Die toxische Seite des Christentums

SPIRITUALITÄT UND TOXISCHE RELIGION

Wer auf meinem Blog liest, dem wird eines sehr schnell klar: Das prägende Element, das sich durch jedes meiner Bilder, durch jeden Buchstaben, den ich niederschreibe, zieht, ist Spiritualität. Und da ich die Geschichten, Symbole und Bilder meiner Spiritualität in erster Linie dem Christentum entlehne, nehme ich auch häufig Bezug auf Gott und auf Jesus Christus. Folglich ist auch meine grundsätzliche Beziehung zum Christentum zunächst eine positive.

Wenn Ihr wissen wollt, wie ich „Spiritualität“ für mich definiere, lest Ihr am besten meinen Artikel „Spirituelle Heldenreise„. Und wenn Euch interessiert, was ich unter „Gott“ verstehe, lege ich Euch meinen Artikel „Freimaurertum benötigt Spiritualität und Gottesbezug“ ans Herz. Diese Blogartikel vorausgesetzt, ist der Ausgangspunkt sowie der Endpunkt von Spiritualität, wie ich sie verstehe, immer das mit menschlicher und göttlicher Würde beschenkte Individuum. Und über diese Würde verfügt das Individuum ganz unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Religion, seinem kulturellen oder sozioökonomischen Hintergrund, seiner geschlechtlichen Identität, seiner Weltanschauung oder was auch immer. Weiter geht es in dieser Spiritualität immer um das Verbunden-Sein beziehungsweise das Eins-Sein dieses Individuum mit allem, was existiert und seinem eigenen göttlichen Urgrund. Es geht immer um die Überwindung des egodominierten Selbst („Falsches Selbst“), das Freilegen des eigenen ursprünglichen göttlichen Kerns („Wahres Selbst“) und die Rückkehr zum eigenen Ursprung. Folglich kann Spiritualität niemals faschistisch motiviert sein, sich über Feindbilder definieren oder im Widerspruch zur Wissenschaft stehen. Vielmehr ist sie sogar eine bereichernde Ergänzung, Fortführung und Horizonterweiterung der Wissenschaft. Spirituelle Weltsicht kann und muss immer undogmatisch, nondualistisch, interdependent und holistisch sein.

Dieses Verständnis von Spiritualität hat zur Folge, dass ich den unterschiedlichen Religionen und religiösen Traditionen der Menschheit zuerst einmal wertschätzend gegenüberstehe. Und aus der Innenansicht des Christentums heraus könnte ich unzählige Blogartikel mit der Nächstenliebe und dem sozialen und karitativen Engagement, das ich bei vielen Christen erleben durfte, füllen. Das bedeutet für mich im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ich die Religion im Allgemeinen oder das Christentum im Besonderen verkläre oder unkritisch sehe. Schließlich bin ich auf meinem Weg zur Genüge mit den toxischen Seiten der Religion in Berührung gekommen. Auf meinem Blog habe ich die Religion beziehungsweise bestimmte religiöse Auswüchse immer wieder auch kritisch gestellt.

Das aktuelle Weltgeschehen jedoch hat mich jüngst innehalten und die Rolle der Religion noch einmal kritischer hinterfragen lassen. Als Gläubiger ist mir hierbei aufgefallen, dass die Bilder der letzten 20 Jahre, die mich im Zusammenhang mit geopolitischen Machtkämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen am stärksten verstört und betroffen gemacht haben, die Religion zu verantworten hat. Und als Christ beobachte ich mit Sorge, dass Teile des Christentums zunehmend eine destruktive und lebensverachtende Rolle in diesen Machtkämpfen und Auseinandersetzungen einnehmen.

Im Folgenden werde ich exemplarisch vier dieser mich verstörenden Ereignisse herausgreifen und kurz Revue passieren lassen. Abschließend werde ich an dem, was der christliche Religionsgründer Jesus Christus laut biblischer Überlieferung zum Thema Macht und Gewalt vor etwa 2000 Jahren gelehrt hat, Maß nehmen, und daran die beschriebenen aktuellen Entwicklungen des Christentums bemessen. Auch, wenn mein Fokus primär auf dem Christentum liegt, so will ich, den Einstieg dennoch mit dem Islam machen.

ISLAMISTISCHER TERRORISMUS

Alles begann mit dem 11. September 2001. Von denen, die damals alt genug waren, den Anschlag auf das World Trade Center bewusst mitbekommen zu haben, ist mir bislang niemand begegnet, der nicht auch über 20 Jahre später noch klar benennen könnte, was er in dem Moment, als die Passagiermaschinen in die Tower stürzten, gerade machte. Ich selber nahm damals an einem „Ethik-Seminar“ teil. Es ging um ethisch-moralisches Handeln im beruflichen Kontext. Zuerst vibrierte mein Handy. Eine Freundin hatte mir eine SMS (denn WhatsApp und Co. gab es damals noch nicht) mit folgendem sinngemäßen Inhalt geschickt: „Das World-Trade-Center ist kaputt. Das Pentagon ist kaputt. Und mir ist auch schon ganz schlecht.“ Im nächsten Moment platzte eine Kollegin aufgeregt in den Seminarraum. Diese hielt sich ein Radio ans Ohr. So ein analoges Radio mit ausziehbarer Antenne und so. Im übernächsten Moment war der gesamte Kurs auch schon um einen Fernseher herum versammelt und zog sich die schockierenden Bilder aus New York rein. Immer und immer wieder. Als ich am nächsten Tag in einer norddeutschen Großstadt eine Tageszeitung kaufen wollte, gab es keine mehr. Vom deutschlandweiten Blatt bis hin zur kleinen Regionalzeitung, sie waren alle ausverkauft.

Der Anschlag vom 11. September hatte traumatisierendes Potenzial. Zum einen, weil die Weltgemeinschaft es niemals für möglich gehalten hätte, dass solch eine Tat auf amerikanischem Grund und Boden möglich sein könnte. Und zum anderen, weil er einer breiten westlichen Öffentlichkeit zum ersten Mal die Realität islamistischen Terrorismus‘ vor Augen führte.

In den folgenden Jahren sollten weitere Anschläge unterschiedlicher islamistischer Couleur auf europäischem Grund und Boden folgen. Insbesondere der Anschlag auf das Verlagsgebäude der französischen Satirezeitschrift „Carlie Hebdo“ im Jahr 2015 als Rache für die Veröffentlichung von Karikaturen des muslimischen Propheten Mohammed traf mich bis ins Mark. Er ließ mich fassungslos und wütend zurück. Schwang in der Tatausführung doch so unendlich viel Verachtung für die freiheitlichen Werte des Westens mit. Damals hätte ich nie zu denken gewagt, dass selbst diese Tat noch zu toppen gewesen wäre: Im Jahr 2020 wurden in Frankreich Lehrer von Islamisten enthauptet, weil der Stoff ihres Unterrichts nicht genehm war. Wie barbarisch, wie bestialisch!

