Die toxische Seite des Christentums

SPIRITUALITÄT UND TOXISCHE RELIGION

Wer auf meinem Blog liest, dem wird eines sehr schnell klar: Das prägende Element, das sich durch jedes meiner Bilder, durch jeden Buchstaben, den ich niederschreibe, zieht, ist Spiritualität. Und da ich die Geschichten, Symbole und Bilder meiner Spiritualität in erster Linie dem Christentum entlehne, nehme ich auch häufig Bezug auf Gott und auf Jesus Christus. Folglich ist auch meine grundsätzliche Beziehung zum Christentum zunächst eine positive.

Wenn Ihr wissen wollt, wie ich „Spiritualität“ für mich definiere, lest Ihr am besten meinen Artikel „Spirituelle Heldenreise„. Und wenn Euch interessiert, was ich unter „Gott“ verstehe, lege ich Euch meinen Artikel „Freimaurertum benötigt Spiritualität und Gottesbezug“ ans Herz. Diese Blogartikel vorausgesetzt, ist der Ausgangspunkt sowie der Endpunkt von Spiritualität, wie ich sie verstehe, immer das mit menschlicher und göttlicher Würde beschenkte Individuum. Und über diese Würde verfügt das Individuum ganz unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Religion, seinem kulturellen oder sozioökonomischen Hintergrund, seiner geschlechtlichen Identität, seiner Weltanschauung oder was auch immer. Weiter geht es in dieser Spiritualität immer um das Verbunden-Sein beziehungsweise das Eins-Sein dieses Individuum mit allem, was existiert und seinem eigenen göttlichen Urgrund. Es geht immer um die Überwindung des egodominierten Selbst („Falsches Selbst“), das Freilegen des eigenen ursprünglichen göttlichen Kerns („Wahres Selbst“) und die Rückkehr zum eigenen Ursprung. Folglich kann Spiritualität niemals faschistisch motiviert sein, sich über Feindbilder definieren oder im Widerspruch zur Wissenschaft stehen. Vielmehr ist sie sogar eine bereichernde Ergänzung, Fortführung und Horizonterweiterung der Wissenschaft. Spirituelle Weltsicht kann und muss immer undogmatisch, nondualistisch, interdependent und holistisch sein.

Dieses Verständnis von Spiritualität hat zur Folge, dass ich den unterschiedlichen Religionen und religiösen Traditionen der Menschheit zuerst einmal wertschätzend gegenüberstehe. Und aus der Innenansicht des Christentums heraus könnte ich unzählige Blogartikel mit der Nächstenliebe und dem sozialen und karitativen Engagement, das ich bei vielen Christen erleben durfte, füllen. Das bedeutet für mich im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ich die Religion im Allgemeinen oder das Christentum im Besonderen verkläre oder unkritisch sehe. Schließlich bin ich auf meinem Weg zur Genüge mit den toxischen Seiten der Religion in Berührung gekommen. Auf meinem Blog habe ich die Religion beziehungsweise bestimmte religiöse Auswüchse immer wieder auch kritisch gestellt.

Das aktuelle Weltgeschehen jedoch hat mich jüngst innehalten und die Rolle der Religion noch einmal kritischer hinterfragen lassen. Als Gläubiger ist mir hierbei aufgefallen, dass die Bilder der letzten 20 Jahre, die mich im Zusammenhang mit geopolitischen Machtkämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen am stärksten verstört und betroffen gemacht haben, die Religion zu verantworten hat. Und als Christ beobachte ich mit Sorge, dass Teile des Christentums zunehmend eine destruktive und lebensverachtende Rolle in diesen Machtkämpfen und Auseinandersetzungen einnehmen.

Im Folgenden werde ich exemplarisch vier dieser mich verstörenden Ereignisse herausgreifen und kurz Revue passieren lassen. Abschließend werde ich an dem, was der christliche Religionsgründer Jesus Christus laut biblischer Überlieferung zum Thema Macht und Gewalt vor etwa 2000 Jahren gelehrt hat, Maß nehmen, und daran die beschriebenen aktuellen Entwicklungen des Christentums bemessen. Auch, wenn mein Fokus primär auf dem Christentum liegt, so will ich, den Einstieg dennoch mit dem Islam machen.

ISLAMISTISCHER TERRORISMUS

Alles begann mit dem 11. September 2001. Von denen, die damals alt genug waren, den Anschlag auf das World Trade Center bewusst mitbekommen zu haben, ist mir bislang niemand begegnet, der nicht auch über 20 Jahre später noch klar benennen könnte, was er in dem Moment, als die Passagiermaschinen in die Tower stürzten, gerade machte. Ich selber nahm damals an einem „Ethik-Seminar“ teil. Es ging um ethisch-moralisches Handeln im beruflichen Kontext. Zuerst vibrierte mein Handy. Eine Freundin hatte mir eine SMS (denn WhatsApp und Co. gab es damals noch nicht) mit folgendem sinngemäßen Inhalt geschickt: „Das World-Trade-Center ist kaputt. Das Pentagon ist kaputt. Und mir ist auch schon ganz schlecht.“ Im nächsten Moment platzte eine Kollegin aufgeregt in den Seminarraum. Diese hielt sich ein Radio ans Ohr. So ein analoges Radio mit ausziehbarer Antenne und so. Im übernächsten Moment war der gesamte Kurs auch schon um einen Fernseher herum versammelt und zog sich die schockierenden Bilder aus New York rein. Immer und immer wieder. Als ich am nächsten Tag in einer norddeutschen Großstadt eine Tageszeitung kaufen wollte, gab es keine mehr. Vom deutschlandweiten Blatt bis hin zur kleinen Regionalzeitung, sie waren alle ausverkauft.

Der Anschlag vom 11. September hatte traumatisierendes Potenzial. Zum einen, weil die Weltgemeinschaft es niemals für möglich gehalten hätte, dass solch eine Tat auf amerikanischem Grund und Boden möglich sein könnte. Und zum anderen, weil er einer breiten westlichen Öffentlichkeit zum ersten Mal die Realität islamistischen Terrorismus‘ vor Augen führte.

In den folgenden Jahren sollten weitere Anschläge unterschiedlicher islamistischer Couleur auf europäischem Grund und Boden folgen. Insbesondere der Anschlag auf das Verlagsgebäude der französischen Satirezeitschrift „Carlie Hebdo“ im Jahr 2015 als Rache für die Veröffentlichung von Karikaturen des muslimischen Propheten Mohammed traf mich bis ins Mark. Er ließ mich fassungslos und wütend zurück. Schwang in der Tatausführung doch so unendlich viel Verachtung für die freiheitlichen Werte des Westens mit. Damals hätte ich nie zu denken gewagt, dass selbst diese Tat noch zu toppen gewesen wäre: Im Jahr 2020 wurden in Frankreich Lehrer von Islamisten enthauptet, weil der Stoff ihres Unterrichts nicht genehm war. Wie barbarisch, wie bestialisch!

Neun Jahre nach dem Terroranschlag vom 11. September nahm ich an einem Seminar der Universität Hamburg teil. Es ging um den Umgang mit Menschen anderer Kulturen. Zwei Aussagen, die dort von den Dozenten getätigt wurden, sind bei mir haften geblieben. Die erste Aussage war: Es gibt eine Korrelation zwischen der sozialen Lebenssituation in einer Gesellschaft und der Bereitschaft des Einzelnen, islamistisch motivierte terroristische Anschläge zu begehen. Je unsicherer ein Gesellschaftssystem und je prekärer die Lebenssituation der Bevölkerung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort auch Terrorakte verübt werden. Daher ereignet sich auch die große Masse islamistischer Terroranschläge in muslimischen Ländern. Und die zweite Aussage war: Die mit großem Abstand meisten Opfer islamistischer Terrorakte sind Moslems. Klar, beides relativiert nicht die Verantwortung, die die Religion des Islam für diese menschen- und lebensverachtenden Taten trägt, aber es ordnet sie in einen größeren Kontext ein und leitet sie ein wenig her. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Islam die rechtfertigende Ideologie und auch die praktische Infrastruktur für diese Taten geliefert hatte.

In den christlichen Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, wurde vergleichsweise schnell mit dem Finger auf den Islam gezeigt. Die Gräueltaten des islamistischen Terrorismus galten als letzter Beweis dafür, dass der Islam an sich von Grund auf böse oder gar ein satanischer Irrweg sei. Die Gräueltaten des Christentums, wie zum Beispiel Kreuzzüge und Hexenverbrennungen, lagen lange genug zurück, so dass mancher Christ sich ruhigen Gewissens über „diese Moslems“ erheben konnte. Damals war die Welt noch in Ordnung: Die Moslems waren die Bösen und die Christen die Guten. Doch schleichend und von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt, sollte sich dies nach und nach ändern…

REGENWALD IN FLAMMEN

2018/2019 gingen Bilder durch Presse und soziale Medien, auf denen große Flächen des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes in Flammen zu sehen waren. Dieser Regenwald brannte in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit wie niemals zuvor. Mitverantwortlich dafür zeichnete der damalige brasilianische Präsident, Jair Messias Bolsonaro. 2018 ins Amt gewählt, betrieb er eine Politik, die der Brandrohdung des Amazonas-Regenwaldes Vorschub leistete und Bestimmungen zum Schutz des Regenwaldes sukzessive aufgeweichte und abgeschaffte. Auch seine Maßnahmen zur Eindämmung der Brände wurde als völlig unzureichend kritisiert. Sie waren zu wenig, zu langsam und zu halbherzig.

Laut Wikipedia vertritt Bolsonaro „gesellschaftspolitisch rechtspopulistische bis rechtsextreme und wirtschaftspolitisch neoliberale Positionen“. Was mir lange Zeit gar nicht bewusst war, war, wie tief Bolsonaro in den evangelikal christlichen Milieus Brasiliens verwurzelt ist. Und dass die Stimmen eben dieser Milieus ausschlaggebend für seine Wahl zum Präsidenten Brasiliens gewesen waren. In diesen Milieus soll er Zustimmungswerte von bis zu 73 Prozent erhalten haben.

Doch wie kam es dazu? Denn noch Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts waren 9 von 10 Brasilianern katholisch gewesen. Seither jedoch sind die evangelikalen Richtungen des Christentums dort die am stärksten wachsenden Glaubensgemeinschaften. Mittlerweile zählen rund 30 Prozent von Brasiliens Gesamtbevölkerung zu evangelikal christlichen Kirchen. Geht diese Entwicklung so weiter, wird es dort in absehbarer Zeit mehr Evangelikale als Katholiken geben. Und die evangelikalen Milieus sind welche, die sich ins politische Geschehen einmischen und versuchen, Einfluss zu nehmen. Sei es, um Steuererleichterungen für ihre wie Wirtschaftsunternehmen geführten Kirchen zu erreichen, sei es, um ihre national rechts-konservativen Positionen in der Gesellschaft durchzusetzen und zu verfestigen oder um ihnen wohlgesonnene Entscheidungsträger an den wichtigen gesellschaftlichen Positionen zu installieren. Bolsonaro hatte dies erkannt und sich den evangelikal christlichen Milieus angedient. Die Frau, die er geheiratet hatte, entstammte der evangelikalen Kirche des populären Predigers Silas Malafai. In selbiger Kirche hatte Bolsonaro sich 2016 medienwirksam taufen lasse, und das obwohl er nach wie vor Katholik gewesen war. Im Wahlkampf schließlich hatte er die Positionen der evangelikalen Christen beispielsweise in Fragen der Sexualethik, der Drogenpolitik oder auch der Familienpolitik eingenommen und war mit Slogans wie „Brasilien über alles. Gott über allen“ in den Wahlkampf gezogen. Als Dank war in den evangelikal christlichen Milieus fleißig das Kreuz bei Bolsonaro gemacht worden.

