Legende

Aus westlicher Richtung sollte ich das Heiligtum betreten. So wie unzählige Suchende und Neophyten vor mir. Die Sonne prangte über mir. Doch die mannigfach rötlichen Schleier, die sie über Himmel und Landschaft legte, zeugten davon, dass ihre Kraft am Schwinden war. Der Tag lag im Sterben. Die Dunkelheit und die Kälte der Nacht streckten ihre unerbittlichen Klauen nach allem aus, was sie zu fassen bekamen.

Ich trat auf das große, steinerne Portal mit dem massiven Holztor zu. Gesäumt wurde es von zwei Säulen. Davor stand ein älterer Mann in einer weißen Kutte. Auf seiner Brust ein rotes Tatzenkreuz, auf dem Kopf der hohe Hut des Magiers, in der Hand das Schwert des Kriegers. An der Klinge seines Schwertes tänzelten unzählige feurige Flammen. Ein voller Bart bedeckte den Großteil seines Gesichtes. Seine tiefblauen Augen blickten mich durchdringend an. „Wer bist Du?“, stieß er hervor. Ja, wer war ich? Verzweifelt rang ich nach einer Antwort. Doch es blieb nur mein Schweigen. „Woher kommst Du und wohin gehst Du?“, fragte der Wächter nun. Doch auch auf diese Fragen vermochte ich keine Antwort zu finden. Vielleicht erhoffte ich, sie hinter dem hölzernen Tor zu erhalten, das der Alte bewachte. Hilflos wich ich seinem Blick aus. Und wieder nur mein Schweigen. Unvermittelt jedoch trat der Alte beiseite und das Tor öffnete sich.

Nachdem ich es durchschritten hatte, blieb ich stehen. Und verharrte einen Augenblick lang. Vor mir breitete sich ein weiter Raum aus. Dieser wurde zu allen Seiten von gewaltigen, dunkelgrauen Steinmauern begrenzt, die sich schier unendlich in die Höhe erhoben. Ein atemberaubendes Gewölbe schloss diese Mauern zum Himmel hin ab. Eine Kathedrale. Bunte, langgezogene Fenster, die sich beinahe über die gesamte Höhe erstrecken, waren in die Wände eingelassen. Die untergehende Sonne schien in schummrigem Bunt durch sie ins Innere dieses Bauwerks. Am östlichen Ende stand ein massiver Altar. Auf diesem brannten drei Kerzen. Hinter dem Altar führte ein kleines hölzernes Tor ins Freie. Solche Tore existierten ebenfalls in der Nordwand sowie in der Südwand. Die ganze Kathedrale schien sich zu Gott empor zu strecken. Jeder Winkel flüsterte: „Ehre sei Gott!“

Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als das Tor, durch das ich diese Kathedrale betreten hatte, hinter mir rumpelnd ins Schloss fiel. Ich drehte mich um und rüttelte an seinem massiven Knauf. Doch das Tor war verschlossen. Kurz wallte so etwas wie Panik in mir auf. Hektisch blickte ich um mich. Die Sonne schien so gut wie untergegangen zu sein, denn undurchsichtige Dunkelheit breitete sich nun überall in der Kathedrale aus. Auch der nur noch schwache Schimmer, der durch die hohen Fenster fiel, änderte nichts mehr daran. Einzig der Altar im Osten wurde noch von den drei Kerzen erhellt. Eine unheimliche Ahnung ergriff von mir Besitz: Diese Kathedrale versank in Finsternis. Ich musste hier raus!

Eilig hastete ich zum Tor im Süden. Und riss es auf. Unverhofft sah ich mich einer in eine schwarzen Kutte gekleideten Gestalt gegenüber; die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie hielt einen kleinen wie spitzen Dolch in der erhobenen Hand. Urplötzlich stach sie auf mich ein. Mit beiden Händen gelang es mir, ihren Stoß abzufangen und die Hand, in der sie das Messer führte, festzuhalten. Durch die Wucht dieses Angriffs ging ich in die Knie. Die Gestalt presste den Dolch weiter in meine Richtung. Ich stemmte mich mit aller Gewalt dagegen. Meine Arme schmerzten zusehends. Langsam kam die Gestalt mit ihrem Gesicht dem meinen nahe, als wollte sie mich küssen. Als mich ihr eisiger Atem umwehte, erkannte ich ihr Gesicht: Es war mein Gesicht! Die Gestalt holte tief Luft. Mein Atem entwich meiner Lunge. Etwas abgrundtief Kaltes und unbeschreibliches Trauriges blieb zurück. Ich rang nach Luft. Doch da war keine Luft mehr. Panik! Die Gestalt saugte meinen Atem in sich auf! Mein Körper sackte zusammen. Kälte und Traurigkeit breiteten sich in mir aus. Und hinterließen taube Leblosigkeit. Tränen liefen meine Wangen hinunter. Schließlich konnte ich sehen, wie ein kleiner Lichtfunke durch meinen Mund meinen Körper verließ. Er schwebte geradewegs auf die schwarze Gestalt zu. Sie schien diesen Lichtfunken in sich aufzusaugen.

Unverhofft erblickte ich einen eisernen Kerzenständer, der neben mir auf dem Boden stand. Meine rechte Hand ließ den Arm der Gestalt los. Als ich nach dem Kerzenständer griff, ließ sie den Dolch in meinen Bauch gleiten. Schmerz durchfuhr mich. Blut quoll hervor. Ein donnerndes Rumoren dröhnte durch die Kathedrale. Ich nahm mein letztes bisschen Kraft zusammen und schleuderte den Kerzenständer in das Gesicht der Gestalt. Sie taumelte nach hinten. Und fiel zu Boden.

