern, ja selbst an meinem Paten, der meine Wahl aktiv behindert hatte.

Ich dachte an Austritt.

Doch jede Niederlage trägt ihre Lehre in sich.

Denn parallel hatte ich mich mit einem Bruder, mit dem ich mich monatelang heftig gestritten hatte, ohne Aussprache versöhnt. Vergebung ist eine starke Macht, erfuhr ich aus dieser heilenden Begegnung. Und so wandte ich diese beglückende Erfahrung nach monatelangem Hadern mit mir und den Umständen in der Loge auch auf mein „Schicksal“ in der Loge an. Es folgte eine Aussprache mit dem Konkurrenten, eine Versöhnung und eine jahrelange sehr fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit für die Loge.

Und so wuchs ich, wie ich im Nachhinein feststelle, in dieser Zeit immer tiefer in die Freimaurerei hinein. Das erkannten offenbar andere Brüder und wählten mich ein Jahr nach meiner Krise zum Wortführenden Andreasmeister, also zu einem Logenmeister der zweiten Abteilung unserer Lehrart.

So ein Logenmeister wird immer vom obersten Beamten der Großloge eingesetzt und so kam es zu jenem denkwürdigen Tag: Der Landesgroßmeister rief mich im Tempel zu sich, ich kniete nieder für die Einsetzung – und war plötzlich in einer anderen Welt:
Es gab nur noch ihn, den Dreifach Großen Baumeister, und mich. Die Verbindung zwischen dem Bruder und mir war so intensiv, so vertraut, so selbstverständlich, dass ich dafür den Begriff „Initiation“ verwende.

Und es gab ein „Mehr“ als nur uns drei. Da war mehr als dieser Ort, dieser Raum, diese Stelle. Es war ein geheiligter Moment. Ich begriff, dass hier mehr geschah, als die offensichtliche Handlung. Ich wurde verwandelt, nicht heilig, nicht besonders. Nein, in mir wurde eine Tür aufgeschlossen, ein Vorhang beiseite gezogen, Licht auf den Weg geworfen…

Parallel las ich weiter die Bücher von Richard Rohr. Und ich ging noch einen Schritt weiter: Im Jahre 2016, zwölf Jahre nach meiner Aufnahme zum Freimaurer, wurde ich nach dem Ritual von Richard Rohr (MROP – Mens Rites of Passage) in Österreich initiiert.

Und dieses Ritual verbunden mit der jahrelangen Lektüre von Richards Büchern und den Erfahrungen aus der Freimaurerei, wirkten wie ein Brandbeschleuniger. Ich lebte plötzlich in einer Klarheit, einer Konsequenz, die mir fast schon unheimlich war.

Nein, ich bin nicht perfekt, ich bin kein Heiliger, nicht einmal fast. Ich bin immer noch auf der Suche, mache Fehler, versage, gehe Umwege oder in Sackgassen.

Aber ich kenne den Weg, weiß wie ich diese Suche möglichst sinnvoll und gottverbunden gestalten und wieder zurückfinden kann. Wenn ich mich verirre.

Ich erkannte in mir, dass es nicht um richtig oder falsch geht, sondern um das demütige Anerkennen dessen, was ist. Nicht fatalistisch oder resignierend, sondern heilend, und erleichternd:

Es ist hart ein Mensch zu sein, aber ich trage das, was ich tragen kann und soll.
Ich bin nicht wichtig, aber mein Name ist bei IHM notiert.
In diesem Leben geht es nicht um mich, jedoch ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern der Obermeister lebt in mir.
Ich habe nicht die Kontrolle, aber wer kann schon sein Leben um eine Handbreit verlängern?
Es stimmt: Ich werde sterben, aber nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes.

Kurz gesagt:

Freimaurerei hat mich auf den spirituellen Pfad meines Lebens geführt.
Dem gebe ich mich hin – als Mann, Ehemann, Vater, Kollege und Bruder – als ganzer Mensch.