Und kaum hatte Bolsonaro die Macht ergriffen, gingen diese apokalyptischen Bilder aus dem brasilianischen Amazonas-Regenwald um die Welt. Dieser brannte in einem Ausmaß nieder, wie es bis dahin nicht vorstellbar gewesen wäre. Die internationale Presse beobachtete das Krisenmanagement des neuen Präsidenten mit Unverständnis. Steckte dieser selbst hinter diesen Bränden, mit dem Ziel neues Weideland zu generieren? Verschleppte und unterminierte er bewusst die Brandbekämpfungsmaßnahmen? Oder war seine Intervention einfach nur schlecht koordiniert und durchgeführt? So mancher begründete Verdacht wurde in den Medien diskutiert. Und auch wenn man in dieser Sache von außen ziemlich eindeutige Indizien sammeln konnte, so liegt es doch in der Natur der Sache, dass die abschließende Beweisführung unvollendet bleiben musste.

Was einen aber förmlich ansprang, war das Schweigen der großen Mehrheit des evangelikalen Christentums, das Bolsonaro ins Amt gewählt hatte. Es war das Schweigen eben jener Christen, die sonst so lautstark ihre Stimme erheben, wenn es darum geht, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen oder die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu kämpfen. Als es um die Bewahrung der Schöpfung, um das Ausrotten ganzer Tierarten, um die Vernichtung des Lebensraumes indigener Menschen und die Bekämpfung des Klimawandels ging, da schwiegen genau diese Christen. Und dieses Schweigen war unüberhörbar.

ERSTÜRMUNG DES KAPITOLS

Am 06. Januar 2021 erstürmte ein Mob überwiegend weißer Männer eines der zentralen Symbole der amerikanischen Demokratie: Das Kapitol. Der Grund hierfür war die demokratische Abwahl des bis dato amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald John Trump. Auch wenn dieser Sturm vergleichsweise gesittet vonstattenging, so brachte er dennoch Vandalismus und Diebstahl mit sich und forderte eine Handvoll Menschenleben. Viel schlimmer jedoch: Es war ein Tabubruch von ungeahnter Reichweite, weil er fundamental mit der demokratischen Idee brach. Sehr schnell wurde klar, dass dieser Sturm in seinem Kern christlich motiviert war. Für den geneigten Beobachter dürften insbesondere die Bilder dieses gehörnten, halbnackten und stark tätowierten, selbsternannten „Q-Anon-Schamanen“, der nach der Erstürmung im Inneren des Kapitols unter „Halleluja“- und „Amen“-Rufen eine christliche Gebetsgemeinschaft anleitete, am schwersten einzuordnen und zu ertragen gewesen sein.

Die Erstürmung des Kapitols stellte den vorläufigen Höhepunkt einer längeren Entwicklung dar, die in den 1970er Jahren ihren Anfang genommen und unter Präsident Trump eine neue Intensität und Dynamik bekommen hatte. Über Jahrzehnte hinweg hatten sich im christlich evangelikalen Spektrum der USA sehr meinungsstarke und medial zunehmend präsente Strömungen herausgebildet, die ihren Einfluss auf die Politik, insbesondere ins Republikanische Milieu hinein, sukzessive ausbauten. Sich im apokalyptischen Endkampf gegen die antichristlichen Kräfte des omnipräsenten, jedoch nur schwer greifbaren Feindbildes „Kultur-Marxismus“ wähnend, hatten sich diese evangelikalen Strömungen ideologisch zusehends radikalisiert und ihr politisches Koordinatensystem ins Rechtsextremistische und Nationalistische verschoben. Auffällig war auch, wie dieses Weltbild nach und nach anschlussfähig für die krudesten Verschwörungsideologien geworden war. Hervorzuheben seien hier die Ideologien rund um „Q-Anon“ (oder auch einfach nur „Q“). Deren Kern die Annahme ist, dass weltweit satanische Eliten in Hinterzimmern und Kellern Kinder quälten und töteten, um anschließend deren Blut zu trinken. In Präsident Trump hatte dieses christlich evangelikale Spektrum „seinen“ Präsidenten im Amt. Ein Präsident, der ihresgleichen an den wichtigen Schalthebel der Macht installiert und Gesetzesvorhaben in ihrem Sinne verabschiedet hatte.

Lässt man diese Entwicklung des evangelikalen Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika Revue passieren, überrascht es nicht mehr wirklich, dass es allem voran Christen waren, die in den Chor derer einstimmten, die die Abwahl von Donald Trump als durch Betrug zustande gekommen ansahen. Und dies, ohne dass es belastbare Beweise für diese Behauptung gegeben hätte. Und es überrascht ebenso wenig, dass es eben diese Christen waren, die vorneweg marschierten, als es darum ging, das Kapitol zu erstürmen. War diesen Menschen bewusst, was für einen Schaden ihr Verhalten im Herzen der Demokratie anrichtete; was für eine Signalwirkung dies für nicht-demokratische oder demokratiefeindliche Gesellschaftssysteme gehabt hat? Und auch hier war wieder augenscheinlich, welche zentrale Rolle das Christentum bei der Rechtfertigung dieser Taten spielte. Denn deren Antriebsfedern waren christlich begründete Apokalyptik und christlich legitimierte Feindbilder.

RUSSLAND-UKRAINE-KRIEG

Am 24. Februar 2022 begann Russland einen brutalen und gnadenlosen Angriffskrieg, als es mit einem massiven militärischen Aufgebot zu Land, zur Luft und zur See in den benachbarten Bruderstaat Ukraine einmarschierte. Was dies auslöste, wird von vielen Russen und Ukrainern als Bruderkrieg bezeichnet. Wie wahrscheinlich ganz Europa versetzten auch mich die Bilder, die dieser Krieg produzierte, in eine Art Schockstarre. Und es dauerte einige Tage, bis ich anfing, mich aus ihr zu lösen und Worte zu finden.

Neben den unzähligen Fragen, die solch ein Krieg immer aufwirft, fragte ich mich zunehmend auch, welche Rolle die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Auseinandersetzung eigentlich einnimmt. In ersten Internet-Recherchen fand ich Bilder von deren Geistlichen, die russische Raketen und Schusswaffen segneten. Allerdings konnte ich nicht verifizieren, dass diese Bilder tatsächlich im Zusammenhang mit dem aktuellen Russland-Ukraine-Krieg stehen. Was ich jedoch verifizieren konnte, war, dass Russisch-Orthodoxe Geistliche vor der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 militärisches Gerät, Raketen, Schusswaffen und Soldaten der russischen Streitkräfte gesegnet hatten. In den Jahren danach jedoch war innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche ein leidenschaftlicher Streit darum entbrannt, ob es aus christlicher Sicht überhaupt zu vertreten sei, Kriegswaffen zu segnen. Aber selbst, wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Frage ihre Position in Frage gestellt und geändert haben sollte, so befremdet ihre Haltung im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine dennoch sehr. In der Vergangenheit waren von dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I. (der im Übrigen mehrfacher Milliardär ist) zu hören, dass der Kriegsdienst ein Akt der Nächstenliebe sei. Und auch als die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin sich in Richtung Ukraine in Bewegung setzte, war keinerlei Intervention von Seiten dieser Kirche zu vernehmen. Das höchste der Gefühle war der Appell, die Anzahl der Kriegsopfer möglichst gering zu halten. Mit zunehmender Kriegsdauer radikalisierten sich die Worte des Russisch-Orthodoxen Kirchenoberhauptes. So begann er irgendwann, den Krieg gegen die Ukraine als notwendigen und apokalyptischen Glaubenskrieg gegen einen gottlosen Westen, gegen „die Kräfte des Bösen“ zu deklarieren. Und für solch einen heiligen Krieg nimmt man Opfer unter den orthodoxen Glaubensgeschwistern in der Ukraine sowie die Zerstörung ihrer Gotteshäuser als notwendigen Kollateralschaden halt in Kauf. Meiner Ansicht nach, gibt es für dieses Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche zwei Beweggründe:

Zum einen ist da dieser uneingeschränkt herrschende Machthaber Russlands, Wladimir Putin. Dieser inszeniert sich seit Jahren als orthodoxer Christ und sucht auf diese Weise den Schulterschluss mit der Russisch-Orthodoxen Kirche. So lässt er sich gerne in medial wirksamer Weise beim Besuch russisch-orthodoxer Gottesdienste, beziehungsweise beim Praktizieren russisch-orthodoxer Rituale in Szene setzen und soll auch schon Gesetzesentwürfe vorab mit der Kirchenführung abgestimmt haben. Weiter umgibt er sich mit einer verklärenden Lebensgeschichte, wonach seine gläubige Mutter ihn als Säugling heimlich und gegen den erklärten Willen seines atheistischen Vaters hatte taufen lassen. Das entsprechende Taufkreuz soll auf dramatische Weise einen Brand in einem von Putins Anwesen überstanden haben. Dies und die Tatsache, dass seine Familie diesen Vorfall unversehrt überlebt hatte, soll Putins Bekehrungsmoment zum russisch-orthodoxen Glauben gewesen sein. Daher trägt er dieses Kreuz bis heute unablässig um seinen Hals. Putin weiß, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht nur etwa 70 Prozent der Bevölkerung bindet, sondern auch, dass sie eng mit der russischen Geschichte und der russischen Identität verbunden ist. So war sie ein entscheidender Faktor des inneren Zusammenhalts, als sich im 10. Jahrhundert der erste Staat auf russischem Gebiet gründete und stabilisierte. Und gerade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1980er und 1990er Jahren, gab sie weiten Teilen der russischen Gesellschaft Zuflucht, Trost und Identität. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist in Russland ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Putins Großmachtfantasien lassen sich nur mit ihr verwirklichen, nicht gegen sie. Am 18. März 2022 schließlich erreichte der Orthodoxe Christ Wladimir Putin einen an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbietenden Tiefpunkt. Am Jahrestag der Annexion der Krim riss er den Bibelvers „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannesevangelium, Kapitel 15, Vers 13) völlig aus dem Zusammenhang und entfremdete ihn dahingehend, ihn als göttliche Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine zu missbrauchen.

Darüber hinaus gibt es Stimmen, die der Ansicht sind, die Russisch-Orthodoxe Kirche selbst habe ein vitales Interesse daran, dass Russland diesen Krieg mit der Ukraine führt und auch gewinnt. Hintergrund ist, dass auf ukrainischem Boden mehrere orthodoxe Kirche existieren. Hervorzuheben, weil sie aufgrund ihrer Größen herausragende Stellungen einnehmen, sind hierbei die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarch untersteht, sowie die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die sich 2018 aus dem Zusammenschluss verschiedener orthodoxer Kirchen gründete und bis 2019 dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel unterstanden hatte. 2019 war diese Ukrainisch-Orthodoxe Kirche für eigenständig erklärt und in der Folge durch das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat von Alexandria, die Kirche von Griechenland und Zypern, anerkannt worden. Dies hatte natürlich auch die Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russlands zementiert und die Einflusssphären der Russisch-Orthodoxen Kirche geschmälert. Eine wie auch immer geartete Eingliederung der Ukraine in ein russisches Reich würde dies wieder abmildern.

