
Kreuzgang

Freitag, der 13.10.2017 war für mich persönlich ein ganz besonderer Tag. Es war der 710. Jahrestag der gewaltsamen Auflösung des Tempelritterordens. Und an diesem Tag haben wir einen Suchenden (einen Nicht-Freimaurer, der Freimaurer werden will), den ich als Paten begleite, im Rahmen einer rituellen Tempelarbeit in unsere Johannisloge „Carl zum Felsen“ aufgenommen. Das heißt, dass ich ihn auf seinem Weg ins Freimaurertum hinein und auch auf seinem Weg durch die ersten drei Johannisgrade des Freimaurertums im ganz besonderen Maße begleite und beistehe.
Wie der Zufall (sofern es ihn denn gibt) es so wollte, war ich an diesem Tag dran, im Rahmen dieser Tempelarbeit auch den Vortrag zu halten. Einen Vortrag, den ich ganz persönlich auf den Suchenden zuschneiden konnte und für den ich anschließend sehr positives Feadback erhalten habe. Daher will ich auf meinem Blog mal etwas Neues wagen und diesen Vortrag hier unverändert veröffentlichen (ich habe lediglich die Personalien des Suchenden durch „xxx“ ersetzt):
„Es hat Hände, die beschützen,
Hände, die heilen.
Was es sagt, ist unaussprechlich,
es lebt zwischen den Zeilen.
Es erträumte diese Welt,
ist Erbauer und Zerstörer.
Es ist der Atem allen Atems,
es bringt den Tod, doch ist kein Mörder.
Es nimmt Dich mit auf Reisen
in den Weltraum Deiner Seele.
Es lässt Dich nach Dir suchen,
lässt uns spüren, dass wir leben.
Es kennt jedes Geheimnis,
es redet, doch bleibt stumm,
es enthüllt nicht seine Wahrheit,
es bleibt Mysterium.“
Hochwürdiger Meister,
würdige und geliebte Brüder,
lieber Bruder xxx!
Die Zeilen, die ich gerade vorgelesen habe, kennst Du wahrscheinlich bereits. Sie stammen aus der Feder der Rockband „Böhse Onkelz“. Doch wovon singen sie, wenn sie Worte benutzen wie „Es ist der Atem allen Atems“, „Es nimmt Dich mit auf Reisen in den Weltraum Deiner Seele. Es lässt Dich nach Dir suchen, lässt uns spüren, dass wir leben“ oder „Es redet, doch bleibt stumm“, „Es bleibt Mysterium“?
Ich glaube, die Böhsen Onkelz versuchen da etwas in Worte zu fassen, was viel zu groß und viel zu umfassend ist, als dass man es mit Worten beschreiben könnte. Etwas, das mit dem Kopf nicht verstanden werden kann, sondern erlebt werden muss. Ich würde es als „Mysterium des Lebens“ umschreiben. „Das große Geheimnis des Lebens“.
Interessanterweise verfügten alle alten, vorinstitutionellen Kulturen über archaische Initiationsriten für ihre jungen Männer. Eine Aufgabe dieser Riten war es, den jungen Mann in genau dieses große Mysterium des Lebens einzuweihen.
Auch das, was Du, lieber xxx, hier heute erlebt hast, ist ein Initiationsritus. Du bist eingeweiht worden. Und das in zweierlei Weise. Zum einen bist Du aufgenommen worden in den christlichen Freimaurerorden. Zum anderen hast Du den ersten Schritt gemacht auf einem Initiationsweg, der sich über zehn Grade erstreckt. Ich gebe zu, man muss lange suchen, um zu den archaischen Wurzeln Deiner heutigen Initiation zu gelangen. Denn der Aufnahmeritus in den Freimaurerorden ist sehr gezähmt, sehr geordnet und mit Symbolik nahezu überfrachtet.
Als ich aufgenommen worden war, war ich ein wenig enttäuscht. Denn das rituelle Erleben hatte ich nicht als so mächtig erlebt, wie die Brüder es mir auf den Gästeabenden immer vorgeschwärmt hatten. Und dann war ich etwas überfordert von dieser Flut an Zeichenhandlungen und Symbolen, die da über mich hereingebrochen war. Ich fühlte mich, als säße ich vor einem großen Haufen Fragezeichen. Es waren eher einzelne, kleine Momente meiner Aufnahme, die mich berührt hatten und in mir noch nachklingen sollten.
Ich weiß nicht, lieber xxx, wie es Dir gerade geht. Nimm Dir Zeit, um das, was heute mit Dir passiert ist, sacken zu lassen. Bist Du enttäuscht von Deiner Aufnahme? Bist Du tief bewegt? Oder weißt Du noch gar nicht, wie Du Dich fühlen sollst? Das alles ist in Ordnung. Jede Emotion hat ihre Berechtigung.
Eine uneingeschränkte Zusage kann ich Dir allerdings machen: Egal wie Du Dich fühlst und egal, was Du auch fühlst: Ab heute bist Du Teil des christlichen Freimaurerordens. Das kann Dir keiner mehr nehmen. Punkt. Ich betone ganz bewusst, dass Du in einen Orden aufgenommen worden bist. Das hier ist kein humanistischer Philosophier-Club. Das hier ist ein geistlich-spiritueller Orden. Und dieser steht auf dem Fundament der Lehre Jesu Christi, wie sie im neuen Testament der Bibel überliefert ist und wie man sie auch im apokryphen Thomasevangelium wiederfindet.
Wenn Du diese Idee des „christlichen Ordens“ bis zu ihren Wurzeln zurückverfolgst, wirst Du irgendwann auf die christlichen Mönchsorden im Zeitalter der Romanik stoßen. Insbesondere der Orden der Benediktiner ist hier hervorzuheben. Denn unter anderem dieser Orden war es, der damit begann, sakrale Kloster-Bauten zu errichten. Und aus diesen bauenden Mönchen gingen schließlich die Bauhütten hervor, die die Sakralbauten des Mittelalters erschufen. Und von diesen wiederum hat das Freimaurertum einen Großteil seiner Bilder und Symbole übernommen.
Der andere Orden, auf den Du stoßen wirst, ist der Tempelritterorden. Der Logenmeister deutete dies an, als er Dich zum „Freimaurer-Ritter“ aufnahm. Es ist der Orden, der aus Mönchs-Rittern bestand. Dessen Anfänge eng mit dem salomonischen Tempel in Jerusalem verknüpft sind. Und exakt heute vor 710 Jahren ist er auf hinterhältige Weise vernichtet worden. Du, lieber xxx, warst es, der mich auf diese Bedeutung, die dem heutigen Tage innewohnt, aufmerksam machtests, als wir uns über Deine Aufnahme unterhielten. Und ich kann Dir versprechen: Je höher Du in den Graden des Freimaurerordens aufsteigst, desto mehr wird sich auch die Idee der christlich-spirituellen Ritterschaft des Templerordens herausbilden.
Doch jetzt bist Du im Grad des Johannislehrlings. Vergleicht man den christlichen Freimaurerorden mit besagten Mönchs- und Ritterorden, so hat für Dich heute Deine Zeit als Novize begonnen. Das heißt: Ordne Dich unter. Beobachte. Und stelle Fragen. Sei offen und lerne. Nutze den Grad des Johannislehrlings als Dein persönliches Noviziat. Lerne ein Lernender zu sein. Und bewahre Dir diese Fähigkeit für den Rest Deines Lebens.