Menschsein ist kein Hobby, es ist Lebenspraxis.

Was macht das Freimaurer-Sein aus?

1. TEIL DER SERIE: „FREIMAUREREI ALS LEBENSEINSTELLUNG“ (GASTBEITRAG)

Was bleibt vom Freimaurertum? Wenn man diese ganzen freimaurerischen Äußerlichkeiten, die Ämter und Grade, die Hierarchien und Institutionen, die Etikette und das Elitäre und den ganzen Habitus, der daraus erwächst, wegnimmt, was bleibt dann noch vom Freimaurertum übrig? Was ist die freimaurerische Lebenseinstellung, der freimaurerische Lebensweg hinter alledem? Was am Freimaurertum hat Bestand, wenn man hinter dessen äußere Fassaden blickt? Seit einigen Monaten begleiten mich ebendiese Fragen. Und ich habe keine abschließende Antwort darauf.

Daher wuchs die Idee in mir, ganz unterschiedliche Feimaurerinnen und Freimaurer zu bitten, ihre Antworten zu diesen Fragen aufzuschreiben und auf meinem Blog zu veröffentlichen. Sie alle eint, dass ich sie als tiefgründig und inspirierend erlebe. Einige von ihnen kenne ich aus meinem tagtäglichen Leben, mit anderen wiederum habe ich mich bislang nur virtuell ausgetauscht. Zu einigen verbinden mich tiefe geschwisterlich freundschaftliche Beziehungen, andere erlebe ich aus der Ferne. Doch ich bin sehr gespannt, was sie dazu zu sagen haben. Über das Jahr verteilt will ich ihre Antworten auf diese Fragen nach und nach auf meinem Blog einstreuen.

Den Anfang dieser Serie macht ein Freund und Freimaurer-Bruder aus meinem persönlichen Umfeld, dem ich mich spirituell auf tiefe Weise verbunden weiß. Im April 2000 war er in die erste Erkenntnisstufe des christlichen Freimaurerordens aufgenommen worden und befindet sich mittlerweile seit einigen Jahren in der zehnten Erkenntnisstufe. Darüber hinaus möchte er keine weiteren Informationen über sich preisgeben. Ein Wunsch, den ich respektiere und dem gerne nachkomme.

WAS MACHT DAS FREIMAURER-SEIN AUS?

Die kleine Geschichte soll ein Einstieg sein:
Ein Mann blieb bei regnerischer Nacht mit seinem Auto liegen. Ein anderer hielt und nahm ihn mit zu sich nach Hause, organisierte den Transport des Autos in eine Werkstatt und gewährte dem Liegenbleiber kostenlos Logis bis zur Reparatur des Autos. Sie hatten viele und gute Gespräche. Dabei stellten sie fest, dass sie beide Freimaurer waren. Zum Abschied fragte der unfreiwillige Gast seinen Gastgeber: „Hast du das alles für mich getan, weil ich Freimaurer bin?“ Die Antwort: „Nein, ich habe das getan, weil ich Freimaurer bin.“

Der Weg des Freimaurers leistet im wesentlichen dreierlei:
1. unterstützt er die persönliche Entwicklung jedes einzelnen
2. bietet er im Leben Orientierung, einen Kompass für das eigene Verhalten
3. ist er darauf angelegt, dass man diesen Weg in Gemeinschaft geht.
Die beiden ersten Aspekte werden aus drei Wurzeln gespeist:
– eine historische
– eine ethische
– eine spirituelle Komponente
Nicht nur bei den einzelnen Lehrarten sind diese Aspekte unterschiedlich gewichtet, sondern auch jeder einzelne Bruder wird aus diesen Quellen in unterschiedlichen Anteilen schöpfen.