Natürlich sind die Motivationen für den Einmarsch Russlands in die Ukraine vielschichtig und mannigfaltig. Es spielen geopolitische und wirtschaftspolitische Gründe, die Frage nach Lebensraum und Rohstoffen sowie nationalistische und geschichtsrevisionistische Beweggründe hinein. Darüber hinaus aber, so mein Eindruck, tobt unter seiner Oberfläche ein Religionskrieg; und zwar ein christlich motivierter. Dieser Eindruck verfestigte sich zusehends, als ich in den Sozialen Medien von Vertretern einer rechtsextrem christlichen Weltsicht las, die Wladimir Putin dafür feierten, dass dieser mit militärischer Stärke in letzter Konsequenz gegen einen dekadenten, degenerierten und von links-grün versifften Eliten durchseuchten Westen zu Felde zieht.

ZWISCHENRUF

Das waren jetzt drei Ereignisse, die aufgrund ihres verstörenden Charakters bei mir besonders haften geblieben sind. Drei Ereignisse, bei denen das Christentum direkt oder indirekt eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hat. Als ich diesen Blogartikel schrieb, wurde mir bewusst, dass die Auswahl dieser Ereignisse willkürlichen Charakter hat, weil man noch so viel mehr ähnlich gelagerte Ereignisse hervorkramen könnte. Was ist beispielsweise mit dem Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche? Hat es außerhalb des Christentums je solch ein System gegeben, in dem über Jahrhunderte hinweg, durch die Hierarchien der Institution gedeckt und vertuscht in struktureller Weise Kinder misshandelt und missbraucht werden? Ernüchternd ist es auch, sich mal mit dem Verhalten großer Teile der westlichen Christenheit zu den Abwürfen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945, die bis heute vielen hunderttausend Menschen das Leben gekostet haben, auseinanderzusetzen. Diese Aufzählung ließe sich wohl noch lange fortsetzen…

In diesem Kontext stellt der Religionsgründer des Christentums, Jesus Christus, dem Christentum in weiten Teilen ein Armutszeugnis aus, wenn er in der Bibel (Matthäus 7, 17-21) folgendes sagt: „So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Was sind die Früchte des Christentums?

Ich stelle all diese Fragen als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger. Und als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger muss ich es mir gefallen lassen, wenn Menschen, die sich nicht zum Christentum zählen, mir genau diese Fragen vorwerfen. Tatsächlich kam mir beim Schreiben dieses Blogartikels die Frage, ob diese Welt nicht ein besserer Ort wäre, wenn es meine Religion, das Christentum, einfach gar nicht gäbe.

DIE LEHRE JESU CHRISTI

Auch wenn es seltsam klingt, mir geht es in diesem Blogartikel nicht darum, mich politisch zu positionieren. Ich kann und will nicht darüber urteilen, ob man als Gläubiger seinen christlichen Glauben eher konservativ oder eher liberal zu leben hat. Für beides gibt es gute Gründe. Und für beides gibt es schlechte Vorbilder. Für mich haben die „Christen in der AfD“ dieselbe Berechtigung wie die „Bundesarbeitsgemeinschaft Christ*innen bei Bündnis90/DIE GRÜNEN“. Egal jedoch, ob konservativ oder liberal, Jesus Christus, der Begründer des Christentums, hat klare und unmissverständliche Ansagen dazu gemacht, was den Umgang mit Gewalt und dem Mitmenschen angeht. Und an diesen Standards habe ich als Christ Maß zu nehmen, egal, ob ich mich als konservativ oder als liberal verorte.

Um diesen Standards auf die Spur zu kommen, langt ein Blick in das Neue Testament der Bibel, um genau zu sein in das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5 bis 7. Dort findet sich die sogenannte „Bergpredigt“. Diese dürfte wohl die Predigt von Jesus Christus mit der größten Strahlkraft und dem höchsten Verbreitungsgrad sein. Sie durchzieht vom ersten bis zum letzten Buchstaben ein Geist kompromissloser Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit. Gleich zu Beginn, in den Seligpreisungen, wird dort diese Richtung unmissverständlich klargemacht. So wird unter anderem den „Leid Tragenden“, den „Sanftmütigen“, den „nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden“, den „Barmherzigen“, den „Frieden Stiftenden“ und den „um der Gerechtigkeit Willen Verfolgten“ Seligkeit zugesprochen (Matthäus 5, 1-12). Dadurch hebt Jesus Menschen, die diese Eigenschaften aufweisen oder diesen Werten nachstreben, gleichzeitig auch als Menschen hervor, an deren Lebenswandel es sich zu orientieren lohnt. Im Weiteren scheint Jesus so etwas wie einen Wesenskern zu definieren, den jeder Einzelne von sich aus besitzt und der von seinem Gegenüber zu respektieren ist und nicht angerührt werden darf. Der Vergleich zur Menschenwürde drängt sich auf. Zumindest deute ich es in diese Richtung, wenn Jesus sagt, dass man sich seinem Bruder gegenüber nicht erst dann schuldig macht, wenn man ihn tötet, sondern bereits, wenn man ihn „nur“ mit Worten wie „Nichtsnutz oder Narr“ belegt. Dies verbindet er mit der Forderung, sich mit seinem Widersacher unverzüglich versöhnen (Matthäus 5, 21-26). Eines der stärksten Motive in der Bergpredigt jedoch ist die Aufforderung, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Es soll kein „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ geben, sondern, wenn einem auf die rechte Backe geschlagen wird, soll man auch die andere hinhalten, wenn einem der Rock genommen wird, soll man auch noch den Mantel geben und wenn man genötigt wird, eine Meile zu gehen, soll man zwei Meilen gehen (Matthäus 5, 38-41). Diese ganzen Forderungen gipfeln schließlich in der Aufforderung, die eigenen Feinde zu lieben und für die zu bitten, die einen verfolgen. Nur durch dieses Handeln beweist man sich als Kind Gottes. Und: Wenn man nur die liebt, die einen auch lieben oder nur zu seinen „Brüdern“ freundlich ist, was tut man da Besonderes (Matthäus 5, 43-48)? Auch im Weiteren wendet Jesus den Blick weg vom äußeren Feind, hin zum inneren Feind, wenn er sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Es soll nicht darum gehen, den „Splitter“ im Auge des Nächsten zu sehen, sondern den „Balken“ aus dem eigenen Auge zu entfernen (Matthäus 7, 1-5). Für den Umgang mit unseren Mitmenschen formuliert Jesus abschließend folgende Maßgabe: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7, 12). Ein Verhaltenskodex, der auch unter „Goldene Regel“ bekannt ist. Eine Forderung, die oberflächlich betrachtet erst einmal griffig und nett klingt. Taucht man jedoch tiefer in sie ein, realisiert man, dass sie ganz viel Achtsamkeit und Empathie erfordert. Denn es geht darum, die eigenen Bedürfnisse und auch die des Mitmenschen wahrzunehmen, zu ergründen, zu verstehen und zu respektieren. Das war jetzt ein exemplarischer Ritt durch die Bergpredigt von Jesus Christus. Es ließen sich in den Evangelien des Neuen Testaments der Bibel zahlreiche weitere Stellen mit einer identischen Zielrichtung finden.

Mir ist schon klar, dass eine friedfertige und gewaltlose Ausrichtung, wie Jesus sie fordert, in der Realpolitik, in der es in letzter Konsequenz immer um Macht geht, wohl nicht umzusetzen sein dürfte. Zu komplex sind realpolitische Zusammenhänge und zu eindimensional sind Jesu Forderungen. Mein Eindruck ist jedoch, dass es Jesus in der Bergpredigt gar nicht um einen Leitfaden für politisches Handeln gegangen ist, sondern um eine Orientierung für die Menschen, die ihm nachfolgen. Und diese Nachfolger von Jesus Christus sind nun mal die Christen. An sie richten sich seine Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit. Der einzelne Christ wiederum ist derjenige, der politisch aktiv werden kann. Und mein Blogartikel zeigt, dass es tatsächlich viele Christen sind, die politisch Einfluss nehmen und sich engagieren. Und wenn diese Christen sich zu allererst an Jesu Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit orientierten und nicht damit beschäftigt sind, sich krankmachenden Endzeitideen, apokalyptischen Wahnvorstellungen und paranoiden Feindbildern hinzugeben, könnte diese Welt ein besserer Ort sein. Ganz sicher wären uns solch verstörende und traumatisierende Ereignisse, wie ich sie in diesem Blogartikel beschreibe, dann erspart geblieben. Ich frage mich, wann die Christen, die diese Ereignisse (mit) zu verantworten haben, endlich anfangen, die Lehre ihres Religionsgründers, Jesus Christus, von dem sie ja schließlich vorgeben, ihm nachzufolgen, ernst zu nehmen?

Spirituelle Heldenreise

DER GARTEN EDEN

Ziemlich zu Beginn der Bibel kann man eine interessante Geschichte lesen: Die ersten beiden Menschen, Adam und Eva, leben, nachdem sie von Gott geschaffen worden waren, in einem paradiesischen Garten. Dem Garten Eden. Ein Garten, in dem Gott ein- und ausgeht.

Ich habe keine Ahnung, ob diese Geschichte ein historischer Tatsachenbericht ist, ein Märchen oder irgendwas dazwischen. Was ich an ihr aber ansprechend finde, ist das Bild, das sie malt. Das Bild von einer unschuldigen Ursprünglichkeit, einer Harmonie mit allem Geschaffenen und eines Eins-Sein mit dem Göttlichen, in das die ersten Menschen eingewoben sind.

Doch die Geschichte geht weiter: Der Mensch verliert diesen harmonischen Urzustand und wird aus diesem paradiesischen Garten vertrieben. Danach findet er sich in der Welt wieder, die uns Tag für Tag umgibt und deren Gesetzmäßigkeiten wir unerbittlich unterworfen sind. Eine Welt, in der ein Großteil der Menschen wie gefangen in einem Kokon vor sich hin existiert und sich des eigenen Ursprungs überhaupt nicht mehr bewusst ist.

DAS WESEN DER HELDENREISE

Auf gewisse Weise stellt der Verlust des Gartens Eden den Startpunkt eines jeden menschlichen Lebens dar. Und gleichzeitig auch den Startpunkt eines jeden spirituellen Weges.

Der Mensch trägt dieses Erbe der Ursprünglichkeit, der Harmonie mit allem Geschaffenen und des Eins-Sein mit dem Göttlichen nach wie vor in sich. Dieses Erbe ist gleichzeitig seine Bestimmung. Doch der Kokon, in dem der Mensch eingeschlossen ist und in dem er sich allzu wohlig eingerichtet hat, sorgt dafür, dass er sich dessen nicht mehr bewusst ist.