Zwei Sachen sind von nun an besonders wichtig auf Deinem Weg: Das freimaurerische Ritual und die freimaurerische Literatur dazu. Das Ritual soll Deine emotional-intuitive Seite berühren und die Literatur Deine rational-verstandesgemäße. Herz und Verstand. Oder Gewissen und Vernunft, wie es hier im Ritual genannt wird. Nur, wenn Du auch diese beiden Seiten bedienst, wirst Du freimaurerisch wachsen.
Daher: Besuche das Ritual. Zunächst wird es sich noch ungewohnt, fremd und unsicher anfühlen. Doch mit zunehmender Dauer wirst Du in diesem Ritual ankommen und Dich in diesem Ritual heimisch fühlen.
Und: Lies, was Dir an Literatur an die Hand gegeben wird. Du wirst nachher ein Heft von Otto Hieber erhalten. Otto Hieber ist ein Bruder, der von 1840 bis 1930 lebte und sich die Mühe gemacht hat, unser Ritual und unsere Symbolik auszulegen. Es gibt Brüder, die sich davor drücken, den Hieber zu lesen und begründen dies gerne damit, dass dieser so kompliziert geschrieben sei. Ich kann Dir nur empfehlen, Dich auf den Hieber einzulassen. Denn er gibt Dir eine erste Ahnung davon, was wir hier im Ritual machen. Er gibt Dir die erste Richtung vor. Er gießt sozusagen das Fundament Deines freimaurerischen Weges. Und wenn das Fundament irgendwann gelegt ist, wirst Du feststellen, dass es noch andere Auslegungen des Rituals gibt, die ebenfalls ihre Berechtigung haben. Und Du wirst lernen, die Interpretationen des Hieber kritisch zu hinterfragen.
Doch am allerwichtigsten, lieber xxx, ist: Nimm Dir die Zeit und die Ruhe nachzufühlen, welche ganz eigenen Resonanzen Symbol und Ritual in Deinem Innern hervorrufen. Dies hat mindestens die gleiche Berechtigung, wie alles, was andere über das Ritual schreiben oder erzählen. Höre tief in Dich hinein.
Denn eins kann ich Dir hier und jetzt offenbaren: Alles, was Du heute äußerlich rituell erlebt hast und was Du auch später äußerlich rituell erleben wirst, ist letztendlich ein Bild für Vorgänge, die sich in Deinem Inneren vollziehen sollen. Symbol und Ritual drücken letztendlich einen inneren Weg aus.
Lieber Bruder xxx, es sind heute eine Menge Worte zu Dir gesprochen worden. Es sind Dir eine Menge Symbole begegnet. Und es sind eine Menge rituelle Handlungen an Dir vollzogen worden. Auf Deinem weiteren freimaurerischen Weg wirst Du Dir nach und nach erschließen, was da heute mit Dir passiert ist.
Drei Dinge habe ich mit meinen Worten in diesem Vortrag versucht, Dir mit auf den Weg zu geben. Nämlich:
– Gehe Deinen freimaurerischen Weg mit Emotion und Ratio, mit Gewissen und Vernunft, mit Herz und Verstand.
– Lerne ein Lernender zu sein und zu bleiben.
– Lerne, sämtliche Symbole und die Rituale als etwas zu verstehen, was sich in Deinem Inneren vollziehen soll.
Vielleicht wirst Du dann auf Deinem freimaurerischen Weg mit dem in Berührung kommen, was ich zu Beginn als „Mysterium des Lebens“ versucht habe zu umschreiben. Das, was die Böhsen Onkelz wie folgt umschreiben:
„Es nimmt Dich mit auf Reisen,
in den Weltraum Deiner Seele.
Es lässt Dich nach Dir suchen,
lässt uns spüren, dass wir leben.
Es kennt jedes Geheimnis,
es redet, doch bleibt stumm,
es enthüllt nicht seine Wahrheit,
es bleibt Mysterium.“
Oder wie die Böhsen Onkelz an anderer Stelle singen:
„Das Leben war die Antwort
und ich stellte viele Fragen,
und dieses endlose Geheimnis
hatte unendlich viel zu sagen.“
Es geschehe also!
FREIMAURERTUM UND GOTT - EIN VORWORT (ZU TEIL 3/3):
Keine Frage ist so geeignet, heftigste Diskurse innerhalb des Freimaurertums auszulösen, wie die Frage nach Gott. Vereinfacht und überspitzt reichen die Positionen von "man kann nur ein Freimaurer sein, wenn man an einen wie auch immer gearteten Gott glaubt" bis hin zu "man kann nur ein Freimaurer sein, wenn man nicht an einen Gott glaubt".
Für die Leser meines Blogs ist es nicht schwer, mich innerhalb dieser Diskussion zu verorten: Für mich bedingt der Weg eines Freimaurers die Vorstellung eines Gottes; wenn auch nicht im dogmatischen Sinne. Diese Position hat ihre Berechtigung, ist aber nicht die einzig mögliche.
In zwei Blogartikeln hatte ich die Gelegenheit geben, auch die Positionen zu Wort kommen zu lassen, die sich nicht mit meiner Position decken oder dieser sogar konträr gegenüberstehen. Hierfür hatte ich die Freimaurer und Blogger Rene Schon und Jürgen Scheffler gewinnen können. Beide gehen den Weg des Freimaurers als bekennende Atheisten.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Frage nach Gott nicht nur geeignet ist, Kontroversen innerhalb des Freimaurertums auszulösen, sondern auch aufzuzeigen, welche Vielfalt innerhalb des Freimaurertums möglich ist. Wenn der Leser nach den beiden Artikel von Rene Schon und Jürgen Scheffler meinen Artikel zum Thema gelesen haben wird, wird er eine Vorstellung davon haben, über welche Bandbreite das Freimaurertum verfügt…
Doch genug der Worte. Vorhang auf für den letzten Teil; meinen eigenen Beitrag…
FREIMAURERTUM BENÖTIGT SPIRITUALITÄT UND GOTTESBEZUG
Für mich ist ein Freimaurertum ohne Gottesbezug schlichtweg nicht vorstellbar. Mein Eindruck ist, dass sich das freimaurerische Ritual und die freimaurerische Symbolik nur dann in ihrer ganzen Tiefe entfalten können, wenn man sich auch auf die esoterisch-spirituelle Dimensionen einlässt, die diesen innewohnt.
WENN ICH VON GOTT SPRECHE
Doch bevor ich mich aufmache, diese These zu belegen, sollte ich zunächst einmal umreißen, wovon ich überhaupt ausgehe, wenn ich diesen mächtigen und absolut missverständlichen Begriff „Gott“ gebrauche. Oder besser: Wovon ich eben nicht ausgehe.