Ich sank in mich zusammen. „Steh auf und lauf!“, schrie etwas in mir. Plötzlich schlug ein massiver Steinquader krachend neben mir in den Boden ein. Splitter flogen durch den Raum. Ein Grollen begann den Raum zu erfüllen. Steine sowie Balken der Konstruktion des Dachgewölbes stürzten in die Tiefe. Risse taten sich im Steinboden auf. Die Mauern bröckelten. Die pompösen Fenster barsten. Die Kathedrale brach in sich zusammen! Ich musste hier raus! Taumelnd richtete ich mich auf. Und stolperte zum Tor im Norden. Das Dröhnen, das die Kathedrale durchzog, schwoll an.

Am Nordtor angelangt, drückte ich zitternd die Klinke herunter. Doch dahinter stand eine weitere Gestalt! Es durchfuhr mich! Sie war gekleidet wie die erste; die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Schlagartig holte sie mit ihrem Dolch aus und stach in die Richtung meines Kopfes. Sie traf mich an der Stirn. Ich stürzte rücklings zu Boden. Blut lief über mein Gesicht. Im nächsten Moment schon kniete die Gestalt auf mir. Unter ihrer Kapuze konnte ich wieder mein Gesicht erkennen. Verdammt, was nur hatte es damit auf sich?! Wieder entwich mein Atem meiner Lunge. Wieder diese Leblosigkeit, diese Kälte, diese Traurigkeit. Ich ergab mich.

Plötzlich bemerkte ich, wie ich langsam aus meinen Körper trat. Schließlich stand ich neben mir und dieser Gestalt, die auf mir kniete. Ich schaute zu, wie mich dieser Lichtfunke abermals verließ und auf die Gestalt zuschwebte. Etwas Wunderschönes, zutiefst Friedliches und gleichzeitig unendlich Liebevolles ging von diesem Funken aus. Sein Strahlen verbreitete Helligkeit und Wärme. So etwas Wundervolles hatte ich vorher noch nie gesehen. Ein Gefühl von überwältigender Ergriffenheit überkam mich. Ich sah, wie Tränen aus meinem Körper, der dort auf dem Boden lag, rannen. Für einen Moment stand die Zeit still. Und mir wurde bewusst: Dies hier ist mein Ende. Dieser Funke wird erlöschen, sobald er im Inneren der Gestalt angekommen ist.

Ein dumpfer Schlag durchfuhr meinen Körper. Ich ruckte zusammen. Und öffnete wieder die Augen. Jetzt lag die Gestalt regungslos auf mir. War sie tot? War sie bewusstlos? Teile der hölzernen Dachkonstruktion lagen auf ihr. Ich versuchte sie von mir wegzudrücken. Doch das Holz wog schwer. Ich mobilisierte meine letzte Kraftreserven. Ruck um Ruck zog ich mich unter der Gestalt hervor. Und bleib neben ihr liegen.

Keine Kraft mehr aufzustehen. Also kroch ich über den kalten Steinboden. Eine blutige Spur zog sich hinter mir her. Das Hinabstürzen und Zerschellen von massiven Holz- und Gesteinsbrocken erfüllte jetzt die gesamte Kathedrale und wuchs noch weiter an. Die Außenwände begannen in sich zusammenfallen und rissen die Reste des Daches mit sich. Überall schlugen Trümmer ein. Vom Eingang im Westen aus tat sich ein breiter Riss im Boden auf. Und arbeitete sich unaufhaltsam vor in Richtung Altarraum im Osten. Er hinterließ eine tiefe Schlucht. Ich musste durch das Osttor hindurch sein, bevor der Riss dort angekommen ist! Geschwächt und vor Schmerzen stöhnend robbte ich Meter für Meter voran. „Ergib Dich! Lass Dein Leben endlich los.“, flüsterte eine Stimme in mir. „Nein, niemals!“, befahl ich mir, „Niemals!“

Als ich am Tor im Osten ankam, drückte ich mit allerletzter Kraft seine Klinke herunter. Unter mir breitete sich langsam eine Blutlache aus. Mein Blut. Ich spürte, wie der Boden um mich herum langsam aufriss. Das Tor schwang knarrend auf. Und wieder stand solch eine schwarz gekleidete Gestalt vor mir! Sie stieß ihren Dolch in Richtung meines Herzens. Ich konnte den Stoß parieren, zunächst einmal. Doch langsam drückte sie fester. Bösartig lächelte mich mein eigenes Gesicht unter der Kapuze an. Plötzlich konnte ich den kalten Atem der Gestalt spüren. Wieder begann mein Atem meiner Kehle zu entweichen. Wieder drangen diese leblose Kälte und Traurigkeit in mich ein. Doch diesmal krallten sie sich in meinem Inneren fest. Ganz fest. Dieser winzig kleine Lichtfunken verließ abermals meinen Mund und schwebte auf die Gestalt hinzu. Mein letzter Lebenswille erlosch. „Es ist vorbei.“, ging es mir durch den Kopf, als die Gestalt ihren Dolch langsam in mein Herz rammte. Schmerz durchfuhr mich. Blut quoll hervor.

Das Letzte, was ich sah, war, wie alle drei Gestalten um mich herum knieten. Gierig und triumphierend. Im Eingang der Kathedrale stürzten die beiden Säulen um. Wenige Meter hinter uns brach der Altar in sich zusammen. Seine Kerzen erloschen. Der Boden unter uns gab nun nach. Ich verlor den Halt. Die drei Gestalten und ich rutschten in den Spalt, der sich berstend im Altarraum auftat.

Und fielen. Hinein in die Tiefe. Mein Schrei erstarb, noch bevor er meine Lippen verlassen konnte. Wir stürzten ins Dunkle. Aus meinem äußeren Schweigen wurde inneres Schweigen. Aus Dunkelheit wurde Finsternis. In beides tauchten wir ein. Tiefer und tiefer. Bis es uns ganz und gar verschlungen hatte. Stille.

Stille. Mein tauber Körper lag auf hartem Untergrund. Ich drehte mich nach links und stieß gegen Holz. Und als ich mich nach rechts drehte, ebenso. Ich wollte meinen Kopf aufrichten, doch auch nach oben wurde ich durch Holz begrenzt. Mein Bewusstsein verlor sich erneut im schweigenden Dunkel. Finsternis.