Allerdings führt das Leben den Menschen immer wieder in Situationen der Krise, die ihn heraus aus seiner Komfortzone und an seine Grenzen führen. Situationen, in denen der Mensch nicht länger stark ist oder die Kontrolle hat. Diese Situationen – oder besser: diese Orte – nannten die alten Initiationsriten Schwellenräume. Diese Schwellenräume stellen den Menschen immer wieder aufs Neue vor die Entscheidung, ob er aufwachen und seiner Bestimmung folgen will. Oder ob er sich noch tiefer in seinen Kokon zurückziehen will. Der Schwellenraum ist ein schmerzhafter und beängstigender Ort. Doch dieser Ort birgt das Potenzial in sich, ein Heiliger Ort zu werden.

Die Überlieferungen der Menschheit erzählen uns davon, dass es in allen Kulturen und zu allen Zeiten einzelne Menschen gab, die aufwachten, nachdem das Leben sie in solche Schwellenräumen geführt hatte. Sie ließen zu, dass etwas ihren Kokon durchbrach, ihnen den Schleier vor ihren Augen hinweg nahm, sie aus ihrem Tiefschlaf riss.

Mit einem Mal, inmitten all ihrer Kontrolllosigkeit und Schwachheit, wurden sie sich eines leisen Wisperns bewusst, das die gesamte Schöpfung durchzieht. Und dieses Wispern erzählte ihnen von dieser tiefen Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, nach der Harmonie mit allem Geschaffenen, nach dem Eins-Sein mit dem Göttlichen. Dieses Wispern war schon immer da gewesen. Doch erst jetzt nahmen sie es wahr. Und mehr noch: Sie spürten, dass dieses Wispern auf eine tiefe und unaussprechliche Weise Resonanz in ihnen erzeugte. Es war nicht nur das Wispern der Schöpfung um sie herum, nein, es war gleichzeitig auch das Wispern ihres eigenen tiefsten Seelengrundes.

Also brachen diese Menschen auf. Und folgten diesem Wispern, dieser Sehnsucht und damit ihrer eigenen Bestimmung. Sie begaben sich auf ihre ganz persönliche Heldenreise. Und diese sollte sie tief hinein ins Fremde, in die entlegensten Landstriche führen. Auf dieser Reise hatten sie mit Monstern, Riesen und wilden Tieren zu kämpfen und mit Geistern und Schatten zu ringen. Sie mussten manche Prüfung bestehen. Sie mussten hinabzusteigen in die Dunkelheit und hinauf auf den Gipfel des höchsten Berges. Und auf dieser Reise schlussendlich wurden sie tödlich verletzt und starben schließlich.

Denn nur wenn diese Menschen ihrem eigenen Tod gegenübertraten und durch ihn hindurchschritten, wenn sie das Mysterium von Tod und Auferstehung durchlitten, nur dann brachen sie durch zu ihrer eigenen Ursprünglichkeit, zu der Harmonie mit allem Geschaffenen und zum Eins-Sein mit dem Göttlichen. Dies war seit jeher ihre eigentliche Bestimmung gewesen und ihre wahre Identität; ihr Wahres Selbst.

Doch erst nach Vollendung der Heldenreise begriff der zum Helden gewordene Mensch, dass diese Sehnsucht, dieses Wispern, das ihn auf die Reise geführt hatte, aus den Tiefen seines eigenen Urgrundes aufgestiegen war. Folglich war das Ziel dieser Reise von Anfang an die Vereinigung mit seinem eigenen Ursprung gewesen. Doch es gab keinen anderen Weg dorthin zurück als den eigenen Tod. Dies konnte der Held aber erst im Rückblick verstehen.

BEDEUTUNG VON SPIRITUALITÄT

Diese Heldenreisen sind, meiner Meinung nach, von ihrem Wesen her immer zutiefst spirituell. Nun ist das Wort „Spiritualität“ eines, das ich zwar oft und gerne benutze, aber eben auch eines, das erstmal sehr unbestimmt und somit offen für alle möglichen Deutungen ist. Daher will ich mal versuchen, mich dem anzunähern, was ich unter Spiritualität verstehe und dies ins Verhältnis zum Wesen der Heldenreise setzen.

Über den von mir sehr geschätzten Freimaurer Jens Rusch bin ich über folgende Definition von Spiritualität gestolpert, deren Urheber ich allerdings nicht eindeutig verifizieren konnte: „Spiritualität ist der Ruf des Menschen nach sich selbst in einem geistigen Raum, der ihn übersteigt.“

Diese Definition von Spiritualität wirkt wie eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich zur Heldenreise geschrieben habe. Der „Ruf des Menschen“ ist das, was ich mit „Wispern“ oder „Sehnsucht“ umschrieben habe, was der Mensch zunächst als von außen kommend wahrnimmt und erst später realisiert, dass dieser Ruf seinem eigenen Inneren entspringt. Der „geistige Raum, der ihn übersteigt“, ist der Zustand, den ich als „eigene Ursprünglichkeit, Harmonie mit allem Geschaffenen und Eins-Sein mit dem Göttlichen“ umschrieb.

Schaut man bei Wikipedia nach, so wird „Spiritualität“ dort unter anderem wie folgt beschrieben: „…eine Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt. Spirituelle Einsichten können mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, mit der Erfahrung der Ganzheit der Welt in ihrer Verbundenheit mit der eigenen Existenz, mit der letzten Wahrheit und absoluter, höchster Wirklichkeit sowie mit der Integration des Heiligen, Unerklärlichen oder ethisch Wertvollen ins eigene Leben verbunden sein. Es geht dabei nicht um gedankliche Einsichten, Logik oder die Kommunikation darüber, sondern es handelt sich in jedem Fall um intensive psychische, höchstpersönliche Zustände und Erfahrungen, die direkte Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen der Person haben. Voraussetzung ist eine religiöse Überzeugung, die jedoch nicht mit einer bestimmten Religion verbunden sein muss.“

Diese Definition weist ebenfalls viele Aspekte auf, die sich auch in meiner Darstellung der Heldenreise wiederfinden lassen. So ist auch die Heldenreise ein „Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt“, die schließlich in „der Erfahrung der Ganzheit der Welt in ihrer Verbundenheit mit der eigenen Existenz“ mündet. Interessant hierbei ist, dass es sich „bei dieser Erfahrung nicht um gedankliche Einsichten, Logik oder die Kommunikation darüber“, sondern „um intensive psychische, höchstpersönliche Zustände und Erfahrungen, die direkte Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen der Person haben“ und deren Voraussetzung „eine religiöse Überzeugung, die jedoch nicht mit einer bestimmten Religion verbunden sein muss“, handelt.

Die beiden von mir angeführten Definitionen von Spiritualität lesen sich beinahe wie Blaupausen für die Idee und das Wesen der Heldenreise.

INITIATION UND HELDENREISE

Von dieser Feststellung ausgehend – nämlich, dass die Heldenreise an sich zutiefst spirituell ist – ist es interessant, einen weiteren Bogen zu schlagen: Den zu den archaischen Initiationsriten.

Wiederholt habe ich auf meinem Blog von meinem spirituellen Vater geschrieben: Dem Franziskaner-Pater Richard Rohr. Mehrfach nahm ich hierbei Bezug auf dessen Erforschungen der alten, archaischen Männerinitiationen (hierbei möchte ich insbesondere auf meine Artikel „Adams Wiederkehr“ sowie „Die Sehnsucht der männlichen Seele“ verweisen).

Vergleicht man nun das, was Richard Rohr über Wesen und Inhalt der archaischen Initiationsriten herausgefunden hat, mit dem, was ich hier über die Idee der Heldenreise herausgearbeitet habe, so fällt auf, dass diese Riten ihre Initianten Rituale durchlaufen ließen, die markante Überschneidungen zur Heldenreise aufweisen.

So begannen auch die archaischen Initiationsriten immer mit dem Schwellenraum. Der Initiant, der in der Regel zum Zeitpunkt des Rituals auch an der Schwelle zum Mann-Werden stand, wurde einem Ort, einem Zustand der Kontrolllosigkeit ausgeliefert. Hier hatte er keine Macht mehr. Hier war er abgeschnitten von dem, was ihn bestätigte und stark machte. Hier war dieser junge und sonst vor Kraft und Energie nur so strotzende Mann plötzlich schwach, armselig, irrelevant, nackt, verletzlich. Er war aus seiner Rolle gefallen. Und er hatte keine Gewissheit, ob er von diesem Ort jemals wieder würde zurückkehren können.

Doch dieser Schwellenraum führte ihn weiter hinab in die Tiefe. Der Initiant hatte seinem eigenen Schatten gegenüberzutreten. Er musste sich dem stellen, was schon immer in ihm schlummerte, was er aber beharrlich verdrängt und unterdrückt hatte. All das Böse, all die Angst, all der Schmerz, all die Zwänge. Er musste mit der Bestie in sich ringen. Es ging darum, den Initianten auf sich selbst zurückzuwerfen, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen und ihm keine Möglichkeit zu lassen, aus dieser Situation oder vor sich selbst zu fliehen. Auf diese Weise sollte sein Ego-Selbst – oder auch: das Falsche Selbst – erschüttert und demontiert werden. Nur an diesem Ort, den kein Mann freiwillig und von sich aus je betreten würde, kann tiefgreifende Veränderung, wahre Transformation geschehen.

Schließlich wurde der Initiant schwer verwundet und in sein eigenes Grab geworfen. Er starb. Und das auf sehr dramatische sowie grausame Art und Weise. Doch dieser Tod war unausweichlich. Das alte, das egodominierte Falsche Selbst des Initianten musste sterben, wenn tiefgreifende Transformation geschehen sollte. Umgeben von der Finsternis und der Stille des Todes hatte er auszuharren.

Auf den Tod des jungen Mannes erfolgte die machtvolle Auferstehung des gereiften Mannes. Im Idealfall war dieser nicht nur ins Mann-Sein und damit einhergehend in die Gemeinschaft der Männer eingeweiht worden, sondern er war auch rückverbunden worden in das Mysterium des Lebens; in diese unschuldige Ursprünglichkeit, in diese Harmonie mit allem Geschaffenen und in dieses Eins-Sein mit dem Göttlichen, von dem ich eingangs sprach. Im Idealfall war das egodominierte Falsche Selbst des jungen Mannes gestorben und das Wahre Selbst, das seit jeher im Einklang mit den spirituellen Kreisläufen und Gesetzmäßigkeiten allen Seins existiert, auferstanden. Der Initiationsritus hatte somit zweierlei erfüllt: Er hatte einen „guten Anfang“ für den Weg des Initiierten gelegt und gleichzeitig hatte er den Initiierten in die Vereinigung mit seinem Ursprung geführt.

In nicht wenigen Kulturen kehrte der initiierte, gereifte Mann aus diesem Ritual mit einem neuen Namen – seinem ureigensten Seelennamen – zurück. Nahezu immer aber, behielt der initiierte Mann Wunden von seiner Initiation zurück. Seine heiligen Wunden. Die daraus resultierenden Narben sollten ihn sein Leben lang an diese Erfahrung erinnern.