Neun Jahre nach dem Terroranschlag vom 11. September nahm ich an einem Seminar der Universität Hamburg teil. Es ging um den Umgang mit Menschen anderer Kulturen. Zwei Aussagen, die dort von den Dozenten getätigt wurden, sind bei mir haften geblieben. Die erste Aussage war: Es gibt eine Korrelation zwischen der sozialen Lebenssituation in einer Gesellschaft und der Bereitschaft des Einzelnen, islamistisch motivierte terroristische Anschläge zu begehen. Je unsicherer ein Gesellschaftssystem und je prekärer die Lebenssituation der Bevölkerung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort auch Terrorakte verübt werden. Daher ereignet sich auch die große Masse islamistischer Terroranschläge in muslimischen Ländern. Und die zweite Aussage war: Die mit großem Abstand meisten Opfer islamistischer Terrorakte sind Moslems. Klar, beides relativiert nicht die Verantwortung, die die Religion des Islam für diese menschen- und lebensverachtenden Taten trägt, aber es ordnet sie in einen größeren Kontext ein und leitet sie ein wenig her. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Islam die rechtfertigende Ideologie und auch die praktische Infrastruktur für diese Taten geliefert hatte.

In den christlichen Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, wurde vergleichsweise schnell mit dem Finger auf den Islam gezeigt. Die Gräueltaten des islamistischen Terrorismus galten als letzter Beweis dafür, dass der Islam an sich von Grund auf böse oder gar ein satanischer Irrweg sei. Die Gräueltaten des Christentums, wie zum Beispiel Kreuzzüge und Hexenverbrennungen, lagen lange genug zurück, so dass mancher Christ sich ruhigen Gewissens über „diese Moslems“ erheben konnte. Damals war die Welt noch in Ordnung: Die Moslems waren die Bösen und die Christen die Guten. Doch schleichend und von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt, sollte sich dies nach und nach ändern…

REGENWALD IN FLAMMEN

2018/2019 gingen Bilder durch Presse und soziale Medien, auf denen große Flächen des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes in Flammen zu sehen waren. Dieser Regenwald brannte in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit wie niemals zuvor. Mitverantwortlich dafür zeichnete der damalige brasilianische Präsident, Jair Messias Bolsonaro. 2018 ins Amt gewählt, betrieb er eine Politik, die der Brandrohdung des Amazonas-Regenwaldes Vorschub leistete und Bestimmungen zum Schutz des Regenwaldes sukzessive aufgeweichte und abgeschaffte. Auch seine Maßnahmen zur Eindämmung der Brände wurde als völlig unzureichend kritisiert. Sie waren zu wenig, zu langsam und zu halbherzig.

Laut Wikipedia vertritt Bolsonaro „gesellschaftspolitisch rechtspopulistische bis rechtsextreme und wirtschaftspolitisch neoliberale Positionen“. Was mir lange Zeit gar nicht bewusst war, war, wie tief Bolsonaro in den evangelikal christlichen Milieus Brasiliens verwurzelt ist. Und dass die Stimmen eben dieser Milieus ausschlaggebend für seine Wahl zum Präsidenten Brasiliens gewesen waren. In diesen Milieus soll er Zustimmungswerte von bis zu 73 Prozent erhalten haben.

Doch wie kam es dazu? Denn noch Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts waren 9 von 10 Brasilianern katholisch gewesen. Seither jedoch sind die evangelikalen Richtungen des Christentums dort die am stärksten wachsenden Glaubensgemeinschaften. Mittlerweile zählen rund 30 Prozent von Brasiliens Gesamtbevölkerung zu evangelikal christlichen Kirchen. Geht diese Entwicklung so weiter, wird es dort in absehbarer Zeit mehr Evangelikale als Katholiken geben. Und die evangelikalen Milieus sind welche, die sich ins politische Geschehen einmischen und versuchen, Einfluss zu nehmen. Sei es, um Steuererleichterungen für ihre wie Wirtschaftsunternehmen geführten Kirchen zu erreichen, sei es, um ihre national rechts-konservativen Positionen in der Gesellschaft durchzusetzen und zu verfestigen oder um ihnen wohlgesonnene Entscheidungsträger an den wichtigen gesellschaftlichen Positionen zu installieren. Bolsonaro hatte dies erkannt und sich den evangelikal christlichen Milieus angedient. Die Frau, die er geheiratet hatte, entstammte der evangelikalen Kirche des populären Predigers Silas Malafai. In selbiger Kirche hatte Bolsonaro sich 2016 medienwirksam taufen lasse, und das obwohl er nach wie vor Katholik gewesen war. Im Wahlkampf schließlich hatte er die Positionen der evangelikalen Christen beispielsweise in Fragen der Sexualethik, der Drogenpolitik oder auch der Familienpolitik eingenommen und war mit Slogans wie „Brasilien über alles. Gott über allen“ in den Wahlkampf gezogen. Als Dank war in den evangelikal christlichen Milieus fleißig das Kreuz bei Bolsonaro gemacht worden.

Und kaum hatte Bolsonaro die Macht ergriffen, gingen diese apokalyptischen Bilder aus dem brasilianischen Amazonas-Regenwald um die Welt. Dieser brannte in einem Ausmaß nieder, wie es bis dahin nicht vorstellbar gewesen wäre. Die internationale Presse beobachtete das Krisenmanagement des neuen Präsidenten mit Unverständnis. Steckte dieser selbst hinter diesen Bränden, mit dem Ziel neues Weideland zu generieren? Verschleppte und unterminierte er bewusst die Brandbekämpfungsmaßnahmen? Oder war seine Intervention einfach nur schlecht koordiniert und durchgeführt? So mancher begründete Verdacht wurde in den Medien diskutiert. Und auch wenn man in dieser Sache von außen ziemlich eindeutige Indizien sammeln konnte, so liegt es doch in der Natur der Sache, dass die abschließende Beweisführung unvollendet bleiben musste.

Was einen aber förmlich ansprang, war das Schweigen der großen Mehrheit des evangelikalen Christentums, das Bolsonaro ins Amt gewählt hatte. Es war das Schweigen eben jener Christen, die sonst so lautstark ihre Stimme erheben, wenn es darum geht, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen oder die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu kämpfen. Als es um die Bewahrung der Schöpfung, um das Ausrotten ganzer Tierarten, um die Vernichtung des Lebensraumes indigener Menschen und die Bekämpfung des Klimawandels ging, da schwiegen genau diese Christen. Und dieses Schweigen war unüberhörbar.