Schließlich wurde der Sargdeckel von außen geöffnet. Das warme Hell einer von Kerzen erleuchteten, steinernen Gruft fiel zu mir herein. Leblos und leer lag mein Körper da. Der alte Mann mit dem weißem Rauschebart und den hellblauen Augen stieg zu mir in den Sarg. Auf seinem Haupt noch immer der hohe Hut des Magiers. Das Schwert des Kriegers auf den Rücken geschnallt. „Erhebe Dich, Sohn!“, sprach er. Er setzte seinen rechten Fuß an meinen rechten Fuß und ergriff mit seiner rechten Hand meine rechte Hand. Und zog mich zu sich empor. Hierbei setzte er sein rechtes Knie an mein rechtes Knie, drückte seine Brust an die meine und legte seinen linken Arm von rechts um meine Schultern. So zog er mich zu sich heran. Dort standen wir. In inniger Umarmung. Ich zitterte am ganzen Leib vor Schwachheit und vor Schmerz.

Nun atmete der alte Mann tief ein, wobei er die Wortsilbe „JH“ wisperte. Hiernach atmete er lange aus, wobei er die Wortsilbe „WH“ wisperte. Neues Leben, nie gekannte Kraft und grenzenlose Freude durchströmten mich. Als der Alte dasselbe zum zweiten Mal tat, hatte sich mein Atem bereits mit dem seinen verbunden. Wir atmeten gemeinsam. Eins miteinander. Der Alte wisperte wieder beim Einatmen die Silbe „JH“ und beim Ausatmen die Silbe „WH“. Ich erhob mein Haupt. Das Zittern entwich meinem Körper. Beim dritten Mal atmeten wir gemeinsam ein und aus und ich flüsterte die Silben „JH – WH“ mit. Ich öffnete meine Augen.

Ich war nackt. Der alte Mann war nicht mehr da. Zu meinen Füßen lagen sein hoher Hut und sein Schwert, das in einer Schwertscheide steckte. Beides nahm ich an mich und schaute mich um. Anscheinend befand ich mich in einer Grotte oder einer Gruft. Die Wände bestanden aus steinernem Schutt und Geröll. Es waren die Trümmer der Kathedrale. Unzählige Kerzen tauchten alles in warmes und doch nur sehr spärliches Licht. Um den Sarg herum lagen die drei schwarzen Gestalten auf dem Boden. Regungslos. Waren sie tot? Was, wenn sie sich plötzlich erhoben? Hastig befestige ich den hohen Hut an der Schwertscheide, schnallte beides auf meinen Rücken und zog das Schwert. Dessen flammende Klinge erleuchtete diesen Ort. Die drei Gestalten lagen weiterhin leblos auf dem Boden. Meine suchenden Blicke fanden keinen Ausgang. Wie nur sollte ich diesen Ort wieder verlassen? Mein Blick wanderte hoch und verlor sich in einem schier endlosen Schacht, der nach oben führte. Am Ende dieses Schachtes erahnte ich den Schimmer von Licht. Wollte ich hier raus, musste ich den Schacht komplett emporklettern.

Also begann ich zu klettern. Aufwärts. Geröllstück um Geröllstück. In aller Vorsicht setze ich einen Fuß nach dem anderen. Es war schwer, sicheren Stand zu erlangen und mich festzuhalten. Doch Stück für Stück bewegte ich mich empor. Dem Licht entgegen. Manches Mal glitten meine Füße ab. Manches Mal stürzten Trümmerteile in die Tiefe. Das Gestein presste tiefe Furchen in meine Hände. Die Schwielen, die es hinterließ, rissen auf und begangen zu bluten. Meine Beine wurden schwächer und schwächer. Doch unaufhaltsam kam das Licht näher.

Schließlich erreichte ich das obere Ende des Schachtes. Die milde Luft eines frühlingshaften Morgens umwehte meine Nase. Und füllte meine Lungen. „Tritt heraus, Bruder!“, ertönte eine tiefe männliche Stimme. Eine Hand wurde mir entgegengestreckt. Ich ergriff sie und wurde aus dem Schacht gezogen. Die Hand gehörte zu einem kräftigen, kahlköpfigen Mann. Seine tiefbraunen Augen blitzten mich an. Ich sank auf meine Knie. Von mir ausgehend erstreckten sich saftige grüne Wiesen in alle Himmelsrichtungen. Sie waren durchsetzt von Blumen in den unterschiedlichsten Farben. In weiter Ferne waren Bäume und Wälder zu erahnen. Die noch sehr zarten morgendlichen Sonnenstrahlen tauchten die gesamte Landschaft in etwas Verheißungsvolles. Hoffnung. Einige Meter entfernt saßen weitere Männer um ein Lagerfeuer herum.

Irritiert schaute ich um mich. „Wo ist die Kathedrale?“ „Schau in Dich.“, antwortete der Mann. „Wo willst Du solch eine Kathedrale finden, wenn nicht in Dir?“ Seine Worte hallten in mir nach. Er zeigte auf die Männer am Lagerfeuer: „Schau um Dich. Wo willst Du solch eine Kathedrale finden, wenn nicht in Deinem Mitmenschen?“ Wieder hallten seine Worte in mir nach. „Schau über Dich. Wo willst Du solch eine Kathedrale finden, wenn nicht unter dem Himmelszelt, zwischen dem südlichen und dem nördlichen Horizont sowie dem westlichen und dem östlichen Horizont?“ Jetzt fielen mir die Wundmale auf, die der Mann an der Stirn, über dem Herzen sowie am Bauch trug. Unwillkürlich fasste ich mir an die Stirn und blickte an mir herunter. „Wir alle hier tragen dieselben Narben, auch Du. Denn wir alle sind denselben Tod gestorben. Die Verwundungen, die uns zugefügt worden sind, sind unsere Heiligen Wunden geworden.“