DER BEZUG ZUM FREIMAURERTUM

Ich hatte es in verschiedenen meiner Blogartikel angeführt: Steigt man tiefer ins freimaurerische Ritual und dessen Symbolik ein, realisiert man, dass es sich hierbei um einen althergebrachten Initiationsritus handelt. Und dieser Initiationsritus weist markante Parallelen zu den alten, archaischen Männerinitiationsriten auf. Für meine Großloge, den christlichen Freimaurerorden, kann ich dies ohne Abstriche feststellen. Spätestens ab dem dritten Grad, dem des Johannismeisters, ist dieses Erbe nicht mehr zu übersehen. In den Ritualen der anderen freimaurerischen Richtungen stecke ich in der Tiefe nicht drin. Doch bei dem, was ich von außen betrachtet sehe, scheint dies in allen freimaurerischen Ausprägungen der Fall zu sein. Im Laufe der Zeit jedoch geriet dieses Wissen zunehmend in den Hintergrund und verblasste von Ritualreform zu Ritualreform mehr und mehr.

Folglich lebt in dem Initiationsritual des Freimaurertums auch das Wesen der Heldenreise weiter. Ich würde sogar noch weiter gehen: Das freimaurerische Initiationsritual ist dem Wesen der Heldenreise nachempfunden.

Nun habe ich in diesem Artikel verschiedene Thesen aufgestellt, die alle aufeinander aufbauen, nämlich:
– Die Idee der Heldenreise ist von ihrem gesamten Wesen her zutiefst spirituell.
– Die archaischen Initiationsriten bergen das Prinzip der Heldenreise in sich.
– Das freimaurerische Initiationsritual birgt die Grundzüge der alten, archaischen Männerinitiationsriten in sich.
Als letzte Konsequenz bedeutet dies, dass das Freimaurertum an sich zutiefst spirituell ist.

Ich hatte es in meinem Artikel „Freimaurertum benötigt Spiritualität und Gottesbezug“ bereits geschrieben: Das spirituelle Wesen des Freimaurertums ging in jener Zeit, als das Freimaurertum sich nach und nach in institutionalisierte Formen goss, eine Vereinigung mit den Ideen der Aufklärung und des Humanismus ein. Das, was das Freimaurertum seither ausmacht, ist das Zusammenbringen und Aushalten genau dieser zwei gegensätzlichen Pole: Aufklärung und Humanismus auf der einen sowie Esoterik und Spiritualität auf der anderen Seite. Negiert man eine dieser beiden Seiten zu Gunsten der anderen, kommt eine Unwucht in den eigenen freimaurerischen Weg. Die freimaurerische Tugend der Mäßigkeit, die unter anderem ausdrückt, dass es darum geht, das rechte Maß zwischen den Extrempolen zu finden und diese in Einklang miteinander zu bringen, erinnert mich an genau diese Herausforderung.

Daher ist dieser Artikel ein Plädoyer dafür, im Freimaurertum nicht nur ein Instrumentarium für einen ethisch-moralischen Lebenswandel zu sehen. Nein, es gilt im Freimaurertum auch die Dimensionen der eigenen Heldenreise (wieder-) zu entdecken. Und dies ist der ganz persönliche Weg zurück zur unschuldigen Ursprünglichkeit, zur Harmonie mit allem Geschaffenen und zum Eins-Sein mit dem Göttlichen. Sprich: Der Weg zurück zur Vereinigung mit dem eigenen Ursprung. Und diese Heldenreise ist immer zutiefst spirituell…

Lebensbaum

Im Laufe der Zeit ist der Lebensbaum ein ganz zentrales und fundamentales Symbol meines spirituellen Weges geworden.

BÄUME UND WÄLDER

Ich glaube, seinen Anfang nahm dies auf einem Seminar über initiantische Schwertarbeit. Ein katholischer Geistlicher hatte es vor einigen Jahren in einem Kloster abgehalten und ich hatte es besucht. Eines Morgens vor dem Frühstück schickte er uns raus in die Natur. Sein Auftrag an uns war, dass wir bei einer Pflanze verweilen sollten. Ich suchte mir einem großen Baum aus, der direkt an einem Fluss stand. Etwa eine halbe Stunde stand ich vor diesem Baum. Betrachtete ihn und berührte ihn. Und mit jedem Augenblick, den ich vor diesem Baum verweilte, wurde mir bewusster, wie erhaben er war. Erhaben, in sich ruhend und wunderschön. Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, diesen Baum zu umarmen. Ganz fest drückte ich ihn an mich. Als ich diesen Platz wieder verließ, verneigte ich mich vor ihm. Ein tiefes Gefühl von Ehrfurcht hatte dieser Baum in mir zurückgelassen.

Diese Erfahrung brannte sich in mir ein und sollte fortan mein Begleiter sein. Und es sollten weitere Erfahrungen dieser Art folgen. Auf eine intuitive Weise wurden Bäume so etwas wie Bezugspunkte der Achtsamkeit und Kontemplation für mich. Und dort, wo viele Bäume zusammen standen und in einem Wald aufgingen, schufen sie gleichzeitig Orte, die mir spirituelles Erleben ermöglichten. Der Wald wurde zu meinem Tempel. Blicke ich zurück, so waren es die spirituellen Zeiten in den Wäldern, die mich am grundlegendsten und nachhaltigsten verändert haben.

LEBENSBAUM

Als ich anfing, mich oberflächlich mit der Idee des Lebensbaumes zu befassen, stellte ich schnell fest, dass diese Idee in nahezu jeder Kultur Bestandteil der Religionen und Kulte war. Mal als zentrales Symbol, mal lediglich in Randbereichen. Die in unseren Breitengraden wohl bekanntesten Lebensbäume dürften die aus dem germanisch-skandinavischen Kulturkreis stammende Weltenesche Yggdrasil sowie der Sephirothbaum aus der jüdisch-christlichen Kabbala sein.

So unterschiedlich diese Lebensbäume auf dem ersten Blick auch daherkommen, so weisen sie unterhalb dieser Oberfläche doch markante Ähnlichkeiten auf. Das gilt sowohl in Bezug auf ihre Darstellungen, als auch in Bezug auf die kosmischen Ordnungen und den damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten, die sie in sich bergen und ausdrücken.

SPIRITUELLE PRINZIPIEN DES BAUMES

Ich habe mich gefragt, ob solche Erfahrungen, wie ich sie mit Bäumen und in Wäldern gemacht habe, der Grund dafür gewesen sein könnten, dass das Symbol des Lebensbaums Einzug in fast alle Religionen und Kulte gefunden hatte. Unabhängig von dieser Fragestellung aber ist der Baum als solcher aufgrund seiner Beschaffenheit geradezu prädestiniert, spirituelle Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten auszudrücken:

1. Licht
Zu allererst ist da sein Streben zum Licht empor. Sämtliche Lebens- und Wachstumsprozesse des Baumes sind auf die Sonne, als Quelle des Lichts, ausgerichtet. Mit seinem gesamten Wesen streckt der Baum sich der Sonne entgegen.

2. Verbindung
Dann verbindet der Baum die Unterwelt und die Oberwelt miteinander, sowie sämtliche Zwischenwelten. Seine Wurzeln reichen bis tief ins Erdreich hinein und seine Krone küsst den Himmel. Dazwischen durchläuft und verbindet er mindestens zwei weitere Ebenen. Nämlich die der Erdoberfläche sowie die Ebene zwischen Erdoberfläche und Krone.

3. Eins mit allem
Weiter ist der einzelne Baum verbunden mit dem gesamten Leben um ihn herum. Zwar wirkt es, wenn man einen einzelnen Baum im Wald betrachtet, zunächst so, als stünde dieser isoliert für sich. Schaut man jedoch genauer hin, so stellt man fest, dass dieser einzelne Baum durch Wurzelsysteme, andere Pflanzen, Botenstoffe, den Wald bevölkernde Tiere und Insekten sowie energetische Felder mit dem gesamten Ökosystem um sich herum zutiefst verwoben ist und in wechselseitigem Austausch steht. Es ist fast so, als stelle dieser einzelne Baum ein Hologramm dar, in dem sich das gesamte Ökosystem des Waldes widerspiegelt.

4. Werden und Vergehen
Schlussendlich ist der Baum Teil des ewig gleichen Kreislaufs des Werdens und Vergehens allen Lebens. Dieser Kreislauf hatte seinen Anfang darin, dass das Samenkorn, aus dem der Baum mal hervorgehen würde, sterben musste, um das Leben des Baumes hervorbringen zu können. Und seither kann man Jahr für Jahr die Schönheit dieses Kreislaufs am Baum ablesen. Es beginnt damit, dass im Frühling die ersten Knospen hervorbrechen, aus denen sich dann die Blätter und Blüten des Baumes entwickeln. Im Sommer stehen Blätter im vollsten Saft und die Blüten bringen Frucht. Im Herbst schließlich verfärben sich die Blätter bunt und die Früchte des Baumes können geerntet werden. Bis schließlich die Blätter herabfallen und verrotten. Den Winter wiederum überdauert der Baum kahl und scheinbar leblos. Nur um im Frühling ein weiteres Mal neu geboren zu werden und diesen Kreislauf ein weiteres Mal zu durchlaufen.

Ganz sicher fallen einem noch weitere Eigenschaften des Baumes auf, die spirituelle Parallelen aufweisen, wenn man sich nur länger mit diesem Phänomen auseinandersetzt.

ANNÄHERUNG AN DEN SEPHIROTHBAUM

Der Lebensbaum, in den ich tiefer eingestiegen bin, ist der Sephirothbaum der jüdisch-christlichen Kabbala. Zwei Freimaurer-Brüder meiner Loge, die ebenso wie ich einen spirituellen Zugang zur freimaurerischen Symbolik und zum freimaurerischen Ritual haben, brachten mich damit in Berührung.


(Der Sephirothbaum nach Isaak Luria,
Quelle: https://www.wikipedia.org/)

Als ich die Darstellung des Sephirothbaumes zum ersten Mal sah, empfand ich diese als sehr mechanisch und kalt. Auf den ersten Blick hatte diese Darstellung für mich so gar nichts mit Leben zu tun. Je mehr ich mich jedoch darin einlas, was für Welten im Sephirothbaum dargestellt sind und welche Gesetzmäßigkeiten durch ihn ausgedrückt werden – und auch über die Darstellung des Sephirothbaumes meditierte – desto mehr begann ich zu erahnen, welche spirituelle Tiefe und Weite im ihm verborgen liegen. Und ich bekam eine Ahnung davon, dass in diesem Baum das Wissen um das, was meinen spirituellen Weg bis dato geprägt und beschenkt hatte, verborgen liegen könnte: Die Initiation in das Wahre Selbst und das Mysterium des Lebens, der Weg der Mystiker hinein in die Unio Mystica, das Rückverbinden in die Kreisläufe des Lebens, das Versenken in innere Stille. Und schließlich stellt dieser Baum eine der Matrixen dar, die dem Weg durch die zehn Grade des christlichen Freimaurerordens zugrunde liegt.

Mehrfach schon wollte ich mich dem Sephirothbaum auf diesem Blog annähern. Doch jedes Mal aufs Neue brach ich dieses Unterfangen wieder ab. Denn dieser Baum war und ist schlichtweg zu umfassend, facettenreich und zu vielschichtig. Daher möchte ich hier jetzt eine Art Teil-Einstieg wagen, indem ich lediglich drei Aspekte des Sephirothbaumes anreiße; und dies auch nur ganz kurz und oberflächlich. Das kann und soll erstmal nur eine grobe Vorstellung geben. Meine Idee dahinter ist, in weiteren Blockartikeln diese Aspekte aufzugreifen, zu vertiefen und auf ihnen aufzubauen, um wiederum weitere Aspekte einzuführen.