ERSTÜRMUNG DES KAPITOLS

Am 06. Januar 2021 erstürmte ein Mob überwiegend weißer Männer eines der zentralen Symbole der amerikanischen Demokratie: Das Kapitol. Der Grund hierfür war die demokratische Abwahl des bis dato amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald John Trump. Auch wenn dieser Sturm vergleichsweise gesittet vonstattenging, so brachte er dennoch Vandalismus und Diebstahl mit sich und forderte eine Handvoll Menschenleben. Viel schlimmer jedoch: Es war ein Tabubruch von ungeahnter Reichweite, weil er fundamental mit der demokratischen Idee brach. Sehr schnell wurde klar, dass dieser Sturm in seinem Kern christlich motiviert war. Für den geneigten Beobachter dürften insbesondere die Bilder dieses gehörnten, halbnackten und stark tätowierten, selbsternannten „Q-Anon-Schamanen“, der nach der Erstürmung im Inneren des Kapitols unter „Halleluja“- und „Amen“-Rufen eine christliche Gebetsgemeinschaft anleitete, am schwersten einzuordnen und zu ertragen gewesen sein.

Die Erstürmung des Kapitols stellte den vorläufigen Höhepunkt einer längeren Entwicklung dar, die in den 1970er Jahren ihren Anfang genommen und unter Präsident Trump eine neue Intensität und Dynamik bekommen hatte. Über Jahrzehnte hinweg hatten sich im christlich evangelikalen Spektrum der USA sehr meinungsstarke und medial zunehmend präsente Strömungen herausgebildet, die ihren Einfluss auf die Politik, insbesondere ins Republikanische Milieu hinein, sukzessive ausbauten. Sich im apokalyptischen Endkampf gegen die antichristlichen Kräfte des omnipräsenten, jedoch nur schwer greifbaren Feindbildes „Kultur-Marxismus“ wähnend, hatten sich diese evangelikalen Strömungen ideologisch zusehends radikalisiert und ihr politisches Koordinatensystem ins Rechtsextremistische und Nationalistische verschoben. Auffällig war auch, wie dieses Weltbild nach und nach anschlussfähig für die krudesten Verschwörungsideologien geworden war. Hervorzuheben seien hier die Ideologien rund um „Q-Anon“ (oder auch einfach nur „Q“). Deren Kern die Annahme ist, dass weltweit satanische Eliten in Hinterzimmern und Kellern Kinder quälten und töteten, um anschließend deren Blut zu trinken. In Präsident Trump hatte dieses christlich evangelikale Spektrum „seinen“ Präsidenten im Amt. Ein Präsident, der ihresgleichen an den wichtigen Schalthebel der Macht installiert und Gesetzesvorhaben in ihrem Sinne verabschiedet hatte.

Lässt man diese Entwicklung des evangelikalen Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika Revue passieren, überrascht es nicht mehr wirklich, dass es allem voran Christen waren, die in den Chor derer einstimmten, die die Abwahl von Donald Trump als durch Betrug zustande gekommen ansahen. Und dies, ohne dass es belastbare Beweise für diese Behauptung gegeben hätte. Und es überrascht ebenso wenig, dass es eben diese Christen waren, die vorneweg marschierten, als es darum ging, das Kapitol zu erstürmen. War diesen Menschen bewusst, was für einen Schaden ihr Verhalten im Herzen der Demokratie anrichtete; was für eine Signalwirkung dies für nicht-demokratische oder demokratiefeindliche Gesellschaftssysteme gehabt hat? Und auch hier war wieder augenscheinlich, welche zentrale Rolle das Christentum bei der Rechtfertigung dieser Taten spielte. Denn deren Antriebsfedern waren christlich begründete Apokalyptik und christlich legitimierte Feindbilder.

RUSSLAND-UKRAINE-KRIEG

Am 24. Februar 2022 begann Russland einen brutalen und gnadenlosen Angriffskrieg, als es mit einem massiven militärischen Aufgebot zu Land, zur Luft und zur See in den benachbarten Bruderstaat Ukraine einmarschierte. Was dies auslöste, wird von vielen Russen und Ukrainern als Bruderkrieg bezeichnet. Wie wahrscheinlich ganz Europa versetzten auch mich die Bilder, die dieser Krieg produzierte, in eine Art Schockstarre. Und es dauerte einige Tage, bis ich anfing, mich aus ihr zu lösen und Worte zu finden.

Neben den unzähligen Fragen, die solch ein Krieg immer aufwirft, fragte ich mich zunehmend auch, welche Rolle die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Auseinandersetzung eigentlich einnimmt. In ersten Internet-Recherchen fand ich Bilder von deren Geistlichen, die russische Raketen und Schusswaffen segneten. Allerdings konnte ich nicht verifizieren, dass diese Bilder tatsächlich im Zusammenhang mit dem aktuellen Russland-Ukraine-Krieg stehen. Was ich jedoch verifizieren konnte, war, dass Russisch-Orthodoxe Geistliche vor der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 militärisches Gerät, Raketen, Schusswaffen und Soldaten der russischen Streitkräfte gesegnet hatten. In den Jahren danach jedoch war innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche ein leidenschaftlicher Streit darum entbrannt, ob es aus christlicher Sicht überhaupt zu vertreten sei, Kriegswaffen zu segnen. Aber selbst, wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Frage ihre Position in Frage gestellt und geändert haben sollte, so befremdet ihre Haltung im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine dennoch sehr. In der Vergangenheit waren von dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I. (der im Übrigen mehrfacher Milliardär ist) zu hören, dass der Kriegsdienst ein Akt der Nächstenliebe sei. Und auch als die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin sich in Richtung Ukraine in Bewegung setzte, war keinerlei Intervention von Seiten dieser Kirche zu vernehmen. Das höchste der Gefühle war der Appell, die Anzahl der Kriegsopfer möglichst gering zu halten. Mit zunehmender Kriegsdauer radikalisierten sich die Worte des Russisch-Orthodoxen Kirchenoberhauptes. So begann er irgendwann, den Krieg gegen die Ukraine als notwendigen und apokalyptischen Glaubenskrieg gegen einen gottlosen Westen, gegen „die Kräfte des Bösen“ zu deklarieren. Und für solch einen heiligen Krieg nimmt man Opfer unter den orthodoxen Glaubensgeschwistern in der Ukraine sowie die Zerstörung ihrer Gotteshäuser als notwendigen Kollateralschaden halt in Kauf. Meiner Ansicht nach, gibt es für dieses Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche zwei Beweggründe:

Zum einen ist da dieser uneingeschränkt herrschende Machthaber Russlands, Wladimir Putin. Dieser inszeniert sich seit Jahren als orthodoxer Christ und sucht auf diese Weise den Schulterschluss mit der Russisch-Orthodoxen Kirche. So lässt er sich gerne in medial wirksamer Weise beim Besuch russisch-orthodoxer Gottesdienste, beziehungsweise beim Praktizieren russisch-orthodoxer Rituale in Szene setzen und soll auch schon Gesetzesentwürfe vorab mit der Kirchenführung abgestimmt haben. Weiter umgibt er sich mit einer verklärenden Lebensgeschichte, wonach seine gläubige Mutter ihn als Säugling heimlich und gegen den erklärten Willen seines atheistischen Vaters hatte taufen lassen. Das entsprechende Taufkreuz soll auf dramatische Weise einen Brand in einem von Putins Anwesen überstanden haben. Dies und die Tatsache, dass seine Familie diesen Vorfall unversehrt überlebt hatte, soll Putins Bekehrungsmoment zum russisch-orthodoxen Glauben gewesen sein. Daher trägt er dieses Kreuz bis heute unablässig um seinen Hals. Putin weiß, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht nur etwa 70 Prozent der Bevölkerung bindet, sondern auch, dass sie eng mit der russischen Geschichte und der russischen Identität verbunden ist. So war sie ein entscheidender Faktor des inneren Zusammenhalts, als sich im 10. Jahrhundert der erste Staat auf russischem Gebiet gründete und stabilisierte. Und gerade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1980er und 1990er Jahren, gab sie weiten Teilen der russischen Gesellschaft Zuflucht, Trost und Identität. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist in Russland ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Putins Großmachtfantasien lassen sich nur mit ihr verwirklichen, nicht gegen sie. Am 18. März 2022 schließlich erreichte der Orthodoxe Christ Wladimir Putin einen an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbietenden Tiefpunkt. Am Jahrestag der Annexion der Krim riss er den Bibelvers „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannesevangelium, Kapitel 15, Vers 13) völlig aus dem Zusammenhang und entfremdete ihn dahingehend, ihn als göttliche Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine zu missbrauchen.

Darüber hinaus gibt es Stimmen, die der Ansicht sind, die Russisch-Orthodoxe Kirche selbst habe ein vitales Interesse daran, dass Russland diesen Krieg mit der Ukraine führt und auch gewinnt. Hintergrund ist, dass auf ukrainischem Boden mehrere orthodoxe Kirche existieren. Hervorzuheben, weil sie aufgrund ihrer Größen herausragende Stellungen einnehmen, sind hierbei die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarch untersteht, sowie die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die sich 2018 aus dem Zusammenschluss verschiedener orthodoxer Kirchen gründete und bis 2019 dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel unterstanden hatte. 2019 war diese Ukrainisch-Orthodoxe Kirche für eigenständig erklärt und in der Folge durch das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat von Alexandria, die Kirche von Griechenland und Zypern, anerkannt worden. Dies hatte natürlich auch die Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russlands zementiert und die Einflusssphären der Russisch-Orthodoxen Kirche geschmälert. Eine wie auch immer geartete Eingliederung der Ukraine in ein russisches Reich würde dies wieder abmildern.

Natürlich sind die Motivationen für den Einmarsch Russlands in die Ukraine vielschichtig und mannigfaltig. Es spielen geopolitische und wirtschaftspolitische Gründe, die Frage nach Lebensraum und Rohstoffen sowie nationalistische und geschichtsrevisionistische Beweggründe hinein. Darüber hinaus aber, so mein Eindruck, tobt unter seiner Oberfläche ein Religionskrieg; und zwar ein christlich motivierter. Dieser Eindruck verfestigte sich zusehends, als ich in den Sozialen Medien von Vertretern einer rechtsextrem christlichen Weltsicht las, die Wladimir Putin dafür feierten, dass dieser mit militärischer Stärke in letzter Konsequenz gegen einen dekadenten, degenerierten und von links-grün versifften Eliten durchseuchten Westen zu Felde zieht.

ZWISCHENRUF

Das waren jetzt drei Ereignisse, die aufgrund ihres verstörenden Charakters bei mir besonders haften geblieben sind. Drei Ereignisse, bei denen das Christentum direkt oder indirekt eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hat. Als ich diesen Blogartikel schrieb, wurde mir bewusst, dass die Auswahl dieser Ereignisse willkürlichen Charakter hat, weil man noch so viel mehr ähnlich gelagerte Ereignisse hervorkramen könnte. Was ist beispielsweise mit dem Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche? Hat es außerhalb des Christentums je solch ein System gegeben, in dem über Jahrhunderte hinweg, durch die Hierarchien der Institution gedeckt und vertuscht in struktureller Weise Kinder misshandelt und missbraucht werden? Ernüchternd ist es auch, sich mal mit dem Verhalten großer Teile der westlichen Christenheit zu den Abwürfen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945, die bis heute vielen hunderttausend Menschen das Leben gekostet haben, auseinanderzusetzen. Diese Aufzählung ließe sich wohl noch lange fortsetzen…

In diesem Kontext stellt der Religionsgründer des Christentums, Jesus Christus, dem Christentum in weiten Teilen ein Armutszeugnis aus, wenn er in der Bibel (Matthäus 7, 17-21) folgendes sagt: „So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Was sind die Früchte des Christentums?

Ich stelle all diese Fragen als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger. Und als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger muss ich es mir gefallen lassen, wenn Menschen, die sich nicht zum Christentum zählen, mir genau diese Fragen vorwerfen. Tatsächlich kam mir beim Schreiben dieses Blogartikels die Frage, ob diese Welt nicht ein besserer Ort wäre, wenn es meine Religion, das Christentum, einfach gar nicht gäbe.

DIE LEHRE JESU CHRISTI

Auch wenn es seltsam klingt, mir geht es in diesem Blogartikel nicht darum, mich politisch zu positionieren. Ich kann und will nicht darüber urteilen, ob man als Gläubiger seinen christlichen Glauben eher konservativ oder eher liberal zu leben hat. Für beides gibt es gute Gründe. Und für beides gibt es schlechte Vorbilder. Für mich haben die „Christen in der AfD“ dieselbe Berechtigung wie die „Bundesarbeitsgemeinschaft Christ*innen bei Bündnis90/DIE GRÜNEN“. Egal jedoch, ob konservativ oder liberal, Jesus Christus, der Begründer des Christentums, hat klare und unmissverständliche Ansagen dazu gemacht, was den Umgang mit Gewalt und dem Mitmenschen angeht. Und an diesen Standards habe ich als Christ Maß zu nehmen, egal, ob ich mich als konservativ oder als liberal verorte.