Meines Erachtens ist Gott zu groß und zu umfassend, als dass ich ihn auch nur ansatzweise erkennen oder gar begreifen könnte. Ich glaube, Gott hat den Menschen der unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Aspekte von sich offenbart. Die monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – beispielsweise stellen Gott als personales Gegenüber in den Mittelpunkt. Ein Gott, der einen Willen hat, mit dem man kommunizieren kann und mit dem man eine Beziehung führen kann. Die unterschiedlichen Naturvölker betonen Gott als in der Natur offenbart. Die Mystiker der verschiedenen Religionen erleben Gott eher als Seins-Form, die alles durchzieht und umspannt und gleichzeitig im Inneren eines jeden Einzelnen existiert. Die spirituelle Lehre der Kabbalah bezeichnet Gott unter anderem als Urlicht. Hier trägt jeder Mensch einen Funken dieses Lichtes – den göttlichen Funken – in sich. In buddhistisch geprägten Vorstellungen ist Gott vielleicht am ehesten mit einer Art Energie vergleichbar. Wahrscheinlich gibt es so viele Gottesvorstellungen wie es Menschen gibt. Und jede dieser Gottesvorstellungen ist wahr. Aber keine dieser Vorstellungen ist absolut. Setzt man sie wie einzelne Puzzleteile aneinander, kann man eine Ahnung davon bekommen, wie Gott sein könnte.
Das Geschriebene verdeutlicht, dass es sich mir verbietet, über Gott dogmatisch theologische Aussagen zu treffen. Jede dogmatische Festlegung limitiert Gott. Wenn ich im Folgenden von Gott spreche, rede ich niemals von theologisch absoluten Glaubenssätzen. Ich bin mir bewusst, dass alles, was ich von Gott erkenne, niemals abschließend sein kann. Und ich bin mir bewusst, dass es ganz sicher andere Menschen gibt, die Facetten über Gott erkannt haben, die ich vielleicht noch nicht einmal erahne. Daher ist es eine meiner Lebensaufgaben, offen dafür zu bleiben, dass Gott sich jeder Zeit auf eine Art und Weise offenbaren kann, die ich niemals für möglich gehalten hätte.
Das vorausgesetzt, will mich an die Frage heranwagen, warum das Freimaurertum meines Erachtens immer auch eine spirituelle Dimension hat und daher einen Gottesbezug benötigt. Hierfür beginne ich mit einem kurzen Blick in die Geschichte des Freimaurertums.
VORLÄUFER DES HEUTIGEN FREIMAURERTUMS
Unumstritten ist, dass sich das Freimaurertum – wie wir es heute kennen – aus den Steinmetzbruderschaften der Bauhütten des Mittelalters herleitet und bei beidem einen Großteil seiner Bilder und Symbole entlehnt. Das gilt insbesondere für die ersten drei Grade der Johannisloge.
Die Vorläufer der Bauhütten wiederum sind im Mönchstum der Epoche der Romanik zu suchen. Hier ist insbesondere der Benediktinerorden zu nennen. Diese begangen bereits in der Vorromanik damit, die eigenen Klosteranlagen – insbesondere die klösterlichen Sakralbauten – zu erbauen. In der Romanik entwickelten sich diese „bauenden“ Mönche zu „reisenden“ Mönchen. Sie reisten von Klosterbaustelle zu Klosterbaustelle, um Klosterkirchen zu errichten. Unklar ist heute lediglich, ob die Mönche selber mit Hand anlegten oder ob sie die Bautätigkeiten koordinierten und überwachten. Aus diesen reisenden Mönchen wiederum gingen die Bauhütten und Steinmetzbruderschaften hervor, die im Mittelalter die gotischen Sakralbauten erschufen. Diese existierten und wirkten mit zunehmender Dauer organisatorisch unabhängig von den Mönchsorden.
Dies zeigt, dass das mittelalterliche Bauhandwerk tief verwurzelt war in der monastischen Spiritualität des Christentums. Es wäre eine künstliche Trennung, davon auszugehen, dass diese Bautätigkeiten keinen spirituellen Bezug bzw. keine spirituelle Ausrichtung gehabt hätten. Da ändert auch die Feststellung, dass die mittelalterlichen Bauleute ganz gewiss nicht nur sakrale Gebäude, sondern auch profan genutzte Gebäude errichtet haben, nichts dran.
ENTWICKLUNG ZUM HEUTIGEN FREIMAURERTUM
Am Johannistag des Jahres 1717 schließlich wurde in England die erste Großloge gegründet. Bis heute gilt dieser Tag als offizielles Gründungsdatum des noch heute existierenden Freimaurertums. Interessant hierbei ist, dass sich diese Großloge gründete, indem sich vier bereits existierende Logen zusammenschlossen. Daraus folgt, das bereits vor der offiziellen Gründung des Freimaurertums Freimaurerlogen existiert haben müssen.
Der Übergang von den praktisch bauenden Steinmetzbruderschaften des Mittelalters zum heutigen Freimaurertum ist von der offiziellen Geschichtsschreibung allerdings nur schwer nachzuzeichnen. Als sicher gilt, dass es einen, mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess gab, in dessen Verlauf – aus unterschiedlichen Gründen – zunehmend Mitglieder in die Steinmetzbruderschaften aufgenommen wurden, die beruflich nicht dem praktizierenden Bauhandwerk entstammten.
Dies brachte zwei Entwicklungen mit sich: Zum einen änderte sich die Struktur der Mitglieder. Zum anderen wandelte sich die Tätigkeit des äußeren Erschaffens eines Bauwerkes hin zu einem im Inneren des Menschen stattfindenden Vorgang. Aus den praktisch bauenden Steinmetzbruderschaften wurde das heutige, sogenannte „spekulative“ Freimaurertum.
FREIMAURERISCHES RINGEN
Dieser nicht klar umreißbare Geburtsprozess des spekulativen Freimaurertums fiel mit den Epochen der Renaissance und der Aufklärung in eine äußerst spannende und von gegensätzlichen Strömungen geprägte Zeit. Grob vereinfacht stand das rational geprägte Postulat der Vernunft mit der Idee, dass der Mensch sich durch den Gebrauch des eigenen Verstandes aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien habe, auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite schossen die unterschiedlichsten mehr oder weniger geheimen Verbindungen, Gesellschaften und Bünde, die sich um mehr oder weniger okkultes, esoterisches, spiritistisches oder mystisches Geheimwissen rankten, wie Pilze aus dem Boden.
Diese widerstreitenden gesellschaftlichen Strömungen fanden natürlich auch Eingang ins Freimaurertum. So wurden Freimauerlogen auf der einen Seite zu Orten der freien Meinungsäußerung, wo im geschützten Rahmen die revolutionären Ideen der Aufklärung diskutiert werden konnten. Gleichzeitig aber wurden Freimaurerlogen zu Orten, an denen Symbol und Ritual ein mystisches Erleben ermöglichten. Das gesellschaftliche Ringen zwischen Ratio und Intuition war in den Logen wie unter dem Brennglas zu erleben.
Leider war nicht immer der Wille und die Kraft vorhanden, dieses Spannungsfeld auszuhalten. Und so ringt das Freimaurertum seit seiner Gründung darum, was denn nun das rechtmäßige – sprich: „reguläre“ – Freimaurertum ausmacht und was nicht. Überspitzt und stark vereinfacht findet dieses freimaurerische Ringen zwischen den beiden folgenden Polen statt:
Den ersten Pol würde ich am ehesten als „humanistisches Freimaurertum“ umschreiben. Für diesen sind die drei ersten Grade der Johannismaurerei relevant. In diesen Graden erfolgt die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit „der Welt da draußen“ und im dritten Grad schließlich die Konfrontation mit dem eigenen Tod. Dieser freimaurerische Weg ist beinahe ausschließlich auf das Diesseits ausgerichtet und eher rational geprägt. Er dreht sich vor allem um die Frage eines ethisch-moralischen Lebenswandels.