DREI ASPEKTE DES SEPHIROTHBAUMES

1. Die Sephiroth:
Der Sephirothbaum besteht aus zehn Sphären, die Sephiroth genannt werden. Jede dieser zehn Sephiroth hat ganz spezifische Eigenschaften und Qualitäten. Diese zehn Sephiroth können in mindestens zwei Richtungen „gelesen“ werden: Von oben, von der Krone aus, oder von unten, von der materialisierten Welt aus. Von oben aus gelesen beschreibt der Baum die verschiedenen Stufen der Emanation des Göttlichen. Diese durchläuft sämtliche Sephiroth und entfernt sich mit jeder Sefirah ein Stück mehr von ihrer Ursprünglichkeit. In der letzten Sefirah schließlich ist das Göttliche in seiner abgeschwächtesten Form gebunden. Folglich kann der umgekehrte Weg durch die Sephiroth des Lebensbaumes als eine stufenweisen Initiation verstanden werden. An deren Ende steht die Vereinigung mit dem eigenen göttlichen Ursprung.

2. Die vier Ebenen:
Bei dem Weg durch die Sephiroth werden gleichzeitig vier Ebenen, die unter anderem den vier Elementen der Welt und den vier seelischen Sphären des Menschen zugeordnet werden können, durchlaufen. Die unterste Sefirah wird dem Element Erde sowie der Leibseele zugeordnet. Die nächsten drei Sephiroth werden dem Element Wasser sowie der äußeren Gefühlsseele und die darauf folgenden drei Sephiroth dem Element Luft sowie der inneren Gefühlsseele zugeordnet. Die letzten drei Sephiroth schließlich werden dem Element Feuer sowie der Geistseele zugeordnet.

3. Die drei Säulen:
Weiter fällt auf, dass die Sephiroth in der Form übereinander angeordnet sind, dass man sie als drei nebeneinander stehende Säulen verstehen kann. Die linke und die rechte Säule bilden sich jeweils aus drei Sephiroth und stehen in polaren und dualistischen Spannungsverhältnissen zueinander. Die mittlere Säule, die sich aus vier Sephiroth bildet, steht für den Ausgleich von Dualismus und Polarität.

HEILIGES RINGEN

Diese von mir gewählten Aspekte sind nicht willkürlicher Natur. Denn es sind die Aspekte, über die ich mit meinem Hintergrund und meiner Prägung als erstes Zugang zum Sephirothbaum gefunden hatte.

Die Auseinandersetzung mit dem Sephirothbaum ist jedoch wie ein Ringkampf. Immer wenn man meint, etwas verstanden zu haben, geht eine neue Tür auf und man realisiert, was man alles noch nicht weiß. Macht man drei Schritte vorwärts, schmeißt es einen im nächsten Moment wieder zwei Schritte zurück. Und in dieses heilige Ringen um Wissen und Nichtwissen, um Erblicken und Erblinden, um Eporsteigen und Niederstürzen bin ich mit meinem Blog nun auch eingetreten. Ob ich dem gewachsen bin, weiß ich nicht…

Ideal und Spiegelbild

„Letzte Nacht hat mich der Mond gefragt,
ob ich glücklich bin.
Als ob man dazu mal kurz was sagen kann,
als ob es so einfach ist.

Ich habe ihn ganz cool ignoriert
und die Sterne angeschaut.
Aber irgendwie hat mir der Mond da schon
die Stimmung voll versaut.

Ich wollte nur träumen
und einfach so dastehen,
doch dann musste ich vor Hunger
in die Küche gehen.

Da hat der Kühlschrank
mich dann prompt gefragt,
ob ich glücklich bin…“

Ich blickte in den Spiegel. Doch ich erkannte mich nicht mehr. Die Person, die mir da gegenüberstand, war mir seltsam fremd geworden. Ich schaute in die zahllosen Spiegel um mich herum. Doch das, was auf mich zurückgeworfen wurde, ließ sich nicht mehr in Einklang bringen mit dem, wie ich mich selber sah.

Ich war davon überzeugt gewesen, „es“ begriffen zu haben. Schließlich hatte ich mein Leben lang so viel dafür getan. Und noch viel mehr darüber gelesen. Doch nun realisierte ich in beinahe jedem Augenblick, dass da eine riesige Lücke klaffte. Eine Lücke zwischen meinem Ideal und dem was ist.

Irgendwann hatte ich mich entschieden zu bloggen. Ich wollte erzählen von meiner großen Sehnsucht. Ich wollte erzählen von den Momenten, die für einen Augenblick den Schleier wegrissen hatten. Momente, die mich hatten davon kosten lassen, dass ich auf einer tiefen Ebene verbunden bin mit allem, was ist. Eins mit dem, was die Menschen seit jeher mit Begriffen wie „Gott“ zu umschreiben versuchen. Momente, die mich in meinem Inneren so unendlich tief angerührt hatten. Ich wollte erzählen von den großen spirituellen Weisheitslinien, die ich überall zu entdecken begann: In der Mystik, in den alten Initiationsriten, im Freimaurertum, in den archetypischen Erzählungen und Bildern der Menschheit, in Symbolen, Ritualen, Tempeln und Kirchen, in der Natur und schlussendlich in jedem Menschen selbst.

Und so begann ich zu erzählen. Ich erzählte von Toleranz und wurde immer absoluter. Ich erzählte von Stille und wurde immer lauter und unsteter. Ich erzählte vom Loslassen und verkrampfte zusehends vom ganzen Festhalten. Ich erzählte von Liebe und wurde immer egozentrierter. Ich erzählte von Empathie und wurde immer kälter. Rastlosigkeit, Wechselhaftigkeit und Oberflächlichkeit wurden meine ständigen Begleiter. Angst umgarnte mich und sog mich langsam in sich auf. Und dann war da diese ständige Wut in mir. Wut, die immer häufiger danach verlangte, sich zu entladen.

Und schließlich stellte mir das Leben die Frage: „Wer bist Du, Hagen? Wer bist Du, dass Du Dir anmaßt, hier als Lehrer aufzutreten? Wer bist Du?“

Ja, wer bin ich denn eigentlich? Die zahllosen Beschreibungen die ich mir im Laufe der Zeit angeeignet habe, kommen an ihre Grenzen. Bin ich Freimaurer? Bin ich kontemplativer Christ, keltischer Christ? Bin ich ein initiierter Mann? Bin ich Ehemann und Vater? Bin ich eine „kontraphobische 6“ gemäß dem Enneagramm, schizoid-zwanghaft gemäß der Grundtypen der Angst von Fritz Riemann, Krieger-Priester gemäß der Lehre von den Archetypen? Alle diese Beschreibungen mögen ihre Berechtigung haben. Und doch sind sie alle zu klein. Zu unvollständig. Zu beschränkend. Zu verkopft. Auch mein Spiegelbild vermag mir diese Frage nicht mehr zu beantworten.

Also werde ich von nun an für eine Weile den Stift aus der Hand legen. Ich werde mir Zeit nehmen, hinzuhören. Ich werde mir Zeit nehmen, hinzuschauen. Die Dinge sollen sich wieder setzen und entfalten dürfen. Sie sollen wieder sein dürfen. Ohne dass ich sie auf meinem Blog gleich beschreiben, einordnen und preisgeben muss. Und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich zurückkehren. Dann werde ich den Stift wieder in die Hand nehmen. Ein Jegliches hat seine Zeit. Erzählen hat seine Zeit. Schweigen hat seine Zeit. Es geschehe also…

(Eingangstext von: Die Toten Hosen,
aus: „Der Mond, der Kühlschrank und ich“)

Adams Wiederkehr

BLOGPARADE – BUCHVORSTELLUNG

Vor einigen Monaten stolperte ich über einen ganz besonderen Blog: Er nennt sich „Der Krisenwandler“ und wird von Didi Burnault geführt. Dieser setzt sich dort auf berührend ehrliche und gleichzeitig konstruktive und bodenständige Weise mit seiner Depressionserkrankung auseinander. Dieser Blog tat es mir dermaßen an, dass er es in meine Sammlung spiritueller Links schaffte.

Anfang Juni diesen Jahres startete der Krisenwandler eine „Buchparade„. Wer wollte, war dazu aufgerufen, ein oder mehrere Bücher vorzustellen, die sein Leben nachhaltig geprägt haben. Nur zu gerne beteilige ich mich daran.

Ich habe mich dafür entschieden, das Buch „Adams Wiederkehr – Initiation und Männerspiritualität“ (früherer Titel: „Endlich Mann werden“) des Franziskaner-Paters Richard Rohr vorzustellen. Dieses umfasst 240 Seiten und kostet etwa 17,- €uro.

ÜBER DEN AUTOR

Richard Rohr (geb. 20.03.1943, Topeka) wurde 1961 in den Franziskanerorden aufgenommen und 1970 in West-Topeka zum Franziskaner-Priester geweiht. Im selben Jahr beendete er sein Theologiestudium am St. Leonhard Seminar in Dayton mit dem Master-Grad. Hiernach begann er als Religionslehrer Jugend-Exerzitien zu leiten, woraus die charismatische Familien- und Laien-Kommune „New Jerusalem“ in Cincinnati hervorging. Nach einem langjährigen Engagement in der Friedensbewegung lebt er seit 1987 in der Franziskanergemeinschaft in Albuquerque in New Mexico, wo er das „Center for Action and Contemplation“ aufbaute. Richard Rohr begründete auch die Männerbewegung M.A.L.Es (Men as Learners and Elders).

Neben zahlreichen Publikationen und Vorträgen zu den Themenkreisen männlicher Spiritualität, sowie der Durchführung von entsprechenden Seminaren, brachte er sich federführend in die Ausgestaltung eines Initiationsritus für Männer ein. Diesen durchliefen seit Anfang der 1990er Jahre viele tausend Männer aus den USA, aus Europa sowie aus Australien. Hieraus ist eine spirituelle Männerbewegung entstanden.

Inhaltlich befasst sich Richard Rohr unter anderem mit dem Enneagramm, den Formen und Bedürfnissen männlicher Spiritualität, dem kontemplativen Gebet, den alten archaischen Initiationsriten, archetypischen Bildern, christlicher Mystik und den praktischen Konsequenzen, die sich aus diesen Themen für das alltägliche Handeln ergeben. Er würdigt seine christlichen Wurzeln, ist aber bemüht, die großen, gemeinsamen spirituellen Linien, die zu jeder Zeit und in jeder Kultur in den unterschiedlichen Religionen und Kulten Ausdruck fanden, freizulegen und wertzuschätzen. Er geht davon aus, dass alles Sein auf einer tieferen Ebene miteinander verbunden ist. Folglich ist jeder einzelne Mensch Teil des „Großen Ganzen“ und spiegelt dieses wie ein Hologramm in sich selbst wieder.

Mein spiritueller Weg wurde nachhaltig von Richard Rohr geprägt. Das gilt sowohl für die Themen, die er bewegt, als auch für seine Herangehensweise an diese. 2007 durchlief ich seine Männerinitiation. Diese stieß tiefe und umwälzende innere Prozesse bei mir an. Prozesse, die noch immer ihre Kreise ziehen. 2009 lernte ich Richard Rohr persönlich kennen, als ich und weitere Männer mehrere Tage lang auf engstem Raum mit ihm zusammenarbeiten durften. Es galt, die erste Männerinitiation auf deutschem Boden durchzuführen. Ich war tief beeindruckt von der Herzlichkeit, der Offenheit, der Authentizität und der Demut, mit der er den Menschen begegnete.