Um diesen Standards auf die Spur zu kommen, langt ein Blick in das Neue Testament der Bibel, um genau zu sein in das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5 bis 7. Dort findet sich die sogenannte „Bergpredigt“. Diese dürfte wohl die Predigt von Jesus Christus mit der größten Strahlkraft und dem höchsten Verbreitungsgrad sein. Sie durchzieht vom ersten bis zum letzten Buchstaben ein Geist kompromissloser Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit. Gleich zu Beginn, in den Seligpreisungen, wird dort diese Richtung unmissverständlich klargemacht. So wird unter anderem den „Leid Tragenden“, den „Sanftmütigen“, den „nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden“, den „Barmherzigen“, den „Frieden Stiftenden“ und den „um der Gerechtigkeit Willen Verfolgten“ Seligkeit zugesprochen (Matthäus 5, 1-12). Dadurch hebt Jesus Menschen, die diese Eigenschaften aufweisen oder diesen Werten nachstreben, gleichzeitig auch als Menschen hervor, an deren Lebenswandel es sich zu orientieren lohnt. Im Weiteren scheint Jesus so etwas wie einen Wesenskern zu definieren, den jeder Einzelne von sich aus besitzt und der von seinem Gegenüber zu respektieren ist und nicht angerührt werden darf. Der Vergleich zur Menschenwürde drängt sich auf. Zumindest deute ich es in diese Richtung, wenn Jesus sagt, dass man sich seinem Bruder gegenüber nicht erst dann schuldig macht, wenn man ihn tötet, sondern bereits, wenn man ihn „nur“ mit Worten wie „Nichtsnutz oder Narr“ belegt. Dies verbindet er mit der Forderung, sich mit seinem Widersacher unverzüglich versöhnen (Matthäus 5, 21-26). Eines der stärksten Motive in der Bergpredigt jedoch ist die Aufforderung, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Es soll kein „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ geben, sondern, wenn einem auf die rechte Backe geschlagen wird, soll man auch die andere hinhalten, wenn einem der Rock genommen wird, soll man auch noch den Mantel geben und wenn man genötigt wird, eine Meile zu gehen, soll man zwei Meilen gehen (Matthäus 5, 38-41). Diese ganzen Forderungen gipfeln schließlich in der Aufforderung, die eigenen Feinde zu lieben und für die zu bitten, die einen verfolgen. Nur durch dieses Handeln beweist man sich als Kind Gottes. Und: Wenn man nur die liebt, die einen auch lieben oder nur zu seinen „Brüdern“ freundlich ist, was tut man da Besonderes (Matthäus 5, 43-48)? Auch im Weiteren wendet Jesus den Blick weg vom äußeren Feind, hin zum inneren Feind, wenn er sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Es soll nicht darum gehen, den „Splitter“ im Auge des Nächsten zu sehen, sondern den „Balken“ aus dem eigenen Auge zu entfernen (Matthäus 7, 1-5). Für den Umgang mit unseren Mitmenschen formuliert Jesus abschließend folgende Maßgabe: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7, 12). Ein Verhaltenskodex, der auch unter „Goldene Regel“ bekannt ist. Eine Forderung, die oberflächlich betrachtet erst einmal griffig und nett klingt. Taucht man jedoch tiefer in sie ein, realisiert man, dass sie ganz viel Achtsamkeit und Empathie erfordert. Denn es geht darum, die eigenen Bedürfnisse und auch die des Mitmenschen wahrzunehmen, zu ergründen, zu verstehen und zu respektieren. Das war jetzt ein exemplarischer Ritt durch die Bergpredigt von Jesus Christus. Es ließen sich in den Evangelien des Neuen Testaments der Bibel zahlreiche weitere Stellen mit einer identischen Zielrichtung finden.

Mir ist schon klar, dass eine friedfertige und gewaltlose Ausrichtung, wie Jesus sie fordert, in der Realpolitik, in der es in letzter Konsequenz immer um Macht geht, wohl nicht umzusetzen sein dürfte. Zu komplex sind realpolitische Zusammenhänge und zu eindimensional sind Jesu Forderungen. Mein Eindruck ist jedoch, dass es Jesus in der Bergpredigt gar nicht um einen Leitfaden für politisches Handeln gegangen ist, sondern um eine Orientierung für die Menschen, die ihm nachfolgen. Und diese Nachfolger von Jesus Christus sind nun mal die Christen. An sie richten sich seine Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit. Der einzelne Christ wiederum ist derjenige, der politisch aktiv werden kann. Und mein Blogartikel zeigt, dass es tatsächlich viele Christen sind, die politisch Einfluss nehmen und sich engagieren. Und wenn diese Christen sich zu allererst an Jesu Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit orientierten und nicht damit beschäftigt sind, sich krankmachenden Endzeitideen, apokalyptischen Wahnvorstellungen und paranoiden Feindbildern hinzugeben, könnte diese Welt ein besserer Ort sein. Ganz sicher wären uns solch verstörende und traumatisierende Ereignisse, wie ich sie in diesem Blogartikel beschreibe, dann erspart geblieben. Ich frage mich, wann die Christen, die diese Ereignisse (mit) zu verantworten haben, endlich anfangen, die Lehre ihres Religionsgründers, Jesus Christus, von dem sie ja schließlich vorgeben, ihm nachzufolgen, ernst zu nehmen?

#Gedanke: Gottoffene Welt

„Wenn wir die Bibel lesen,
sehen wir,
dass die Welt im Alten Testament
gottoffen ist.
Gott ist in der Welt präsent:
Die Bäume loben ihn,
die Himmel verkünden seine Ehre,
die Sonne geht ihm zur Freude auf.

Das heutige
intellektuelle Christentum,
was Anti-Natur,
Anti-Mystik
und Anti-Gefühl ist,
das ist gerade nicht biblisch,
sondern eine Entfremdungsgeschichte,
bei der uns
ganz viel verlorengegangen ist.“

(Thorsten Dietz)

10.09.2020: BLUE NIGHT – FREIMAURER IN HAMBURG

Endlich! Am 10.09.2020 ab 19:30 Uhr öffnet das altehrwürdige Logenhaus in der Moorweidenstraße 36 in 20146 Hamburg seine Pforten zur ersten Blue Night nach dem Corona-Lockdown.