Was ist damit gemeint? Lessing hat geschrieben: „Freimaurerei war immer“. Ähnliche Rituale wie bei uns finden sich in vielen zum Teil uralten Einweihungszeremonien. Unsere Gebräuche speisen sich aus Quellen, die schon im alten Ägypten und noch früher praktiziert wurden. Freimaurer, die sich gerne in der Linie unserer Vorfahren verorten, betonen, dass die Tempelritter und auch der Benedektinerorden über das gleiche Wissen verfügten, wie die moderne Freimaurerei. Es gibt eine Linie von den Tempelrittern über die Bauhütten der Gotik bis hin zu unseren Ritualen. Allerdings ist diese Linie meines Erachtens wissenschaftlich noch nicht abschliessend belegt.

In jedem Fall spürt der sich an der Historie orientierende Bruder sich einer größeren Kraft verbunden. Aus der Gewissheit, in einer guten Tradition zu stehen, bekommt er Vorbilder. Seien es die Gebräuche der Tempelritter oder die großen Geister, die auch Freimaurer waren: zum Beispiel Goethe, Mozart oder auch preußische und österreichische Kaiser.

Zum zweiten erhält der Bruder ethische Leitlinien für sein Leben und hat damit Entscheidungshilfen und Verhaltensklarheit. Zum Beispiel durch die Tugenden, die im Lehrgebäude der Freimaurerei thematisiert werden und auch durch brüderliche Gespräche. (An dieser Stelle sei betont, dass die Freimaurerei keinerlei Dogmen beinhaltet. Jeder ist frei, aus dem Schatz der Lehre oder dem Kontakt mit anderen Brüdern das Seine zu nehmen). Die Tugenden, die in unserer Lehre angesprochen werden, sind ein Angebot. Der Bruder ist aufgefordert sich damit auseinander zu setzen.

Was heißt es zum Beispiel in seinem Leben das richtige Maß zu finden? Ich orientiere mich sehr gerne an dem Entwicklungsquadrat nach Schulz v.Thun. Es basiert auf der Annahme, dass jede Tugend eine ausgleichende Schwestertugend braucht, damit sie nicht in eine negative Übertreibung kippt. Z.B. braucht die Sparsamkeit die Schwestertugend Großzügigkeit, weil sie sonst Gefahr läuft zum Geiz zu werden. Die Großzügigkeit alleine könnte zur Verschwendung werden. Unsere Zusammenkünfte erinnern mich auch immer wieder daran in allen Dingen Einseitigkeiten, Extreme zu vermeiden.

Drittens erwächst ihm große Kraft daraus, dass er eine Idee entwickeln wird,
– woher er kommt und in dieses Leben gestellt ist.
– wer er ist und wie er von der Schöpfung gedacht ist.
– wohin er nach diesem Leben geht.
Daraus erwächst ein großes Vertrauen in das Leben und darin, in diesem Leben gut aufgehoben zu sein. In der Freimaurerei wird man sich nur wohl fühlen, wenn man daran glauben kann, dass es eine schöpferische, gestaltende Kraft im Universum gibt. Dem einzelnen wird die Freiheit gelassen, selbst zu entscheiden, wie er sich das vorstellt und wie er es nennt (Gott, Evolution, etc.).

Bei uns, in der christlichen Freimaurerei, halten wir darüber hinaus die Lehre Jesu Christi für richtig. Auf den Kern gebracht heißt es für mich: Das dreifache Liebesgebot (liebe Gott, liebe deinen Nächsten, liebe dich selbst) zu befolgen (jedenfalls mich darum zu bemühen).

Bei entsprechendem Glück wird ein Freimaurer das Geheimnis des Lebens erkennen, nicht mit deinem Verstand, sondern durch Erleben im Ritual. So ausgerüstet wird er dem Leben und seinen Mitmenschen anders begegnen. Unser Ritual bildet einen festen Rahmen. Gefüllt wird er durch das Gemeinschaftsleben. Erst in der Begegnung mit den Brüdern, im Austausch über das Erlebte kommt unsere Lehre zur vollen Anwendung. Niemand ist alleine unterwegs. Ich mag besonders gerne das Bild: „Leben einzeln und frei, wie ein Baum und dabei, brüderlich wie ein Wald.“ (H. Wader)