ZUM INHALT DES BUCHES

Zeit seines Lebens hat sich Richard Rohr mit den archaischen Initiationsriten befasst. Er hat die Riten der unterschiedlichen Kulturen studiert, erforscht und miteinander verglichen. Die Quintessenz dessen, was er dabei zu Tage förderte, hat er in seinem Buch „Adams Wiederkehr“ zusammengefasst. In gewisser Weise handelt es sich bei dem Buch um so etwas wie das Lebenswerk oder das persönliche Manifest von Richard Rohr.

Mit am interessantesten ist seine Feststellung, dass so gut wie alle alten Kulturen über Initiationsriten für ihre jungen Männer verfügten. Diese Riten existierten noch vor den institutionalisierten Religionen. „Sie entwickelten sich beinahe überall vor der Achsenzeit (ca. 800 bis 200 vor Christus) als die Menschheit weltweit organisiert zu denken begann.“ Interessant ist auch, dass in der Regel nur junge Männer initiiert wurden. Die rituellen Unterweisungen für die Frauen lagen eher im Bereich der Fruchtbarkeitskulte.

Besonders bemerkenswert ist, dass diese Initiationsriten unabhängig vom jeweiligen geographischen Ort und der jeweiligen kulturellen Einbettung, in der sie stattfanden, markante Parallelen aufwiesen. Dies gilt sowohl für die inhaltliche Zielrichtung, als auch für die symbolische und rituelle Ausgestaltung. Auch die Abläufe dieser Initiationen glichen sich augenscheinlich.

„Der Weg der Initiation wurde immer an heiligen Orten der Kraft und in Form eines Rituals gelehrt.“ Hierbei nahm die Natur großen Raum ein. In vielen Kulturen hatten die Initianten lange Zeiten der Einsamkeit in der Natur zu verbringen.

Doch zunächst wurde der zu initiierende junge Mann vom „alltäglichen Leben, den alten Rollen, Bestärkung durch die Frauen“ getrennt. Dies brachte ihn „in den Schwellenraum“. Ein Ort außerhalb der eigenen Wohlfühlzone. Der Schwellenraum „ist die gesegnete Zeit, wenn wir nicht sicher sind und wir nicht die Kontrolle haben, wenn sich etwas wirklich Neues ereignen kann“. Es ist der Raum, in dem „das Alte nicht mehr“ ist und „das Neue noch nicht“. Es ist die Zeit des Abstiegs, des Wartens ohne Antworten, des „Chaos des Unbewussten“, der Einsamkeit und die Zeit des „Ringens mit der eigenen dunklen Seite“. Doch nur an diesem Ort ist „eine Begegnung mit dem Numinosen“ möglich. Nur an diesem Ort ist tiefgreifende Veränderung, innere Transformation möglich.

In diesem Schwellenraum wurde der junge Mann mit Wahrheiten konfrontiert, die ihm seine Sterblichkeit, seinen eigenen Schatten, seine Schwachheit und seine Irrelevanz vor Augen führen sollten. Die sogenannten „Fünf harten Wahrheiten“ leitete Richard Rohr daraus ab. Diese lauten: „Das Leben ist hart“, „Du bist nicht so wichtig“, „In Deinem Leben geht es nicht um Dich“, „Du hast nicht die Kontrolle“, „Du wirst sterben“. Dies sind Wahrheiten, die geeignet sind, das Ego-Selbst des jungen Mannes in seinen Grundfesten zu erschüttern, von seinem Thron zu stoßen und in einen neuen Kontext des „Großen Ganzen“ zu verorten und einzubetten.

Am tiefsten und dunkelsten Punkt des Schwellenraums schließlich wurde der junge Mann auf dramatische Weise verwundet. Und starb einen grausamen Tod. Er stürzte hinab in sein eigenes Grab. Umgeben von der Finsternis und der Stille des Todes. Und dort hatte er auszuharren…

Auf den Tod des jungen Mannes erfolgte die machtvolle Auferstehung des gereiften Mannes. Und dieser Mann hatte eine Weihe erlebt. Er war auf verschiedenen Ebenen eingeweiht – initiiert – worden: Initiiert ins „Mann-Sein“ und damit in die Gemeinschaft der Männer. Im Idealfall war er aber auch in das „große Geheimnis“ oder die „große Vision“ des Lebens initiiert worden. Im Idealfall war er „rückverbunden“ worden in die spirituellen Kreisläufe und Gesetzmäßigkeiten allen Seins. Im Idealfall war er in Berührung gekommen mit seinem „eigenen Seinsgrund“ und hatte gekostet vom Eins-Sein mit allem, was ist. Im Idealfall hatte er sich als „geliebten Sohn Gottes“ erfahren.

Im Idealfall war das „Falsche Selbst“ des jungen Mannes gestorben und das „Wahre Selbst“ auferstanden. Meistens ging damit einher, dass der Initiant auch einen neuen Namen annahm. Seinen ureigensten Seelennamen. Diese Erfahrungen hatten das Potential, der Anfang der ganz persönlichen Heldenreise des Mannes zu werden. Denn im Gegensatz zu den Religionen erzählten die Initiationsriten den Weg des Mannes von seinem Ende her. Und für diesen Weg setzten sie den „guten Anfang“. Es gab in der Biografie und der Identität des Mannes in Bezug auf seine Initiation immer ein klares „Davor“ und ein klares „Danach“.

In einigen Kulturen kehrte der Mann aus den Tiefen dieses Rituals mit einer Waffe zurück. Diese hatte er sich während seiner Zeit im Schwellenraum selbst bauen müssen. Nicht selten brachte er auch „ein Geschenk“ in die Gemeinschaft mit.

Seine Ausführungen zu den archaischen Initiationsriten flankiert Richard Rohr immer wieder mit sehr klarer Kritik an der Religion, der er selber angehört: Dem Christentum. Seiner Einschätzung nach wusste das Christentum in seinen Anfängen um die Notwendigkeit und den Wert der Initiation. Doch je mehr sich das Christentum institutionalisierte und zum weltlichen Machtfaktor wurde, desto mehr geriet dieser Schatz in Vergessenheit. Heute findet sich dieses Wissen nur noch in rudimentärer Form wieder. Zum Beispiel in der Symbolik von Taufe und Abendmahl oder in Feierlichkeiten wie Firmung und Konfirmation.

SCHWÄCHEN DES BUCHES

Auf vergleichsweise wenigen Seiten hat Richard Rohr sehr viel Essentielles zum Thema Initiationsriten und männlicher Spiritualität zusammengetragen. Da liegt es in der Natur des gewählten Formats, dass er vieles lediglich anreißen kann, ohne weiter in die Tiefe zu gehen.

Vom Schreibstil her gelingt es Richard Rohr sehr anschaulich und nachvollziehbar sein. Daher liest sich das Buch auch sehr flüssig. Im Umkehrschluss kommt dieser Schreibstil jedoch nur wenig wissenschaftlich daher.

Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Richard Rohr nur vergleichsweise wenig mit Quellenangaben arbeitet. Ich will nicht unterschlagen, dass er dem Buch einige Seiten mit Quellenangaben und auch weiterführender und vertiefender Literatur hintenanstellt. Allerdings wären mehr und auch mehr direkte Verweise im Text oftmals hilfreich gewesen.

Dann gelingt es Richard Rohr nicht immer, seine Themen trennscharf voneinander abzugrenzen. So kommt es hier und da zu Überschneidungen und zu Wiederholungen. Manches Mal werden Gedanken angerissen, abgeschlossen und an späterer Stelle wieder aufgenommen; ohne dass dies dem Leser vorher transparent gemacht worden wäre.

Und zu guter Letzt blendet Richard Rohr in dem Buch die Initiationsriten der Mysterienbünde komplett aus. Er widmet sich tatsächlich ausschließlich den archaischen Initiationsriten. Dabei trifft vieles, was er für diese Initiationsriten herausarbeitet, genauso für die Initiationsriten der Mysterienbünde zu. Hier wäre es interessant gewesen zu beleuchten, in welcher historischen und inhaltlichen Beziehung diese beiden unterschiedlichen Formen der Initiationsriten zueinander stehen.

MEIN FAZIT

Dieses Buch hat meinen spirituellen Weg geprägt wie nur wenige andere. Und weil ich im persönlichen Austausch mit Richard Rohr erfahren durfte, welch inhaltliche Substanz und Tiefe dieser Mann mitbringt, lässt es mich auch die Schwächen dieses Buches einordnen und mir verzeihlich erscheinen.

Da ich die Initiation nach Richard Rohr selbst durchlaufen habe, wandelte und vertiefte sich auch mein Zugang zu diesem Buch. Und je länger sich das, was ich in diesem Initiationsritus durchlebt habe, in meinem Leben entfaltet, desto mehr fallen mir neue Facetten darin auf. Es gibt wohl kein Buch, das ich so oft zur Hand nehme und immer wieder Neues entdecke.

Und zu guter Letzt habe ich durch dieses Buch überhaupt erst begriffen, dass im Kern des freimaurerischen Rituals ein alt hergebrachter Initiationsritus überlebt hat. Und sozusagen als Nebenprodukt gelang es mir auch durch dieses Buch, die Brücke zu schlagen, dass diese besondere Verbindung von mittelalterlichem Bauhandwerk und archaischem Initiationsritus, die das Wesen des Freimaurertums ausmacht, wohl zur Zeit des Benediktinerordens im Zeitalter der Romanik seinen Anfang nahm. Als mir das klargeworden war, entschloss ich mich, der Bruderschaft der Freimaurer beizutreten. Das Buch eines praktizierenden Katholischen Mönchspaters hat den ausschlaggebenden Impuls gesetzt, Freimaurer zu werden … wenn das nur der Papst wüsste…

Vor der Ampel

Manchmal sind es ganz alltägliche Situationen, die einem mehr über einen selbst offenbaren, als einem lieb ist. Ich hatte letzt so ein Aha-Erlebnis, als ich im Auto unterwegs war.

Ich fuhr auf folgende Situation zu; war aber noch etwa 400 Meter von ihr entfernt: Eine Ampel stand auf Grün. Etwa Hundert Meter vor dieser Ampel hatte ein LKW gehalten; wohl zum Be- und Entladen. Da Gegenverkehr kam, stauten sich hinter diesem LKW bereits drei Autos auf.

Während ich mich dieser Situation näherte, begannen meine Gedanken sich plötzlich zu verselbstständigen: „Hoffentlich komme ich noch bei Grün über die Kreuzung! – Was ist, wenn auch ich hinter dem LKW halten muss? – Wenn ich zu lange hinter dem LKW warten muss, komme ich nicht mehr bei Grün über die Kreuzung! Und dann komme ich zu spät zu meinem Termin! – Und das legt man mir sicherlich als Unhöflichkeit aus!“ Ich merkte, wie ich unruhig und fahrig wurde. Stress stieg in mir auf.