Der Vortrag dieses Abends wird sich dem Verhältnis des Freimaurertums zur Religion widmen. Ein Spannungsverhältnis, das seit Gründung der ersten Freimaurerloge immer wieder für Auseinandersetzungen sorgte und auch heute noch polarisiert und manche Kontroverse hervorruft.

Innerhalb der Bruderschaft der Freimaurer sind die Positionen dazu so mannigfach wie es Brüder gibt. Von den Freimaurern, die den freimaurerischen Weg in einer Weise leben, dass er sich kaum noch von einer Religion unterscheidet, bis hin zu Freimaurern, die im Freimaurertum eine Art humanistischen Gegenentwurf zu den Religionen sehen, lässt sich jede Auffassung wiederfinden und vertreten.

Folglich war auch das Verhältnis des Freimaurertums zu den Religionen, insbesondere auch zu den christlichen Glaubensrichtungen, in derem kulturellen Umfeld das Freimaurertum entstand und sich verbreitete, ganz unterschiedlich ausgeprägt. Grundsätzlich lässt sich dies wohl auf folgenden Nenner bringen: Je fundamentalistischer und dogmatischer eine Religion verstanden und ausgeübt wird, desto angespannter und feindseliger ist ihr Verhältnis zum Freinaurertum. Und je mehr Verständnis und Praxis einer Religion in der Mystik wurzeln, desto mehr Anknüpfungspunkte zum Freimaurertum bestehen und desto fließender ist der Übergang zum Freimaurertum.

Nach dem Vortrag wird wieder die Möglichkeit bestehen, in entspannter Atmosphäre und beim Getränk der eigenen Wahl, zum Gehörten ins Gespräch zu kommen.

Wenn Du Interesse an dieser Veranstaltung hast, kannst Du Dich hier anmelden. Wenn Du noch Fragen hast, kannst Du sie gerne hier gerne los werden.

#Gedanke: Einfachheit der Religionen

„Die größten Religionen
sind tatsächlich alle ganz einfach.

Sie bleiben ohne Zweifel alle
sehr wesentlich verschieden voneinander,
aber in ihrer inneren Realität
sind Christentum, Buddhismus, Islam und Judentum
äußerst einfach.

Und sie führen alle schließlich
zu dem einfachsten und überraschendsten Endpunkt
der unmittelbaren Konfronation
mit dem Absoluten Sein,
der Absoluten Liebe,
der Absoluten Barmherzigkeit
oder der Absoluten Leere
durch ein unmittelbares und hellwaches
Engagement im alltäglichen Leben.“

(Thomas Merton)

Dogma trennt

EIN CHRIST UND EIN BUDDHIST

Vor einigen Jahren war ich auf der Zeremonie einer christlichen Taufe. Der Sohn eines guten Freundes hatte sich entschieden, sich taufen zu lassen. Wenn ich mich recht entsinne, war er zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Die Taufe fand in einem Fluss – der Elbe – statt. Es war eine stimmige und naturverbundene Zeremonie.

Unter den Gästen lernte ich einen Buddhisten kennen, mit dem ich ins Gespräch kam. Je länger wir uns unterhielten, desto größer war die Verbundenheit, die wir für einander empfanden. Erzählte er doch von seinen Erfahrungen mit innerer Stille, Kontemplation und Achtsamkeit, die den meinen sehr, sehr ähnlich waren. Das galt Ebenfalls für das Bewusstsein, das daraus resultierte, sowie das Wahrnehmen des Lebens und des Menschen. Auch bei den ethisch-moralischen Konsequenzen, die sich daraus für den eigenen Lebenswandel ergeben, waren wir nicht weit auseinander.

Nach der Taufe stellten wir christlich Gläubigen uns in einen Kreis und sprachen das Apostolische Glaubensbekenntnis. Bei diesem Bekenntnis handelt es sich um so etwas wie den kleinsten gemeinsamen inhaltlichen Nenner der Christenheit. Hierin wird in drei Abschnitten definiert und proklamiert, was der Christ unter Gott, was er unter Jesus Christus und was er unter dem Heiligen Geist versteht. Der Buddhist stand seltsam ausgegrenzt daneben und sprach dieses Bekenntnis nicht mit.

Später fragte ich ihn, warum er das Apostolische Glaubensbekenntnis nicht mitgesprochen hatte. Nur folgerichtig meinte er sinngemäß zu mir, dass es halt nicht seine Glaubenslehre sei, die in diesem Glaubensbekenntnis formuliert sei. Deswegen konnte und wollte er es auch nicht mitsprechen. Es beschämte mich ein wenig, dass dieser Menschen in dieser Situation durch mein christliches Glaubensbekenntnis ausgeschlossen worden war.

ERFAHRUNG UND LEHRMEINUNG

Schon seltsam: Als es um die spirituellen Erfahrungen ging, die unsere jeweiligen Religionen uns ermöglicht hatten, sowie um das daraus resultierende Bewusstsein samt der Konsequenzen für den eigenen spirituellen Weg, waren der Buddhist und ich fast schon deckungsgleich beieinander. Als es jedoch um die Worte ging, mit denen unsere Religionen diese Erfahrungen in „feststehende Definitionen, grundlegende normative Lehraussagen mit unumstößlichem Wahrheitsgehalt“ – sprich in Dogmen – gepresst hatten, lagen wir meilenweit auseinander. Unsere Erfahrungen einten uns, unsere Dogmen trennten uns.

Diese Tendenz, das Trennende zu betonen, wird von den verschiedenen Religionen der Menschheit oftmals dadurch verstärkt, dass die eigenen Dogmen als göttlich offenbart und folglich absolut verstanden und vertreten werden.

Ich glaube, die Welt, in der wir leben, könnte ein besserer Ort sein, wenn sich die Gläubigen der unterschiedlichen Religionen zu allererst offen, wertschätzend und gleichberechtigt begegneten und über ihre sich so stark gleichenden Erfahrungen mit dem Göttlichen austauschten und erst danach darauf schauten, welche bisweilen gegensätzlichen Lehrgebäude ihre Religionen daraus errichtet haben. An besagtem Tag konnten der Buddhist und ich davon schmecken, dass solch ein besserer Ort möglich ist…

Adams Wiederkehr

BLOGPARADE – BUCHVORSTELLUNG

Vor einigen Monaten stolperte ich über einen ganz besonderen Blog: Er nennt sich „Der Krisenwandler“ und wird von Didi Burnault geführt. Dieser setzt sich dort auf berührend ehrliche und gleichzeitig konstruktive und bodenständige Weise mit seiner Depressionserkrankung auseinander. Dieser Blog tat es mir dermaßen an, dass er es in meine Sammlung spiritueller Links schaffte.