Wir setzten uns zu den Männern ans Lagerfeuer. Ein Laib Brot wurde von Bruder zu Bruder gereicht. Jeder riss sich ein Stück davon ab. Ebenso wurde ein Kelch roten Weins herumgereicht, aus dem jeder Bruder trank. „Wer bist Du?“, die Frage, die der Wächter mir gestellt hatte, bevor ich die Kathedrale betreten hatte, kam mir wieder in den Sinn. Jetzt konnte ich sie beantworten: „Ich bin Sohn. Ich bin Bruder.“

Alsbald stand der erste Mann auf und wandte sein Haupt gen Osten. Dorthin, wo die Sonne aufging. Dorthin, wo der Ursprung des Lichts lag. Denn dort lag unsere Bestimmung. Nach und nach standen auch die restlichen Männer auf und wendeten sich dem Osten zu. Und dann pilgerten wir los. Einer nach dem anderen. Dem hellen Licht der Sonne entgegen. Schließlich begann der erste Mann ein Lied anzustimmen. Einer nach dem anderen stimmten wir mit ein. Und dies war, was wir sangen:

„Bless the Lord, my Soul
and bless his Holy Name.
Bless the Lord, my Soul,
he rescued me from Death.
Bless the Lord, my Soul,
and bless his Holy Name.
Bless the Lord, my Soul,
he leads me into Light.“

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„Bei dem zitierten Lied „Bless the Lord, my Soul“
handelt es sich um einen Choral der Mönchs-Kommunität Taizé).

Rituelle Heimat

WARUM WIRD MAN FREIMAURER?

Warum wird jemand Freimaurer? Vielen Freimaurer-Brüdern habe ich diese Frage gestellt. Und vieles konnte ich beobachten, seitdem ich in diese Bruderschaft aufgenommen worden war. Herausgekommen ist ein bunter Blumenstrauß an Motivationen. Der wohl häufigste Grund ist, einen Weg zu finden, sich mit sich selbst auseinander zu setzen und an sich zu arbeiten. Dies wird gefolgt von dem Wunsch nach Gemeinschaft und dem Bedürfnis, sich sozial zu engagieren. Manch einer schätzt den philosophischen Austausch, die Auseinandersetzung mit humanistischen Ideen oder sehnt sich nach mystischem Erleben. Ein Bruder erzählte mir mal, dass er sich Erleuchtung erhoffte. Doch auch weniger ehrenwerten Motiven bin ich begegnet. So traf ich auch auf Brüder, die sich von der vermeintlich elitären Fassade des Freimaurertums angezogen fühlten. Auch traf ich auf Brüder, die sich berufliche Vorteile oder gar ein karriereförderliches Netzwerk erhofften. Doch warum nun wurde ich selber Freimaurer?

WARUM WURDE ICH FREIMAURER?

Ich kann heute nachvollziehen, dass ich etwa 15 Jahre vor meiner Aufnahme in die Bruderschaft der Freimaurer anfing, mich ernsthaft mit ihr auseinander zu setzen. Es war zu einer Zeit, in der ich von Ritualen nichts hielt. War etwas rituell, war es für mich nur eine Umschreibung dafür, dass es starr, tot und eng war. Aus genau diesem Grund war ich seinerzeit auch aus der evangelischen Kirche ausgetreten.

Durch eine sehr fundamentale Krise, die mein gesamtes bisheriges Leben völlig in Frage stellte, kam ich mit unterschiedlichen Traditionen der Stille im Christentum (Kontemplation, Mönchstum etc.), den Wegen der christlichen Mystik und den Ideen der archaischen Initiationsriten, der Naturspiritualität sowie der spirituellen Männerarbeit nach Richard Rohr in Berührung. Je tiefer sich einzelne Aspekte davon in meinem Alltag verankerten, desto mehr bekam ich innerlich auch Zugang zu den Wirkweisen von Ritualen. Ich begann Rituale als etwas Halt gebendes zu schätzen, das – vorbei an meinem verkopften Wunsch, das Leben zu kontrollieren – mich auf tiefste Weise zu berühren vermag. Das ging so weit, dass ich, als ich mich nach langer Zeit mal wieder in einen sehr liturgischen Gottesdienst der evangelischen Kirche wagte, hinten auf meiner hölzernen Kirchenbank saß und mit den Tränen rang, als das Abendmahl eingesetzt und ausgeteilt wurde. Das war der Moment, in dem ich entschied, wieder in die evangelische Kirche einzutreten. Und es war auch die Zeit, in der ich auf intuitive Weise zu begreifen begann, warum Menschen durch das freimaurerische Ritual angerührt werden können.

Weiter erschloss ich mir, dass es unterschiedliche Richtungen innerhalb des Freimaurertums gibt. Die Richtung, für die ich mich später bewusst entscheiden sollte, war die des christlichen Freimaurerordens. Denn dieser vereinigte in seiner Symbolik und seinem Ritual vieles von dem, was meinen bisherigen spirituellen Weg so reich beschenkt hatte: Aspekte der christlichen Mystik, der Männerinitiation und des Versenkens in innere Stille.

Damit bin ich der Frage, warum ich selbst Freimaurer wurde, schon ein gutes Stück auf die Spur gekommen. Die eigentliche Frage aber, die sich dahinter verbirgt und die jeder, der mit dem Gedanken spielt, Freimaurer zu werden, für sich beantworten muss, lautet: „Was erhoffe ich mir von der Mitgliedschaft in der Bruderschaft der Freimaurer, was ich ohne diese nicht hätte?“ Meine Antwort darauf war: Ich sehnte mich nach einem regelmäßigen Ritual in meinem Leben. Und ich sehnte mich danach, dass dieses mich mit dem in Berührung kommen lässt, was meinen spirituellen Weg ausmacht.

DAS WESEN DER TEMPELARBEIT

Und habe ich gefunden, was ich zu finden erhofft hatte? Ganz klar: Ja! Ich nehme an kaum einem freimaurerischen Ritual teil, aus dem ich nicht innerlich bewegt hervorgehe. Dabei kann ich allerdings gar nicht so recht erklären, woran das nun eigentlich liegt.