Den anderen Pool würde ich am ehesten als „esoterisch-spirituelles Freimaurertum“ umschreiben. Dieser baut auf den beschriebenen drei Johannisgraden in Form von unterschiedlichen weiterführenden Graden auf. Hier werden die Inhalte der ersten drei Grade aufgenommen, vertieft und um ihre esoterisch-spirituelle Dimensionen erweitert. Neben der Frage eines ethisch-moralischen Lebenswandels wird Freimaurertum hier auch als esoterisch-spiritueller Erkenntnisweg verstanden.
Wo zwischen diesen beiden Polen man sich verortet, kann ein jeder Freimaurer nur für sich selbst entscheiden. Und ich habe für beide dieser gegensätzlichsten Positionen nachvollziehbare und gut begründete Ausführungen lesen dürfen. Mein Eindruck ist, dass jeder Freimaurer der Argumentationslinie folgt, in der er sich am ehesten wiederfindet und die er am ehesten nachvollziehen kann.
DER CHRISTLICHE FREIMAURERORDEN
Die beschriebenen Entwicklungen führten dazu, dass es heute in Deutschland drei eigenständige und ganz unterschiedliche deutsche Großlogen gibt: Die „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Freimaurer von Deutschland“ (AFuAM), „Die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland“ (Freimaurerorden) sowie die „Große National-Mutterloge Zu den drei Weltkugeln“ (3WK). Diese finden sich neben weiteren Logen unter dem Dach der „Vereinigten Großlogen von Deutschland“ zusammen.
Besonders erwähnen möchte ich hiervon die AFuAM. Denn diese ist von der Mitgliederzahl her die mit Abstand größte der Großlogen. Die AfuaM bearbeitet ausschließlich ersten drei Grade der Johannisloge und ist vor allem humanistisch geprägt.
Ich selbst gehöre der zweitgrößten Großloge, dem Freimaurerorden, an. Dieser ist explizit christlich ausgerichtet. Jesus Christus, wie ihn die Bibel überliefert, wird hier als Obermeister angesehen. Er verkörpert das Ideal für jeden Ordensbruder. Dies gilt sowohl für den spirituellen Weg, den er gegangen ist; als auch für sein ethisch-moralisches Handeln. Weiter ist das gesamte Ritual auf Gott (wie jeder einzelne ihn für sich auch verstehen mag) ausgerichtet. Der Weg des Ordensfreimaurers erstreckt sich über 10 Grade.
Wenn ich im Weiteren auf den Inhalt des freimaurerischen Rituals und die Ausrichtung des freimaurerischen Weges eingehe, dann ist es wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass ich hierbei von dem ausgehe, was mir im Christlichen Freimaurerorden begegnet. Für die anderen Richtungen kann ich nicht sprechen, weil ich dort nicht in der Tiefe drinstecke. Weiter muss berücksichtigt werden, dass ich aus der Sicht eines Freimaurers schreibe, der den 3. Grad – nämlich den des Johannismeisters – inne hat.
EINWEIHUNG UND RÜCKVERBINDUNG
Steigt man tiefer in das freimaurerische Ritual ein, merkt man schnell, dass es sich hierbei um einen althergebrachten Initiationsritus handelt. Versucht man diesen zu seinen Ursprüngen zurück zu verfolgen, so entdeckt man zunächst markante Parallelen zu den Initiationsriten der Mysterienbünde des Altertums. Einzelne Elemente des freimaurerischen Initiationsritus sind aber noch wesentlich älter. Sie finden sich bereits bei den archaischen Initiationsriten der Urvölker.
Ebendiese archaischen Initiationsriten hat der Franziskaner-Pater Richard Rohr Zeit seines Lebens studiert. Und hierbei machte er ganz interessante Entdeckungen: Unabhängig davon, in welcher Kultur der jeweilige Initiationsritus durchgeführt wurde, verfügte er über dieselben zentralen Wesensmerkmale: So galt es zunächst das egodominierte Falsche Selbst des Initianten zu erschüttern und sterben zu lassen. Dieses Sterben der alten Natur des Initianten wurde in dramatischer und kraftvoller Weise vollzogen. Auf den grausamen Tod erfolgte schließlich die machtvolle Auferstehung. Im Idealfall war durch dieses Ritual ein neuer Mensch geboren. Ein Mensch, der eingeweiht war in das „Große Mysterium des Lebens“; dadurch, dass er zurückverbunden worden war in die (spirituellen) Kreisläufe und Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung. Ein Mensch, der in Berührung gekommen war mit seinem Wahren Selbst.
Dies zeigt, dass Initiationsriten immer über den kleinen menschlichen Ego-Horizont hinausweisen. Auf das „absolut Gute“. Auf das, was größer und umfassender ist, als es die egomane Natur des Menschen je sein könnte. Und in diesem „Großen Ganzen“ offenbart sich das, was der Mensch seit jeher „Gott“ nennt. Daher verweist ein Initiationsritus im Idealfall in letzter Konsequenz immer auch auf Gott. Täte er dies nicht, bliebe das launenhafte und selbstfixierte Ego des Menschen die einzige Richtschnur und der einzige Bezugspunkt im Ritual.
Die Idee, dass eine „Einweihung“ notwendig ist, um den Menschen „zurück zu verbinden“, impliziert, dass es mal einen Zustand gegeben haben muss, in dem der Mensch „verbunden“ war. Ein Zustand der Ursprünglichkeit, in dem der Mensch „eins“ war mit dem „Großen Mysterium“. Dieser Zustand ist verlorengegangen. Aus diesem Zustand ist der Mensch herausgefallen. Mythen wie die der Vertreibung aus dem Paradies im Alten Testament der Bibel erzählen uns davon. Initiation setzt im positivsten Falle genau an diesem Punkt an. Sie setzt den „Guten Anfang“, damit der Mensch sich auf den Weg machen kann. Auf seinen Weg nach hause. Auf seinen Weg zurück zur Vereinigung mit seinem Ursprung.
Und genau dieses Wissen hat der Christliche Freimaurerorden meines Erachtens bewahrt. Das Ziel des Weges des Ordensfreimaurers ist die Vereinigung mit seinem Ursprung. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Grade, Symbole und Rituale. Und das, was ich als „Großes Mysterium“ und als „spirituelle Kreisläufe und Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung“ beschreibe, wird im Freimaurerorden als „Göttliche Ordnung“ bezeichnet. An entscheidender Stelle ergeht im Ritual die Aufforderung an den Ordensfreimaurer, Gott die Ehre zu geben und sich in die göttliche Ordnung stellen. Es wird unmissverständlich klarstellt, dass es nicht das menschliche Ego ist, das hier im Mittelpunkt steht. Das Ritual des Freimaurerordens weist somit weit über das egodominierte Falsche Selbst des Menschen hinaus. In letzter Konsequenz weist es auf Gott. Auf Gott, den Ursprung allen Seins.
DIE ALTEN PFLICHTEN
Die Wurzeln des Freimaurertums sind folglich im Spirituellen zu suchen. Ein wie auch immer gearteter Gottesbezug war immer gegeben. Spätestens jedoch im spekulativen Freimaurertum ging dieses spirituelle Erbe eine Symbiose mit den Ideen der Aufklärung und des Humanismus ein. Zwei so gegensätzliche Richtungen in sich zu vereinen, ist jedoch nur dann möglich, wenn ein Weg gefunden wird, keine der beiden dogmatisch oder absolut zu verstehen. Das gilt für die spirituelle Seite genauso wie für die humanistische.