Anfang Juni diesen Jahres startete der Krisenwandler eine „Buchparade„. Wer wollte, war dazu aufgerufen, ein oder mehrere Bücher vorzustellen, die sein Leben nachhaltig geprägt haben. Nur zu gerne beteilige ich mich daran.

Ich habe mich dafür entschieden, das Buch „Adams Wiederkehr – Initiation und Männerspiritualität“ (früherer Titel: „Endlich Mann werden“) des Franziskaner-Paters Richard Rohr vorzustellen. Dieses umfasst 240 Seiten und kostet etwa 17,- €uro.

ÜBER DEN AUTOR

Richard Rohr (geb. 20.03.1943, Topeka) wurde 1961 in den Franziskanerorden aufgenommen und 1970 in West-Topeka zum Franziskaner-Priester geweiht. Im selben Jahr beendete er sein Theologiestudium am St. Leonhard Seminar in Dayton mit dem Master-Grad. Hiernach begann er als Religionslehrer Jugend-Exerzitien zu leiten, woraus die charismatische Familien- und Laien-Kommune „New Jerusalem“ in Cincinnati hervorging. Nach einem langjährigen Engagement in der Friedensbewegung lebt er seit 1987 in der Franziskanergemeinschaft in Albuquerque in New Mexico, wo er das „Center for Action and Contemplation“ aufbaute. Richard Rohr begründete auch die Männerbewegung M.A.L.Es (Men as Learners and Elders).

Neben zahlreichen Publikationen und Vorträgen zu den Themenkreisen männlicher Spiritualität, sowie der Durchführung von entsprechenden Seminaren, brachte er sich federführend in die Ausgestaltung eines Initiationsritus für Männer ein. Diesen durchliefen seit Anfang der 1990er Jahre viele tausend Männer aus den USA, aus Europa sowie aus Australien. Hieraus ist eine spirituelle Männerbewegung entstanden.

Inhaltlich befasst sich Richard Rohr unter anderem mit dem Enneagramm, den Formen und Bedürfnissen männlicher Spiritualität, dem kontemplativen Gebet, den alten archaischen Initiationsriten, archetypischen Bildern, christlicher Mystik und den praktischen Konsequenzen, die sich aus diesen Themen für das alltägliche Handeln ergeben. Er würdigt seine christlichen Wurzeln, ist aber bemüht, die großen, gemeinsamen spirituellen Linien, die zu jeder Zeit und in jeder Kultur in den unterschiedlichen Religionen und Kulten Ausdruck fanden, freizulegen und wertzuschätzen. Er geht davon aus, dass alles Sein auf einer tieferen Ebene miteinander verbunden ist. Folglich ist jeder einzelne Mensch Teil des „Großen Ganzen“ und spiegelt dieses wie ein Hologramm in sich selbst wieder.

Mein spiritueller Weg wurde nachhaltig von Richard Rohr geprägt. Das gilt sowohl für die Themen, die er bewegt, als auch für seine Herangehensweise an diese. 2007 durchlief ich seine Männerinitiation. Diese stieß tiefe und umwälzende innere Prozesse bei mir an. Prozesse, die noch immer ihre Kreise ziehen. 2009 lernte ich Richard Rohr persönlich kennen, als ich und weitere Männer mehrere Tage lang auf engstem Raum mit ihm zusammenarbeiten durften. Es galt, die erste Männerinitiation auf deutschem Boden durchzuführen. Ich war tief beeindruckt von der Herzlichkeit, der Offenheit, der Authentizität und der Demut, mit der er den Menschen begegnete.

ZUM INHALT DES BUCHES

Zeit seines Lebens hat sich Richard Rohr mit den archaischen Initiationsriten befasst. Er hat die Riten der unterschiedlichen Kulturen studiert, erforscht und miteinander verglichen. Die Quintessenz dessen, was er dabei zu Tage förderte, hat er in seinem Buch „Adams Wiederkehr“ zusammengefasst. In gewisser Weise handelt es sich bei dem Buch um so etwas wie das Lebenswerk oder das persönliche Manifest von Richard Rohr.

Mit am interessantesten ist seine Feststellung, dass so gut wie alle alten Kulturen über Initiationsriten für ihre jungen Männer verfügten. Diese Riten existierten noch vor den institutionalisierten Religionen. „Sie entwickelten sich beinahe überall vor der Achsenzeit (ca. 800 bis 200 vor Christus) als die Menschheit weltweit organisiert zu denken begann.“ Interessant ist auch, dass in der Regel nur junge Männer initiiert wurden. Die rituellen Unterweisungen für die Frauen lagen eher im Bereich der Fruchtbarkeitskulte.

Besonders bemerkenswert ist, dass diese Initiationsriten unabhängig vom jeweiligen geographischen Ort und der jeweiligen kulturellen Einbettung, in der sie stattfanden, markante Parallelen aufwiesen. Dies gilt sowohl für die inhaltliche Zielrichtung, als auch für die symbolische und rituelle Ausgestaltung. Auch die Abläufe dieser Initiationen glichen sich augenscheinlich.

„Der Weg der Initiation wurde immer an heiligen Orten der Kraft und in Form eines Rituals gelehrt.“ Hierbei nahm die Natur großen Raum ein. In vielen Kulturen hatten die Initianten lange Zeiten der Einsamkeit in der Natur zu verbringen.

Doch zunächst wurde der zu initiierende junge Mann vom „alltäglichen Leben, den alten Rollen, Bestärkung durch die Frauen“ getrennt. Dies brachte ihn „in den Schwellenraum“. Ein Ort außerhalb der eigenen Wohlfühlzone. Der Schwellenraum „ist die gesegnete Zeit, wenn wir nicht sicher sind und wir nicht die Kontrolle haben, wenn sich etwas wirklich Neues ereignen kann“. Es ist der Raum, in dem „das Alte nicht mehr“ ist und „das Neue noch nicht“. Es ist die Zeit des Abstiegs, des Wartens ohne Antworten, des „Chaos des Unbewussten“, der Einsamkeit und die Zeit des „Ringens mit der eigenen dunklen Seite“. Doch nur an diesem Ort ist „eine Begegnung mit dem Numinosen“ möglich. Nur an diesem Ort ist tiefgreifende Veränderung, innere Transformation möglich.

In diesem Schwellenraum wurde der junge Mann mit Wahrheiten konfrontiert, die ihm seine Sterblichkeit, seinen eigenen Schatten, seine Schwachheit und seine Irrelevanz vor Augen führen sollten. Die sogenannten „Fünf harten Wahrheiten“ leitete Richard Rohr daraus ab. Diese lauten: „Das Leben ist hart“, „Du bist nicht so wichtig“, „In Deinem Leben geht es nicht um Dich“, „Du hast nicht die Kontrolle“, „Du wirst sterben“. Dies sind Wahrheiten, die geeignet sind, das Ego-Selbst des jungen Mannes in seinen Grundfesten zu erschüttern, von seinem Thron zu stoßen und in einen neuen Kontext des „Großen Ganzen“ zu verorten und einzubetten.