Denn formal betrachtet, handelt es sich bei dem freimaurerischen Ritual lediglich um eine Abfolge ritueller Wechselgespräche und ritueller Handlungen. Hierbei wird symbolisch ein idealer Raum betreten: Die Loge. Ich begreife die Loge als einen Ort, der tief in mir liegt. Mein inneres Auge des Sturms. Der Ort, an dem ich einfach nur bin. Der Ort, an dem mystisches Erleben stattfinden kann. Hat man sich rituell in diese Loge begeben, können weitere rituelle Handlungen – wie zum Beispiel die Aufnahme eines Initianten in diesen Grad – vollzogen werden. Anschließend wird diese Loge rituell und in umgekehrter Reihenfolge, wie sie betreten worden ist, wieder verlassen. Der beschriebene Vorgang findet in jedem freimaurerischen Grad während sogenannter Tempelarbeiten statt.

Das Besondere an den Tempelarbeiten, wie ich sie im christlichen Freimaurerorden erlebe, ist, dass diese zwar mit jedem Grad, den man durchläuft, um neue Aspekte bereichert werden, der gesamte (ordens-) freimaurerische Weg jedoch bereits im ersten Grad – dem des Johannislehrlings – enthalten ist. Und ich habe für mich festgestellt, dass es für die Intensität meines Erlebens beinahe gänzlich irrelevant, in welchem Grad dieses Ritual stattfindet.

Der Ablauf einer Tempelarbeit hat von seinem Wesen her etwas sehr liturgisches. In mir lösen Tempelarbeiten ähnliche Zustände aus wie Meditationen oder vergleichbare Stille-Übungen. Im Laufe der Zeit ist die rituelle Loge so etwas wie eine innere Heimat für mich geworden. Gerade auch in den letzten anderthalb Jahren, in denen sich mein Weg verfinsterte und ich mich Anteilen von mir stellen musste, die ich am liebsten ganz weit weg geschoben hätte, habe ich die freimaurerischen Tempelarbeiten noch mal ganz neu als einen Ort schätzen gelernt, an dem ich zur Ruhe komme und mit mir selbst und meiner spirituellen Sehnsucht in Berührung komme. Wenn der Logenmeister eine jede Tempelarbeit eröffnet, indem er mit seinem Hammer auf den Altar schlägt und die Worte spricht „Ehre sei Gott“, spüre ich in diesem Moment, wie ich heimkehre…

Im Schwellenraum

Schwarze Wolkenberge türmten sich am Himmel auf. Und tauchten das Land in bleiernes Dunkel. Nur vereinzelt riss der Sturm Löcher in die Wolken. Und bahnte dem fahlen und dämmrigen Licht des vollen Mondes den Weg. Neblige Schleier durchzogen die Landschaft. Das Wogen karger Äste zeichnete sich am Himmel ab.

Irgendwo, eingehüllt vom Nebel, ragten die Überreste einer alte Ruine empor. Ein eisiger Wind pfiff durch die geborstenen Fenster und Türen. Gesteinsbrocken, die einst so prachtvoll das Dach zusammenhielten, lagen wahllos und verloren auf dem von Rissen durchzogenen Boden umher. Seit langer Zeit hatte kein Mensch mehr einen Fuß in dieses einst so erhabene Gemäuer gesetzt. Dämonen und Getier hatten hier ihr Königreich ausgerufen und Schatten sich in jedem Winkel eingenistet. Die beiden Säulen vor dem Eingang waren umgestürzt. Es ließ sich kaum noch erahnen, wie majestätisch sie in vergangenen Tagen dort gewacht haben mögen. Die massive Steinplatte des Altars, der seit jeher den Osten dieses Ortes ausgefüllte, war zerbrochen. Nichts erinnerte mehr an rituelle Worte und geweihte Handlungen.

Inmitten der Trümmer. Unter meinen Knien schmerzte der harte Steinboden. Mein Gesicht in den Händen vergraben. Die Kälte und die Einsamkeit dieses Gemäuers krochen langsam in mir hoch. Keine Ahnung, wie lange ich hier schon kauerte. Zu schwach, mich zu erheben. Zu schwach…

Ein seltsam vertrauter Schmerz webte sich bedächtig in mich ein. Und eine stumme Traurigkeit kletterte aus den Tiefen meines Selbst zu mir herauf. Jede Faser meines Seins sehnte sich danach zu weinen. Doch selbst dazu war ich nicht stark genug. Keine einzige Träne. Meine Augen waren ausgedorrt wie mein Herz. Und mein Schrei erstarb, noch bevor er meine Lippen erreicht hatte. Ich blieb stumm. So stumm wie der Ort, an dem ich mich befand.

Irgendwann begannen meine Hände meine linke Seite abzutasten. Sie suchten den Griff meines Schwertes. Doch da war kein Schwert mehr…

Freimaurerei und Gott – Wie verträgt sich das?

FREIMAURERTUM UND GOTT - EIN VORWORT (ZU TEIL 1/3):

Keine Frage ist so geeignet, heftigste Diskurse innerhalb des Freimaurertums auszulösen, wie die Frage nach Gott. Vereinfacht und überspitzt reichen die Positionen von "man kann nur ein Freimaurer sein, wenn man an einen wie auch immer gearteten Gott glaubt" bis hin zu "man kann nur ein Freimaurer sein, wenn man nicht an einen Gott glaubt".

Für die Leser meines Blogs ist es nicht schwer, mich innerhalb dieser Diskussion zu verorten: Für mich bedingt der Weg eines Freimaurers die Vorstellung eines Gottes; wenn auch nicht im dogmatischen Sinne. Diese Position hat ihre Berechtigung, ist aber nicht die einzig mögliche.