Einen wegweisenden und nachhaltig prägenden Ansatz, wie dies funktionieren könnte, verfasste der Reverend und Prediger an der Kirche der schottischen Presbyterianer in London, James Anderson, im Jahre 1723 in den sogenannten „Alten Pflichten“. Hierbei handelt es sich um „die erste gedruckte und veröffentlichte Sammlung von Gesetzen und Konstitutionen (Regeln) der Freimaurer“. Im Abschnitt „Von Gott und der Religion“ schreibt er dort etwas nieder, was noch heute tief in der DNA eines jeden Freimaurers verankert ist, dem ich bisher begegnet bin:
„Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein bindungsloser Freigeist sein. In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Land zwar verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen Übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu belassen.“
Besonders bemerkenswert finde ich hierbei die Idee der „Religion, in der alle Menschen übereinstimmen“. Es ist augenscheinlich, dass hiermit keine dogmatisch verstandene Religion gemeint sein kann. Denn wenn es um dogmatische Glaubenssätze und theologische Lehrgebäude geht, dann stimmen die Menschen nicht überein. Das sehen wir tagtäglich um uns herum. Und das seit Menschengedenken. Unterschiedliche Religionen, sprechen sich gegenseitig die Rechtgläubigkeit ab. Und innerhalb dieser Religionen wiederum sprechen sich unterschiedliche Richtungen gegenseitig die Rechtgläubigkeit ab. Und im Zweifel wird dies gewaltsam ausgetragen. Wahrscheinlich wurde in der Geschichte der Menschheit wegen keinen Anschauungen so viel Blut vergossen, wie wegen der religiösen. Nein, wenn von der „Religion, in der alle Menschen übereinstimmen“ gesprochen wird, kann keine wie auch immer geartete dogmatische Theologie gemeint sein.
EIN MYSTISCHER GOTTESBEGRIFF
Mich erinnert die Idee der „Religion, in der alle Menschen übereinstimmen“ an ein Gottesverständnis, wie man es oft bei den Mystikern der verschiedenen Religionen vorfindet. Denn in der Mystik wird Gott eher als ein universelles Sein verstanden, das die Schöpfung vollständig durchdringt. Und da jeder Mensch den Zugang zu diesem „Sein“ in seinem tiefsten Innersten trägt, ist die Mystik in erster Linie von spirituellem Erleben geprägt. Weniger durch theologische Glaubenssätze. Und ähnlich den Initiationsriten hat auch die mystische Erfahrung das Potential, den Menschen von innen heraus zu transformieren. Die Erfahrungen der Mystiker gleichen sich auffällig. Unabhängig davon, welcher Religion sie angehören. Denn das mystische Erleben geht weit über die Theologien und Dogmen der einzelnen Religionen hinaus. Die Mystiker der verschiedenen Religionen eint ihre mystische Erfahrung und das daraus resultierende Bewusstsein. Auch wenn die dogmatischen Aussagen der jeweiligen Religionen, denen sie angehören, sich konträr gegenüberstehen.
Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass die Mystiker in ihren Religionen oftmals nur ein Randdasein fristeten oder – wie im Fall von Meister Eckhart – gar exkommuniziert wurden. In der heutigen Zeit sind die Mystiker des Islam – die Sufis – regelmäßig das Ziel islamistischer Terrorakte.
Wenn es tatsächlich so ist, dass sich die Idee der „Religion in der alle Menschen übereinstimmen“ von der Gottesvorstellung der (in diesem Fall christlichen) Mystiker ableitet, wäre dies ein weiteres Indiz für die spirituellen Wurzeln des Freimaurertums. Der gemeinsame Ausgangspunkt könnte wie bei den Vorläufern des mittelalterlichen Bauhandwerks wieder das christliche Mönchstum sein. Gingen aus ihm doch nahezu alle christlichen Mystiker hervor.
SUPREME BEING UND DREIFACH GROßER BAUMEISTER
Aus der Idee der „Religion in der alle Menschen übereinstimmen“ leitete sich im Laufe der Zeit das „Supreme Being“ ab. Dies stellt weltweit eine der Voraussetzungen dar, damit eine Freimaurerloge von der Großloge in England als „regulär“ anerkannt wird.
Im Christlichen Freimaurerorden findet das Supreme Being Ausdruck im „Dreifach Großen Baumeister der ganzen Welt“. Und genau wie das Supreme Being ist auch der Dreifach Große Baumeister der ganzen Welt weder theologisch noch dogmatisch definiert. Es ist an jedem Bruder selbst, diesen Begriff für sich zu füllen.
Und im Mikrokosmos meiner Loge erlebe ich, dass im Ritual der Bruder mit der kirchlich geprägten Vorstellung von Gott neben dem mit der buddhistisch geprägten, neben dem mit der gnostisch geprägten, neben dem mit der kabbalistisch, mystisch oder kontemplativ geprägten Vorstellung von Gott sitzt.
MEIN FREIMAURERISCHES MANIFEST
Mein Fazit: Die Wurzeln des Freimaurertums sind im Spirituellen zu suchen. Ein wie auch immer gearteter Gottesbezug war immer gegeben. Und für mich persönlich ist ein Freimaurertum ohne Gottesbezug schlichtweg nicht vorstellbar. Mein Eindruck ist, dass sich das freimaurerischen Ritual und die freimaurerische Symbolik nur dann in seiner ganzen Tiefe entfalten können, wenn man sich auch auf die esoterisch-spirituelle Dimensionen einlässt, die diesen innewohnt.
Aber: Das Revolutionäre am damals noch blutjungen spekulativen Freimaurertum war meines Erachtens, dass dieses spirituelle Erbe eine Vereinigung mit den humanistisch geprägten Idealen der Aufklärung einging. Und auch, wenn es in der Geschichte zu mancher Spannung führte, so ist das Zusammenführen und Aushalten dieser gegensätzlichen Pole, meiner Meinung nach, bis heute eine der größten Stärken des Freimaurertums.
Denn so wie sich im Menschen im Idealfall Vernunft und Gewissen ergänzen und gegenseitig austarieren, so kann dies auch im Freimaurertum durch seine aufgeklärt humanistische Seite und seine esoterisch-spirituelle Seite geschehen. Ein Freimaurertum, das seine esoterisch-spirituelle Seite ignoriert, droht immer auf der Ebene des Verstandes steckenzubleiben und nur an der trockenen Oberfläche von Symbol und Ritual zu kratzen. Und ein Freimaurertum, das seine aufgeklärt humanistische Seite ignoriert, läuft immer Gefahr, die Bodenhaftung und den konkreten Bezug zum alltäglichen Hier und Jetzt zu verlieren. Nur wenn beide Pole in Ausgleich und Einklang miteinander gebracht werden können, ist der freimaurerische Weg vollständig.
Und meine Erfahrung ist, dass genau das jeder „gesunde“ spirituelle Weg sowie jedes „gesunde“ Model der Persönlichkeitsentwicklung lehrt: Gegensätze werden nicht dadurch überwunden, dass man sie vernichtet. Gegensätze werden dadurch überwunden, dass man sie annimmt, ausgleicht und zur Vereinigung führt.