Am tiefsten und dunkelsten Punkt des Schwellenraums schließlich wurde der junge Mann auf dramatische Weise verwundet. Und starb einen grausamen Tod. Er stürzte hinab in sein eigenes Grab. Umgeben von der Finsternis und der Stille des Todes. Und dort hatte er auszuharren…

Auf den Tod des jungen Mannes erfolgte die machtvolle Auferstehung des gereiften Mannes. Und dieser Mann hatte eine Weihe erlebt. Er war auf verschiedenen Ebenen eingeweiht – initiiert – worden: Initiiert ins „Mann-Sein“ und damit in die Gemeinschaft der Männer. Im Idealfall war er aber auch in das „große Geheimnis“ oder die „große Vision“ des Lebens initiiert worden. Im Idealfall war er „rückverbunden“ worden in die spirituellen Kreisläufe und Gesetzmäßigkeiten allen Seins. Im Idealfall war er in Berührung gekommen mit seinem „eigenen Seinsgrund“ und hatte gekostet vom Eins-Sein mit allem, was ist. Im Idealfall hatte er sich als „geliebten Sohn Gottes“ erfahren.

Im Idealfall war das „Falsche Selbst“ des jungen Mannes gestorben und das „Wahre Selbst“ auferstanden. Meistens ging damit einher, dass der Initiant auch einen neuen Namen annahm. Seinen ureigensten Seelennamen. Diese Erfahrungen hatten das Potential, der Anfang der ganz persönlichen Heldenreise des Mannes zu werden. Denn im Gegensatz zu den Religionen erzählten die Initiationsriten den Weg des Mannes von seinem Ende her. Und für diesen Weg setzten sie den „guten Anfang“. Es gab in der Biografie und der Identität des Mannes in Bezug auf seine Initiation immer ein klares „Davor“ und ein klares „Danach“.

In einigen Kulturen kehrte der Mann aus den Tiefen dieses Rituals mit einer Waffe zurück. Diese hatte er sich während seiner Zeit im Schwellenraum selbst bauen müssen. Nicht selten brachte er auch „ein Geschenk“ in die Gemeinschaft mit.

Seine Ausführungen zu den archaischen Initiationsriten flankiert Richard Rohr immer wieder mit sehr klarer Kritik an der Religion, der er selber angehört: Dem Christentum. Seiner Einschätzung nach wusste das Christentum in seinen Anfängen um die Notwendigkeit und den Wert der Initiation. Doch je mehr sich das Christentum institutionalisierte und zum weltlichen Machtfaktor wurde, desto mehr geriet dieser Schatz in Vergessenheit. Heute findet sich dieses Wissen nur noch in rudimentärer Form wieder. Zum Beispiel in der Symbolik von Taufe und Abendmahl oder in Feierlichkeiten wie Firmung und Konfirmation.

SCHWÄCHEN DES BUCHES

Auf vergleichsweise wenigen Seiten hat Richard Rohr sehr viel Essentielles zum Thema Initiationsriten und männlicher Spiritualität zusammengetragen. Da liegt es in der Natur des gewählten Formats, dass er vieles lediglich anreißen kann, ohne weiter in die Tiefe zu gehen.

Vom Schreibstil her gelingt es Richard Rohr sehr anschaulich und nachvollziehbar sein. Daher liest sich das Buch auch sehr flüssig. Im Umkehrschluss kommt dieser Schreibstil jedoch nur wenig wissenschaftlich daher.

Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Richard Rohr nur vergleichsweise wenig mit Quellenangaben arbeitet. Ich will nicht unterschlagen, dass er dem Buch einige Seiten mit Quellenangaben und auch weiterführender und vertiefender Literatur hintenanstellt. Allerdings wären mehr und auch mehr direkte Verweise im Text oftmals hilfreich gewesen.

Dann gelingt es Richard Rohr nicht immer, seine Themen trennscharf voneinander abzugrenzen. So kommt es hier und da zu Überschneidungen und zu Wiederholungen. Manches Mal werden Gedanken angerissen, abgeschlossen und an späterer Stelle wieder aufgenommen; ohne dass dies dem Leser vorher transparent gemacht worden wäre.

Und zu guter Letzt blendet Richard Rohr in dem Buch die Initiationsriten der Mysterienbünde komplett aus. Er widmet sich tatsächlich ausschließlich den archaischen Initiationsriten. Dabei trifft vieles, was er für diese Initiationsriten herausarbeitet, genauso für die Initiationsriten der Mysterienbünde zu. Hier wäre es interessant gewesen zu beleuchten, in welcher historischen und inhaltlichen Beziehung diese beiden unterschiedlichen Formen der Initiationsriten zueinander stehen.

MEIN FAZIT

Dieses Buch hat meinen spirituellen Weg geprägt wie nur wenige andere. Und weil ich im persönlichen Austausch mit Richard Rohr erfahren durfte, welch inhaltliche Substanz und Tiefe dieser Mann mitbringt, lässt es mich auch die Schwächen dieses Buches einordnen und mir verzeihlich erscheinen.

Da ich die Initiation nach Richard Rohr selbst durchlaufen habe, wandelte und vertiefte sich auch mein Zugang zu diesem Buch. Und je länger sich das, was ich in diesem Initiationsritus durchlebt habe, in meinem Leben entfaltet, desto mehr fallen mir neue Facetten darin auf. Es gibt wohl kein Buch, das ich so oft zur Hand nehme und immer wieder Neues entdecke.

Und zu guter Letzt habe ich durch dieses Buch überhaupt erst begriffen, dass im Kern des freimaurerischen Rituals ein alt hergebrachter Initiationsritus überlebt hat. Und sozusagen als Nebenprodukt gelang es mir auch durch dieses Buch, die Brücke zu schlagen, dass diese besondere Verbindung von mittelalterlichem Bauhandwerk und archaischem Initiationsritus, die das Wesen des Freimaurertums ausmacht, wohl zur Zeit des Benediktinerordens im Zeitalter der Romanik seinen Anfang nahm. Als mir das klargeworden war, entschloss ich mich, der Bruderschaft der Freimaurer beizutreten. Das Buch eines praktizierenden Katholischen Mönchspaters hat den ausschlaggebenden Impuls gesetzt, Freimaurer zu werden … wenn das nur der Papst wüsste…