In drei Blogartikeln möchte ich nun die Gelegenheit geben, auch die Positionen zu Wort kommen zu lassen, die sich nicht mit meiner Position decken oder dieser sogar konträr gegenüberstehen. Ich freue mich sehr, hierfür die Freimaurer und Blogger Rene Schon und Jürgen Scheffler gewonnen zu haben. Beide gehen den Weg des Freimaurers als bekennende Atheisten.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Frage nach Gott nicht nur geeignet ist, Kontroversen innerhalb des Freimaurertums auszulösen, sondern auch aufzuzeigen, welche Vielfalt innerhalb des Freimaurertums möglich ist. Wenn der Leser die beiden Artikel von Rene Schon und Jürgen Scheffler sowie meinen Artikel zum Thema gelesen haben wird, wird er eine Vorstellung davon haben, über welche Bandbreite das Freimaurertum verfügt…

Genug der Worte. Vorhang auf für den Beitrag von...

JÜRGEN SCHEFFLER:

juergen-scheffler

FREIMAUREREI UND GOTT – WIE VERTRÄGT SICH DAS?

Um es vorweg zu nehmen – nach meiner Meinung, gar nicht.

In der deutschen Freimaurerei gibt es neben anderen kleineren Zweigen 2 Zweige mit höheren Mitgliedszahlen.

Zum einen wäre da der FO (Freimaurerorden), der sehr religiös aufgestellt ist. Hier wird im Ritual gebetet und auch Jesus Christus als der Große Meister angesehen. Ich will und kann mich zu den Gepflogenheiten dieses Ordens nicht äußern, ist auch gänzlich nicht meine Welt.

Der zweite, sicherlich größte Bereich der Freimaurerei in Deutschland, ist die sogenannte humanitäre Freimaurerei AFuAM (Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland) hier bin ich Mitglied und stütze meinen nachfolgenden Text nur auf diesen Bereich.

Bewusst werde ich auch nicht auf die Hochgrade, die man heute „weiterführende Grade“ nennen soll, eingehen – ich lehne sie einfach ab, da sie nach meiner Meinung in die gänzlich falsche Richtung weisen und mit Freimaurerei nichts mehr zu tun haben.

EINLEITEND ERST EINMAL ETWAS GESCHICHTE:

Die Freimaurerei entstand aus den alten Bauhütten des Mittelalters und nicht, wie sie wohl oft lesen werden, aus den alten Dombauhütten. Warum die Freimaurerei immer wieder den Dombauhütten zugesprochen wird, bleibt mir ein Rätsel und ist wohl dem Versuch der Zuordnung zur christlichen Religion geschuldet. Entgegen der geschätzten max. 50 Dombauhütten in Deutschland stehen sicherlich tausende Bauhütten in denen die alte Steinmetzbruderschaft aktiv war. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass jede mittlere und große Stadt mindestens eine Bauhütte hatte, einfach, weil spätestens seit der Zeit des Hochmittelalters (beginnend etwa Mitte des 13. Jahrhunderts) sehr viel in Stein gebaut wurde. Dazu gehörten neben den imposanten Dombauten, Kirchen und Schlössern natürlich auch die Bauten der Alltagsarchitektur wie Rathäuser, große Bürgerhäuser sowie Stadtmauern, Burgen und andere Befestigungseinrichtungen. Auch hier wurden alle möglichen Mittel der damaligen Baukunst eingesetzt, um möglichst imposante und wehrhafte Gebäude zu errichten, die den gesellschaftlichen Stand ihrer Eigentümer und der Städte widerspiegelten. In dieser Zeit erstarkten die Steinmetzbruderschaften und deren Bauhütten bis ihre Sonderstellung um 1731 mit dem endgültigen Verbot durch Kaiser Karl VI endete.

Nahezu zeitgleich entstand die spekulative Maurerei, die Freimaurer, wie wir sie heute noch kennen.

Man sollte auch noch betrachten, dass zur Zeit der alten Bauhütten in unserem Land noch Leibeigenschaft herrschte. Niemand durfte ohne Erlaubnis sein Land verlassen. Lediglich den Mitgliedern der Steinmetzbruderschaften wurde, sicherlich nicht uneigennützig, eine eigene Gesetzbarkeit und Reisefreiheit gewährt.

Man stelle sich jetzt einmal vor, dass diese Reisenden mit dem Wissen, was sich nicht nur auf die Steinmetzkunst beschränkte, aus aller Herren Länder in diesen Bauhütten abstiegen. Sie hatten in diesen dunklen Zeiten, in dem noch die „Heilige“ Inquisition mit ihren Gottesurteilen, Folter und Hexenverbrennungen tobte, sicherlich sehr viel, was den Kirchen sicherlich nicht gefallen haben dürfte, zu berichten. Das ging natürlich nur in „gedeckten“ Räumen, den Bauhütten, in denen man sich vor nicht willkommenen Gästen durch geheime Zeichen, Wort und Griff schütze.

JETZT EIN WENIG SPEKULATION:

Leider ist aus dieser Zeit kaum etwas schriftlich überliefert, aber man kann versuchen, seine Schlussfolgerungen hieraus aus logischen Schlüssen zu ziehen.

Ich stelle mir diese Bauhütten als ziemlich raue und sicherlich auch nicht gerade saubere Arbeitsunterkünfte vor, was natürlich zur Frage führt, warum strebten gegen Anfang des 18. Jahrhunderts sogar Adlige und das Großbürgertum in diese, zu dieser Zeit natürlich nur noch spekulativen Bauhütten der Freimaurer, warum wurden die Bauhüttentraditionen überhaupt fortgesetzt?