Daher empfinde ich persönlich es als vermessen, wenn Freimaurer ein Freimaurertum als „modern“ bezeichnen, das sämtliche spirituellen Bezüge sowie den Gottesbezug getilgt hat. Ein Freimaurertum ist modern zu nennen, wenn dessen Spiritualität und dessen Gottesbezug durch die Aufklärung geläutert worden sind. Das bedeutet, dass es von Dogmatismus und Aberglauben entschlackt ist, die Ideale von Aufklärung und Humanismus integriert hat und sich dennoch seiner spirituellen Verwurzelung und seines immanenten Gottesbezuges bewusst ist.
WIE ALLES BEGANN…
Im Dezember des letzten Jahres hatte mein Blog seinen 1-jährigen Geburtstag. Rechtzeitig dazu war er von insgesamt 46 Ländern aus 10000 Mal aufgerufen worden. Eine Marke, von der ich nie zu träumen gewagt hätte, sie nach so kurzer Zeit schon zu reißen.
Ich weiß noch, wie ich mit meinem Freund und Weggefährten Jörg am 1. Januar 2014 bei sternenklarer Nacht am Lagerfeuer bei Zigarre und Whisky zusammensaß und er von seinen Erfahrungen mit seinem Blog (http://www.schoepfungsspiritualitaet.de/) erzählte. Schon länger ging ich mit der Idee schwanger, eventuell auch mit dem Bloggen anzufangen. An diesem Abend fasste ich den Entschluss: „Ja, ich werde Blogger!“
Von da an dauerte es fast ein ganzes Jahr bis zu meinem ersten Artikel. Zunächst galt es zu recherchieren, was man alles zu bedenken hat und in welche Fallen man tapsen kann. Dann musste ich mir klar darüber werden, wie mein Blog heißen und wie er optisch aufgemacht sein soll. Schließlich begann ein schier endloses „Trial an Error“.
Doch wozu das alles? Wovon soll mein Blog erzählen? Für diese Frage muss ich etwas weiter ausholen…
SCHMERZHAFTE ERFAHRUNG
Vielleicht begann alles mit meinen Fragen nach „männlicher Spiritualität“. Welche spirituellen Bilder sind stark genug, um von der Sehnsucht der männlichen Seele zu erzählen und dem Mann Zugang zu seiner inneren Welt zu ermöglichen? Welche spirituellen Formen haben die Kraft, den Mann von innen heraus zu transformieren und sowohl seine liebevoll-zärtliche als auch seine archaisch-kriegerische Seite zu integrieren? Wie kann ein Mann Zugang zu seiner innersten kraftvollen Männlichkeit erhalten, ohne diese Kraft missbrauchen zu müssen?
Fragen, denen ich mich hatte stellen müssen. Denn auf sehr bittere und schmerzhafte Weise hatte ich lernen müssen, dass ein dogmatisch verstandener Glaube mit einem dualistischen Weltbild – das alles in Gut und Böse, Richtig und Falsch einteilt – das tiefste Sehnen der männlichen Seele nach authentischer und kraftvoller Spiritualität nicht zu stillen vermag. Es war eine Phase der Orientierungslosigkeit und es war eine Phase der Angst, die mein Leben zutiefst verunsicherte. Und in Frage stellte.
Doch in dieser Krise geschahen zwei Dinge: Zum Einen kam ich mit Literatur des Franziskaner-Paters Richard Rohr in Berührung. Zum Anderen begann ich, mich mit freimaurerischer Symbolik auseinanderzusetzen. Zwei Dinge, die weite Kreise ziehen sollten…
PATRIARCHAT UND FEMINISMUS
Seit den 70er-Jahren geht Richard Rohr genau dieser Frage nach authentischer und transformierender männlicher Spiritualität nach. Hierbei machte er die Beobachtung, dass Jahrhunderte des Patriarchats einen großen Verlierer hervorgebracht haben: Nämlich den Mann. Denn irgendwo im tagtäglichen Wettstreit um Macht, Geld, Sex und Prestige verschüttete bei den allermeisten Männern der Zugang zu ihrer inneren Welt. Die Leere, die zurückblieb überkompensierte „Mann“ mit dem äußeren Zur-Schau-Stellen von Status, Potenz und Stärke.
Auch der Feminismus – so notwendig und segensreich er auch ist – vermochte den Männern diesen Zugang nicht wieder freizulegen. Der Feminismus konnte zwar kranke männliche Strukturen benennen, in Frage stellen und zum Teil auch aufbrechen. Den Weg zu einer gesunden Männlichkeit kann er den Männern aber nicht abnehmen.
ARCHAISCHE INITIATIONSRITEN
Richard Rohr stellte bei seinen Nachforschungen fest, dass alle archaische Kulturen über Einweihungsriten für ihre (jungen) Männer verfügten. Initiationsriten. Doch interessanter war seine Feststellung, das diese Riten sich sowohl in ihren inhaltlichen Aussagen, als auch in ihren rituellen Ausgestaltungen erstaunlich glichen. Und das, obwohl sie zum Teil von ganz unterschiedlichen Kulturen auf ganz unterschiedlichen Kontinenten praktiziert wurden.
In all diesen Riten ging es darum, das Ego des jungen Mannes in seinen Grundfesten zu erschüttern. Ihn mit seinem eigenen Schatten, seiner Schwachheit und seiner Irrelevanz zu konfrontieren. Der Initiant durchlief rituell den Kreislauf des Werden und Vergehen allen Lebens. Er wurde verwundet und starb einen grausamen Tod. Der Mann, der auferstand, hatte eine Weihe erlebt. In etwas, das viel größer, weiter und allumfassender war, als sein ständig um sich selbst kreisendes Ego es je sein könnte. Nicht selten kehrte der junge Mann aus der Tiefe dieses Rituals mit einem neuen – seinem ureigensten – Namen zurück. Diese Erfahrung hatte das Potential, der Anfang der ganz persönlichen Heldenreise des Mannes zu werden.
VERLORENES ERBE
Weiter fiel Richard Rohr auf, dass in der westlichen Welt das Erbe dieser Männerinitiation verlorengegangen ist. Rudimentäre Überbleibsel finden sich vielleicht noch in der Idee der kirchlichen Taufe und Konfirmation bzw. in Taufe und Firmung.
Und das in einer Zeit, in der der Gedanke der Männerinitiation wohl aktueller ist denn je. Denn verfügt eine Gesellschaft über keine Übergangsriten mehr, die ihre Männer aus dem Gefängnis ihres egodominierten Falschen Selbst herausführen, bleiben viel zu viele innerlich trauernde und verängstigte Männer zurück. Da Männer aber oftmals schwer Zugang zu vermeintlich schwachen Gefühlen wie der Trauer oder Angst bekommen, manifestieren sich diese Emotionen viel zu oft als Wut. Richard Rohr prägte hierfür den Begriff des „Angry Young Man“. Angry Young Men – Treffender kann man posende Gangmitglieder, marschierende Neonazis, religiöse Selbstmordattentäter oder randalierende Punks wohl nicht beschreiben. Doch die Gewalt dieser (jungen) Männer ist tief in Angst und Trauer verwurzelt. Angst und Trauer, zu der sie selbst keinen Zugang mehr finden.