Religion und deren Rituale können es nicht gewesen sein, denn die fand man zuhauf in den Kirchen dieser Zeit. Ich vermute einmal, es war der freie Geist, der aus den Bauhütten ausstrahlte. In dieser spekulativen Freimaurerei versuchte man damals, seine Ideale von einer freien, humanitären Gesellschaft am fiktiven Bau nachzubilden. Man übernahm die gedeckten Räume in die man nur Zugang bekam, wenn man die geheimen Zeichen, Worte und Griffe beherrschte. Man versucht den fiktiven Bau, der heute allgemein als der Tempel der Humanität für eine humane Gesellschaft bezeichnet wird, durch Rituale und Botschaften die bedingt vergleichbar den Graden der alten Bauhüttentradition aufgebaut sind, zu festigen. In den alten Bauhütten gab es nur Lehrlinge und Gesellen wo hingegen der Meister immer aus den Reihen der Gesellen gewählt wurde. Das änderte sich im Laufe des frühen 18. Jahrhunderts.

DER BRUCH IM LEHRGEBÄUDE DER SPEKULATIVEN FREIMAUREREI:

Neben der spekulativen Freimaurerei entstand gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Rosenkreuzertum. Ein sehr christlich und mystisch aufgebauter Orden, der den neu entstehenden Freimaurerlogen arg zu schaffen machte. Zur Abwehr entwickelte man einen neuen Grad in der Freimaurerei, den Meistergrad, der entgegen dem Lehrlings- und Gesellengrad nichts mehr mit den alten Bruderschaften zu tun hatte und auch sehr viele christliche und mystische Elemente enthielt. Für mich war das der eigentliche Bruch im Lehrgebäude, an dem nach meiner Meinung die Freimaurerei bis heute zu leiden hat.

Man wendete sich von der möglicherweise in den alten Bauhütten vorhandenen Streitkultur gegen alle Restriktionen aus Glaubensfragen und Obrigkeitsdenken wieder ab und wurde zahm, sehr zahm wie man aus den „Alten Pflichten“ dem bis heutige gültigen Gesetz der Freimaurer von 1723 leicht erlesen kann.

GOTT, RELIGION UND DEREN BEGRIFFLICHKEITEN IN DER FREIMAUREREI DER GEGENWART.

Inhaltlich wurde, wie bereits oben erwähnt, ein Meistergrad in die Freimaurerei integriert, der mit dem eigentlichen Lehrgebäude eines Steinmetzes überhaupt nichts zu tun hat. Zusätzlich wurden den alten Bauhütten im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff Dombauhütten zugewiesen. Auch aus den Bauhütten, den ursprünglich gedeckten Räumen wurden die Tempel und aus den eigentlichen, symbolisch nachzubildenden Arbeiten der alten Bauleute wurden demnach zwangsläufig Tempelarbeiten.

Stellt man sich eine alte Bauhütte vor, könnte man sich leicht eine etwas schmuddelige, einfache Hütte mit einem großen Reißbrett in zentraler Stelle voller Zeichnungen und Zeichenwerkzeuge zur Erstellung dieser Zeichnungen vorstellen.

Heute ist dieses Reißbrett, sicherlich ehemals der Arbeitsplatz des Meisters der Bauhütte (des Architekten) zu einem Altar geworden. Auf diesem liegen dann als Zeichnungen für den symbolischen Bau festgeschriebene „Heilige“ Bücher und die Werkzeuge des Meisters oder des Architekten, der den symbolischen Bau in Ordnung bringt, der Zirkel und das Winkelmaß. Überträgt man diese Symbolik in den fiktiven Bau scheint klar zu werden, die Grundlagen für eine humane Gesellschaft sind maßgeblich aus heiligen Büchern zu holen – Ich empfinde dies als eine Katastrophe und vermute mal, die alten Steinmetzen würden dem niemals zustimmen können.

Ein ganz wichtiges Symbol für die reguläre Freimaurerei darf hier natürlich nicht vergessen werde. Das ist der „Große Baumeister aller Welten“.

Die „reguläre“ Freimaurerei hat sich weltweit den „Gesetzen“ der Englischen Großloge untergeordnet, in der klar definiert ist, dass eine reguläre Loge einen „Großen Baumeister aller Welten“ sowie ein bestimmtes „Heiliges Buch“ anzuerkennen hat. Leider kann, oder womöglich will sie sich aus diesem religiös definierte Zangengriff nicht befreien. Sie hält vehement an alten Traditionen fest, oder an das, was sie dafür hält.

So hat man in der humanitären Freimaurerei sicherlich Probleme, diesen Begriff des „Großen Baumeisters aller Welten“ zu definieren und zuzuordnen. Wenn man ihn liest, fällt einem natürlich direkt nur Gott ein. Diesen Gottesbezug will man allerdings in dieser offensichtlichen Form nicht aufrechterhalten, das wäre ja konträr einer rein humanitären und auf Wissen basierenden Freimaurerei. Kurzum deutet man um, man beschreibt diesen Begriff als ein „Schöpferisches Prinzip“ was sich jeder selbst definieren darf. Ein „Schöpferisches Prinzip“ in einem Tempel, in den heiligen Hallen, bei einer Tempelarbeit mit Altar und „Heiligem Buch“? Und, man dankt diesem „schöpferischen Prinzip“ sogar und bittet es an bestimmten Ritualstellen um Hilfe. Hier erscheint mir der FO (Freimaurerorden) mit seiner definierten christlichen Ausrichtung sehr viel ehrlicher.

Zugegeben, bei mir hat es etliche Jahre gedauert, bis ich diese Ungereimtheiten für mich erkannt hatte. Ich habe in der Vergangenheit etliche Jahre mit mir, den Ritualen, den Symbolen, meinen Freimaurer-Brüdern und der Freimaurerei insgesamt gerungen. Freimaurerei war für mich wichtig, da sie eine global organisierte Bruderschaft ist, die sich als Gegenpol zur globalen Wirtschaft- und Finanzwelt aufstellen könnte. Leider möchte sie das offensichtlich nicht, obwohl es dringend erforderlich wäre.

Ich hatte immer gedacht, eine der riesigen Vorteile der Freimaurerei ist das Gespräch, das Streitgespräch auf Augenhöhe mit Brüdern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozialen Schichten. Das findest man sonst nirgendwo und unsere so hochgelobte Streitkultur wird auch immer wieder auf Gästeabenden besonders betont. Was soll das denn, wenn wir dies nicht nutzen wollen?

Tiefer, aufgezwungener Glaube hat im tiefsten Mittelalter der Menscheit weit über tausend Jahre Entwicklung gekostet und sehr viel Leid gebracht. Die Freimaurerei tut gut daran, ihre Grundlagen aus der Moderne, aus der Wissenschaft zu beziehen. Wissen heißt nicht unbedingt Recht zu haben. Wissen heißt lediglich eine Theorie zu haben, die wissenschaftlich beweisbar oder wenigstens logisch schlüssig ist. Eine wissenschaftliche These schreit, ganz anders als ein Glaube, nach Gegenthese. Wissenschaft will Wissen schaffen und ist daher immer auf der Suche nach neueren Erkenntnissen. Nach Thesen, die bessere Argumente haben. Das passt gut in die Freimaurerei, wie ich sie mir vorstelle.

Auch zugegeben, auf der Webseite von AFuAM hat sich in den letzten paar Jahren sehr viel getan. Von mir immer wieder kritisierte Textpassagen sind gänzlich verschwunden. Die Webseite stellt sich heute durchaus sehr modern dar, aber an den nach wie vor religiösen Kern, da geht man tunlichst besser nicht heran.

Es wird darauf hingewiesen, dass in den Logen verschiedene Facetten der Ausprägung von Freimaurerei zu finden sind, löst sich aber nicht von den „Alten Pflichten“ von 1723 und versucht einmal „Neue Pflichten“ zu deklarieren. Das passt nicht zusammen, was man leider oft erst nach vielen Jahren Freimaurerei bemerkt.

Ein Satz auf dieser Webseite hat es mir besonders angetan: „…Freimaurer wissen zwar nicht, wie eine menschliche Welt im Einzelnen auszusehen hat, denn sie verzichten darauf, gesellschaftlich-politische Utopien zu formulieren….“. Hier ist der Begriff „Utopien“ allein schon negativ konnotiert – warum eigentlich? Möchte man damit etwas besonders negativ betonen? „Visionen“ passt hier deutlich besser und wäre sicher angebracht gewesen.

Hätte ich damals so eine Bemerkung auf der Webseite von AFuAM gelesen, ich wäre niemals Freimaurer geworden. Es ist für mich eine regelrechte Aufgabe, eine Kapitualtion vor dem großen Plan der Gestaltung einer humanen Gesellschaft. Der symbolische Bau einer humanen Gesellschaft der „Tempel der Humanität“ hat für die Freimaurerei offensichtlich keine Bedeutung mehr.

Auch heißt es bei uns im Ritual „Wir bauen den Tempel der Humanität ….. die Steine, deren wir bedürfen, sind die Menschen“. Dies scheint mir ein Hinweis auf alle Menschen – die eingeschlossen, die nicht Freimaurer sind. Die Frage ist lediglich, wer erstellt den Plan, wer ist der Architekt dieses symbolischen Baus? Wenn der Meister keine eigenen Zeichnungen mehr auflegt, sondern mit seinem Zeichenwerkzeug auf ein „Heiliges Buch“ verweist, kommt da wieder einer dieser ominösen Götter ins Spiel? Das kann und darf es nicht sein, wir müssen uns unsere Welt selbst gestalten – wir sind die Meister und wir erstellen die Zeichnungen nach denen der symbolische Bau erfolgt.

Ich habe als Ziel der freimaurerischen Arbeiten immer den symbolischen Bau als den Bau einer menschlichen Welt verstanden. Wo bleibt dieses Ziel? Ist dieses Ziel bewusst aufgegeben worden, weil es niemals eine Bedeutung im Lehrgebäude der symbolischen Freimaurerei hatte? Weil der Meistergrad nicht angefasst werden darf und dieses religiös Mystische, dieses Spiel zwischen Leben, Tod und Auferstehung unbedingt erhalten werden muss?

Wie wollen wir eine menschliche Welt gestalten ohne uns bewusst mit diesen gesellschaftlich-politische Utopien zu beschäftigen und im Idealfall sogar zu definieren. Bei allen Irrtümern, die daraus entstehen können, es würde sich viel leichter in einer global organisierten Runde von gleichdenkenden Brüdern und wer mag, auch mit Schwestern erreichen – viel besser als allein.

Die Freimaurerei in ihrer Verzahnung zu diesen alten Glaubensvorstellungen versagt da meines Erachtens vollständig. Sie kann sich einfach nicht lösen und ich, wie einige Brüder in meinem Umfeld, haben die Hoffnung für Erneuerung bereits aufgegeben.

Für mich ist es unglaublich, dass wir uns nach wie vor anmaßen, in der Tradition des Humanismus und vor allem der Aufklärung zu stehen. Es kann sein, dass wir in den Zeiten der Aufklärung stehen geblieben sind (was ich sogar bestreiten möchte, da die Aufklärung Fortschritt wollte) – aber ist das tatsächlich sinnbringend in der heutigen Zeit?

In der Tradition stehend, heißt für mich, die fortschrittlichen Gedanken dieser Zeit weiter zu entwickeln und nicht in dieser Zeit verhaftet zu bleiben. Es ist noch nicht lange her, da wurden den jungen interessierten Herren in meiner Loge gesagt „Wir, die Freimaurer, verstehen unter Tradition nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Ist das etwa auch so ein weiterer abgedroschener, sinnentleerter Spruch ohne Bedeutung?

JÜRGEN SCHEFFLER

REFERENZEN:
– Man siehe hierzu auch meine schon ein paar Jahre alten Ausführungen für eine mögliche Freimaurerei der Zukunft:
https://www.moderne-freimaurer.de/cms/WS_Reform-der-Freimaurerei-notwendig-Historie.html
– Grundsätzliches und weiterführende Gedanken zum Gottesglauben habe ich jüngst hier geschrieben:
https://www.moderne-freimaurer.de/cms/NS_Von-Gott-und-der-Welt.html