Also verglich Richard Rohr die unterschiedlichen Initiationsriten der verschiedenen Zeiten und Kulturen miteinander und extrahierte deren Gemeinsamkeiten. Hieraus entwickelte er einen Initiationsritus, der das alte Wissen bewahrt. Der aber ebenso den Mann des 21. Jahrhundert dort abholt, wo er steht.
Vor einigen Jahren durchlief ich diesen Ritus. Es war ein einschneidendes spirituelles Erlebnis. Es hat mich zutiefst berührt. Und meinen weiteren spirituellen Weg entscheidend geprägt. Sei es durch das Erleben des Verbunden-Seins mit allem, wie ich es bis dahin nicht gekannt hatte. Sei es durch die inneren Themen, die ich mit auf den Weg bekommen habe. Vielleicht sogar durch ein neues Bewusstsein für das Leben, in das ich eingetaucht bin.
WESEN DES FREIMAURERTUMS
Parallel dazu tauchte ich in die Welt des Freimaurertums ein. Irgendwie übte diese Bruderschaft eine seltsame Faszination auf mich aus. Und so las ich Buch um Buch zu diesem Thema. Vom abstrusesten Verschwörungsschinken bis hin zum trockensten wissenschaftlichen Schinken. Stetig davon angetrieben, unbedingt verstehen zu wollen, was das Wesen dieser Bruderschaft ausmacht. Ich merkte, wie ich mich für die Welt des Freimaurertums öffnete. Und wie ich innerlichen Zugang zu dieser Welt bekam.
Allerdings begriff ich erst durch die Literatur von Richard Rohr, dass ein wesentlicher Teil dessen, was das Wesen des Freimaurertums ausmacht, ein alter, überlieferter Initiationsritus ist. Diese Bruderschaft hat in ihrem Kern den Gedanken der Männerinitiation durch die Jahrhunderte hindurch bewahrt. Allerdings benutzt das Freimaurertum kaum noch archaische Bilder und Symbole, um dies auszudrücken. Sondern Bilder und Symbole, die den Dombauhütten und den Steinmetzbruderschaften des Mittelalters entlehnt sind.
MISSING LINK
Doch wie kam es dazu, dass sich im Laufe der Geschichte diese beiden Linien – die der Inititiation und die der Steinmetze – im Freimaurertum kreuzten? Witzigerweise war es wieder Richard Rohr, der mir das fehlende Puzzleteil zu dieser Frage lieferte. In seinem Buch „Adams Wiederkehr“ beschreibt er fast schon beiläufig ein altes Ritual, das der Mönchsorden der Benediktiner in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens praktiziert hat: Zur Feier des Gelöbnisses lag der Kandidat in ein Leichentuch gehüllt vor dem Altar, während um ihn herum Kerzen standen, die entzündet waren und Requiem gesungen wurden. Das Bild einer Beerdigung. Im Laufe der Zeremonie erstand der Kandidat aus diesem Grab auf und wurde in den Orden aufgenommen. Das alte initiantische Bild von Tod und Auferstehung. Richard Rohr erklärte dies damit, dass der Benediktiner-Orden, der einzige Mönchsorden ist, der auf Grund seines Alters noch mit archaischen Intitiationsriten in Berührung gekommen ist.
Und plötzlich setzte sich das Puzzle für mich zusammen. Denn die Benediktiner waren auch einer der Mönchsorden, die in der Zeit der Vorromanik mit dem Bau von Klosteranlagen – insbesondere der Klosterkirchen – begangen. In der Romanik entwickelten sich die „bauenden“ Mönche zu „reisenden“ Mönchen. Diese reisten von Klosterbaustelle zu Klosterbaustelle, um Klosterkirchen zu errichten. Hieraus wiederum gingen die Bauhütten und Steinmetzbruderschaften, die im Mittelalter die gotischen Sakralbauten erschufen, hervor. Diese aber existierten und wirkten mittlerweile organisatorisch unabhängig von den Mönchsorden. Bis zu der Zeit der Aufklärung wiederum entwickelte sich aus ihnen das spekulative Freimaurertum.
Der Mönchsorden der Benediktiner scheint also der Knotenpunkt zu sein, an dem sich der Gedanke der Männerinitiation mit dem Kirchenbauhandwerk verband. Als ich das begriffen hatte, fasste ich den Entschluss, an die Tore des Tempels der Bruderschaft der Freimaurer zu klopfen und um Einlass zu bitten.
WARUM NUN DIESER BLOG?
Ich glaube, es ist etwas ganz besonderes an unserer Zeit, dass Männer mit ganz unterschiedlichen spirituellen Hintergründen und Geschichten wieder beginnen, das alte Erbe der Initiation zu entdecken. Der Ritus nach Richard Rohr ist nur ein Beispiel dafür. Ich habe viele aufrichtige Männer kennenlernen dürfen, die sich wieder auf ihre ganz eigenen Heldenreisen begeben haben. Die sich ihren dunklen Seiten gestellt haben. Die in Demut die archaische Kraft und die Zerbrechlichkeit ihres Mann-Seins angenommen haben. Zentral in den Biographien dieser Männer war das Durchlaufen eines Initiationsritus.
Und dann ist da seit jeher diese alte Bruderschaft der Freimaurer inmitten der Gesellschaft, die das Erbe der Initiation seit einer so langen Zeit bewahrt. Und deren Wurzeln sich Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende zurückverfolgen lassen.
Meine Erfahrung ist allerdings, dass das Freimaurertum für manch spirituell aufrichtig suchenden Mann bisweilen abschreckend daherkommt. So wirken die Grade, die ein Freimaurer durchläuft, oftmals hierarchisch. Und auch die äußeren Formen erwecken nicht selten einen elitären und starren Eindruck.
Trotzdem glaube ich, dass diese beiden so unterschiedlichen Traditionen der Männerinitiation sich gegenseitig ergänzen und bereichern können. Setzen sie doch bei denselben Fragen an, die sich die männliche Seele seit jeher stellt. Und geben Sie auf diese Fragen – bei näherer Betrachtung – doch auch ganz ähnliche Antworten. Und genau das ist es, wovon ich auf diesem Blog erzählen möchte…
Am Anfang war der Wunsch nach Achtsamkeit und Entschleunigung (und eine Wette, die ich zu verlieren drohte – aber das ist eine andere Geschichte).
ALLE JAHRE WIEDER…
Meine letzten zwei Adventszeiten begannen mit der Sehnsucht nach Besinnlichkeit und stiller Rückschau. Doch nachdem wir den letzten Tannenzweig drapiert und die letzte Kerze entzündet hatten, wurden die wundervoll besinnlichen Momente mit meiner Frau schon bald von einem Marathon an sentimentalen Jahresrückblicken abgelöst. Als Weihnachtsfeiern waren diese deklariert. Und jede dieser Feiern war für sich schon Grund genug, gut und üppig zu essen und auch mal über den Durst zu trinken. Ein paar Kilo später kam ich dann jedes Mal irgendwo in überstimulierter Deprimiertheit wieder zu mir. Der Zauber von Weihnachten war schneller verflogen, als er es doch versprochen hatte. Alle Jahre wieder.
DIE IDEE DES FASTENS
Doch dieses Jahr wollte ich die Advents- und Weihnachtszeit anders erleben. Bewusster. Achtsamer. Daher beschloss ich, die Woche vor Weihnachten zu fasten.
Das Fasten ist seit jeher auch Teil des christlichen Glaubens. Bereits Jesus Christus fastete 40 Tage lang in der Wüste, bevor er sein Wirken begann. Und seitdem es das Christentum gibt, existierten neben den institutionalisierten Hierarchien auch immer Mönchsbewegungen, bei denen das Fasten stets seinen festen Platz hatte. Gleiches gilt für einen Großteil der verschiedenen christlichen Mystiker, deren Wurzeln überwiegend ebenfalls im Mönchstum liegen.
WIE ICH ES ERLEBTE
Das Fasten als besondere Form der Enthaltsamkeit hat also seit jeher einen hohen Stellenwert im christlichen Mönchstum und in der christlichen Mystik gehabt. Und in der Woche vor Weihnachten, in der ich fastete, begann ich zu erahnen, weshalb das so sein könnte. Aber lest selbst:
Schon in den ersten beiden Tagen ertappte ich mich ständig dabei, wie ich zugreifen und es mir in den Mund stopfen wollte, wenn irgendwo ein Schüsselchen mit Knabberzeug oder Süßkram herumstand. Ich war mir gar nicht (mehr) bewusst gewesen, wie sehr ich mich darauf konditioniert hatte, das Gefühl von Appetit oder von Hunger nicht aushalten zu können, sondern sofort stillen zu müssen. Wie ferngesteuert kam ich mir vor. Und war entsetzt, dass es mir vorher so gar nicht aufgefallen war.
Ab dem zweiten Tag fing ich an, Gerüche bewusster wahrzunehmen. Ich hatte es schon gar nicht mehr zu schätzen gewusst, wie gut Essen riechen kann. Es war wohl zu selbstverständlich geworden. Einmal blieb ich extra im Eingang eines Dönerladens stehen, nur um das brutzelnde Dönerfleisch zu riechen. Ein anderes Mal stieg ich eine Station eher aus der U-Bahn aus, um noch durch die Fressmeile eines Einkaufzentrums gehen zu können und die verschiedenen Essensgerüche aufzunehmen.
In dieser Zeit merkte ich auch, dass sich mein Geschmackssinn veränderte. Zum Beispiel nahm ich den Geschmack von Tee viel intensiver wahr. Meinen Kräutertee süßte ich immer mit ein wenig Honig. Am sechsten Tag leckte ich die Reste von dem Löffel ab, mit dem ich den Honig in den Tee gerührt hatte. Niemals werde ich diese – nie für möglich gehaltene – Geschmacksexplosion in meinem Mund vergessen.
Ab dem dritten Tag zwang mein Körper mich, meine Geschwindigkeit herunterzufahren. Hätte ich vorher noch einen Sprint hingelegt, um den haltenden Bus oder die einfahrende S-Bahn zu erreichen; so passierte es mir jetzt regelmäßig, dass ich sie vor meiner Nase abfahren lassen musste. Mein Körper teilte sich seine Kräfte ein. Diese Erfahrung wurde intensiver mit jedem Tag. Mit zunehmender Dauer fühlte ich mich wie in einem Kokon. Während die Menschenmassen in den Fußgängerzonen, in den Bahnhöfen und auf den Weihnachtsmärkten an mir vorbeihetzten, bewegte ich mich in meiner ganz eigenen Geschwindigkeit. Mitten in diesem Wahnsinn war ich irgendwie außerhalb dieses Wahnsinns. Wahrnehmend. Beobachtend. Und plötzlich sah ich Details, an denen ich an gewöhnlichen Tagen stumpf vorbeieile.
War ich an den ersten vier Tagen noch überrascht, wozu ich auch ohne Nahrung im Stande bin; so bauten meine Kräfte ab dem fünften Tag merklich ab. Besonders meine Beine wurden schwächer. Und das Teufelchen auf meiner Schulter fing an, die Graubereiche auszuloten. Mehrfach stand ich vor Coffee-Shops und rang mit mir. Warum nicht einfach einen schönen, großen, süßen und heißen Karamell-Macchiato durch die Kehle rinnen zu lassen?
Was mir gar nicht so auffiel, was meine Frau mir aber spiegelte, war, dass ich mit jedem Tag des Fastens gereizter und ungeduldiger wurde. Schon wenn Kleinigkeiten nicht nach meinen Vorstellungen liefen oder Dinge geschahen, die ich als unnötig empfand, war ich zunehmend genervt und zunehmend aggressiv.
Meine Frau sagte mir hinterher, ich sei richtiggehend ein anderer Mensch geworden, als ich nach einer Woche das erste Brötchen gegessen und anschließend eine Nacht geschlafen hatte.
Nachdem ich die ersten kleineren Mahlzeiten wieder zu mir genommen hatte, breitete sich in mir das wohlige Gefühl aus, den Körper entschlackt zu haben. Und ich konnte auch einfache und kleine Mahlzeiten wieder mit einer ganz anderen Wertschätzung und Dankbarkeit genießen (Nebenbei hatte ich auch besagte Wette gewonnen – aber das ist eine andere Geschichte).
WAS DAS FASTEN MICH LEHRTE
Wenn ich auf meine Fastenzeit zurückblicke, kann ich sagen, dass es ein Achtsamkeitstraining war. Ich begann wieder bewusster wahrzunehmen. Sei es meine visuelle Umgebung, sei es Geschmack, seien es Gerüche.
Und dann war es ein guttuendes und bestärkendes Gefühl, meinem Hunger und meinen Essensgelüsten wiederstehen zu können; es überwinden zu können. Der Hunger hat ein wenig von seinem Schrecken und von der Notwendigkeit, ihn unmittelbar stillen zu müssen, verloren. Denn mir ist bewusst geworden, dass vieles, was wir in der westlichen Welt als Hunger bezeichnen, für gewöhnlich nicht mehr als antrainierter Appetit ist.
Ich kann mir vorstellen, dass es genau diese beiden Aspekte sind, die das Fasten für die christlichen Mönche und die christlichen Mystiker so attraktiv gemacht haben: Das Schulen der eigenen Achtsamkeit und das Überwinden des Körpers.
FREIMAURER-TUGEND DER MÄßIGKEIT
Im Freimaurertum hat die Tugend der „Mäßigkeit“ einen hohen Stellenwert. Und meiner Einschätzung nach hat der christliche Freimaurerorden vieles, was in seinem Ritual und seiner Symbolik Ausdruck findet, der christlichen Mystik entlehnt. Daher stellt sich mir die Frage, ob es sich bei der Freimaurer-Tugend der „Mäßigkeit“ um eine – im Laufe der Zeit abgewandelte – Form der Enthaltsamkeit der christlichen Mönche und Mystiker handelt. Da sich meines Erachtens die Wurzeln des modernen Freimaurertums mindestens bis in die Zeit der ersten christlichen Mönchsorden zurückverfolgen lassen, ist diese Vermutung nicht abwegig.
Was ich aber sicher sagen kann, ist, dass das Fasten eine Übung ist, die absolut geeignet ist, die Tugend der „Mäßigkeit“ zu trainieren.
EIN AUSBLICK
Zurückblickend bewege ich jetzt die Frage, in welcher Form es möglich und sinnvoll ist, regelmäßigere Zeiten des Fastens in mein Leben einzubauen. Damit das, was mich das Fasten gelehrt hat, nicht nur eine einmalige Erfahrung bleibt. Damit das, was mich das Fasten gelehrt hat, nicht irgendwann wieder in Vergessenheit gerät.