Als ich mich dem LKW aber bis auf etwa hundert Meter genähert hatte, war der Gegenverkehr vorüber. Die Autos, die hinter ihm gehalten hatten, setzten nun an ihm vorbei. Und auch ich selbst kam noch in derselben Grünphase der Ampel über die Kreuzung.

Viel Lärm um nichts also. Mal wieder. Doch im Nachhinein offenbarte mir diese Situation zwei Dinge über mich:

1: Mein Verstand neigt dazu, nicht in der Gegenwart zu sein. Wäre ich in dieser Situation einfach nur gegenwärtig gewesen, wäre ich über die Kreuzung gefahren, ohne mir irgendwelche Sorgen zu machen. Ich hätte mir eine Menge unnötigen Stress erspart. Stattdessen kreisten meine Gedanken um eine Situation, die noch vor mir lag. Einen Situation, die ich in dem Moment noch gar nicht beeinflussen konnte. Eine Situation, von der ich noch nicht einmal wissen konnte, ob sie überhaupt eintreffen würde.

2: Mein Verstand neigt dazu sich Sorgen zu machen. Und diese darüber hinaus auch noch zu übertreiben. Die Situation, um die es ging, war eine komplett harmlose, wie man sie tagtäglich im Straßenverkehr erleben kann. Und doch machte mein Verstand etwas Riesengroßes draus. Mit den schlimmsten Konsequenzen. Die Anhaltspunkte für ein derartiges Horror-Szenario waren mehr als gering. Und doch nutzte mein Verstand sie, um das Ganze in den schlimmsten Farben auszumalen.

Witzigerweise ist genau dies einer der Hauptkritikpunkte von spirituellen Lehrern wie z.B. Eckhart Tolle oder Richard Rohr am westlichen Menschen des 21. Jahrhunderts: Dass dieser sich zu viel in seinem Verstand aufhält. Denn dem Verstand ist es nahezu unmöglich, einfach nur (gegenwärtig) zu sein. Entweder blickt er zurück und bedauert oder rechtfertigt die Vergangenheit. Oder er blickt – wie in meinem Fall – nach vorne und befürchtet oder erträumt die Zukunft. Nur eines ist er in der Regel nicht: Gegenwärtig.

Und dabei ist doch ausschließlich der momentane Augenblick der Ort, an dem das Leben geschieht. Der Ort, an dem Gott sich voll und ganz offenbart. Es ist an uns zu lernen, im Hier und Jetzt zu verweilen, um in genau diesem Bewusstsein leben zu können.

Und so zeigte mir diese Begebenheit wieder mal nur, dass es eine Sache ist, über spirituelle Prinzipien zu schreiben und eine andere, nach diesen im Alltag auch zu leben. Mal wieder klaffte bei mir eine riesige Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Mein Verstand hatte sich verstrickt und hing irgendwo weit hinten in einer fiktiven Zukunft fest.

Und somit brachte ich mich um das, was dieser Moment der Autofahrt für mich parat gehabt haben könnte: Die wundervolle Landschaft um mich herum; das überwältigende Schauspiel von Sonne und Wolken am Himmel; das Lächeln des Fußgängers, der mir entgegen kam; die Katze, die auf dem Torpfosten lag und ihre Umgebung beobachtete, als gäbe es nur diesen einen Augenblick in ihrem ganzen Leben.

Vielleicht hätte ich mir mal wieder bewusst sein können, dass ich mit all dem um mich herum auf einer tieferen Ebene verbunden bin. Dass ich eins bin mit all dem. Vielleicht…

Die Sehnsucht der männlichen Seele

WIE ALLES BEGANN…

Im Dezember des letzten Jahres hatte mein Blog seinen 1-jährigen Geburtstag. Rechtzeitig dazu war er von insgesamt 46 Ländern aus 10000 Mal aufgerufen worden. Eine Marke, von der ich nie zu träumen gewagt hätte, sie nach so kurzer Zeit schon zu reißen.

Ich weiß noch, wie ich mit meinem Freund und Weggefährten Jörg am 1. Januar 2014 bei sternenklarer Nacht am Lagerfeuer bei Zigarre und Whisky zusammensaß und er von seinen Erfahrungen mit seinem Blog (http://www.schoepfungsspiritualitaet.de/) erzählte. Schon länger ging ich mit der Idee schwanger, eventuell auch mit dem Bloggen anzufangen. An diesem Abend fasste ich den Entschluss: „Ja, ich werde Blogger!“

Von da an dauerte es fast ein ganzes Jahr bis zu meinem ersten Artikel. Zunächst galt es zu recherchieren, was man alles zu bedenken hat und in welche Fallen man tapsen kann. Dann musste ich mir klar darüber werden, wie mein Blog heißen und wie er optisch aufgemacht sein soll. Schließlich begann ein schier endloses „Trial an Error“.

Doch wozu das alles? Wovon soll mein Blog erzählen? Für diese Frage muss ich etwas weiter ausholen…

SCHMERZHAFTE ERFAHRUNG

Vielleicht begann alles mit meinen Fragen nach „männlicher Spiritualität“. Welche spirituellen Bilder sind stark genug, um von der Sehnsucht der männlichen Seele zu erzählen und dem Mann Zugang zu seiner inneren Welt zu ermöglichen? Welche spirituellen Formen haben die Kraft, den Mann von innen heraus zu transformieren und sowohl seine liebevoll-zärtliche als auch seine archaisch-kriegerische Seite zu integrieren? Wie kann ein Mann Zugang zu seiner innersten kraftvollen Männlichkeit erhalten, ohne diese Kraft missbrauchen zu müssen?

Fragen, denen ich mich hatte stellen müssen. Denn auf sehr bittere und schmerzhafte Weise hatte ich lernen müssen, dass ein dogmatisch verstandener Glaube mit einem dualistischen Weltbild – das alles in Gut und Böse, Richtig und Falsch einteilt – das tiefste Sehnen der männlichen Seele nach authentischer und kraftvoller Spiritualität nicht zu stillen vermag. Es war eine Phase der Orientierungslosigkeit und es war eine Phase der Angst, die mein Leben zutiefst verunsicherte. Und in Frage stellte.

Doch in dieser Krise geschahen zwei Dinge: Zum Einen kam ich mit Literatur des Franziskaner-Paters Richard Rohr in Berührung. Zum Anderen begann ich, mich mit freimaurerischer Symbolik auseinanderzusetzen. Zwei Dinge, die weite Kreise ziehen sollten…

PATRIARCHAT UND FEMINISMUS

Seit den 70er-Jahren geht Richard Rohr genau dieser Frage nach authentischer und transformierender männlicher Spiritualität nach. Hierbei machte er die Beobachtung, dass Jahrhunderte des Patriarchats einen großen Verlierer hervorgebracht haben: Nämlich den Mann. Denn irgendwo im tagtäglichen Wettstreit um Macht, Geld, Sex und Prestige verschüttete bei den allermeisten Männern der Zugang zu ihrer inneren Welt. Die Leere, die zurückblieb überkompensierte „Mann“ mit dem äußeren Zur-Schau-Stellen von Status, Potenz und Stärke.

Auch der Feminismus – so notwendig und segensreich er auch ist – vermochte den Männern diesen Zugang nicht wieder freizulegen. Der Feminismus konnte zwar kranke männliche Strukturen benennen, in Frage stellen und zum Teil auch aufbrechen. Den Weg zu einer gesunden Männlichkeit kann er den Männern aber nicht abnehmen.

ARCHAISCHE INITIATIONSRITEN

Richard Rohr stellte bei seinen Nachforschungen fest, dass alle archaische Kulturen über Einweihungsriten für ihre (jungen) Männer verfügten. Initiationsriten. Doch interessanter war seine Feststellung, das diese Riten sich sowohl in ihren inhaltlichen Aussagen, als auch in ihren rituellen Ausgestaltungen erstaunlich glichen. Und das, obwohl sie zum Teil von ganz unterschiedlichen Kulturen auf ganz unterschiedlichen Kontinenten praktiziert wurden.

In all diesen Riten ging es darum, das Ego des jungen Mannes in seinen Grundfesten zu erschüttern. Ihn mit seinem eigenen Schatten, seiner Schwachheit und seiner Irrelevanz zu konfrontieren. Der Initiant durchlief rituell den Kreislauf des Werden und Vergehen allen Lebens. Er wurde verwundet und starb einen grausamen Tod. Der Mann, der auferstand, hatte eine Weihe erlebt. In etwas, das viel größer, weiter und allumfassender war, als sein ständig um sich selbst kreisendes Ego es je sein könnte. Nicht selten kehrte der junge Mann aus der Tiefe dieses Rituals mit einem neuen – seinem ureigensten – Namen zurück. Diese Erfahrung hatte das Potential, der Anfang der ganz persönlichen Heldenreise des Mannes zu werden.

VERLORENES ERBE

Weiter fiel Richard Rohr auf, dass in der westlichen Welt das Erbe dieser Männerinitiation verlorengegangen ist. Rudimentäre Überbleibsel finden sich vielleicht noch in der Idee der kirchlichen Taufe und Konfirmation bzw. in Taufe und Firmung.

Und das in einer Zeit, in der der Gedanke der Männerinitiation wohl aktueller ist denn je. Denn verfügt eine Gesellschaft über keine Übergangsriten mehr, die ihre Männer aus dem Gefängnis ihres egodominierten Falschen Selbst herausführen, bleiben viel zu viele innerlich trauernde und verängstigte Männer zurück. Da Männer aber oftmals schwer Zugang zu vermeintlich schwachen Gefühlen wie der Trauer oder Angst bekommen, manifestieren sich diese Emotionen viel zu oft als Wut. Richard Rohr prägte hierfür den Begriff des „Angry Young Man“. Angry Young Men – Treffender kann man posende Gangmitglieder, marschierende Neonazis, religiöse Selbstmordattentäter oder randalierende Punks wohl nicht beschreiben. Doch die Gewalt dieser (jungen) Männer ist tief in Angst und Trauer verwurzelt. Angst und Trauer, zu der sie selbst keinen Zugang mehr finden.

Also verglich Richard Rohr die unterschiedlichen Initiationsriten der verschiedenen Zeiten und Kulturen miteinander und extrahierte deren Gemeinsamkeiten. Hieraus entwickelte er einen Initiationsritus, der das alte Wissen bewahrt. Der aber ebenso den Mann des 21. Jahrhundert dort abholt, wo er steht.

Vor einigen Jahren durchlief ich diesen Ritus. Es war ein einschneidendes spirituelles Erlebnis. Es hat mich zutiefst berührt. Und meinen weiteren spirituellen Weg entscheidend geprägt. Sei es durch das Erleben des Verbunden-Seins mit allem, wie ich es bis dahin nicht gekannt hatte. Sei es durch die inneren Themen, die ich mit auf den Weg bekommen habe. Vielleicht sogar durch ein neues Bewusstsein für das Leben, in das ich eingetaucht bin.

WESEN DES FREIMAURERTUMS

Parallel dazu tauchte ich in die Welt des Freimaurertums ein. Irgendwie übte diese Bruderschaft eine seltsame Faszination auf mich aus. Und so las ich Buch um Buch zu diesem Thema. Vom abstrusesten Verschwörungsschinken bis hin zum trockensten wissenschaftlichen Schinken. Stetig davon angetrieben, unbedingt verstehen zu wollen, was das Wesen dieser Bruderschaft ausmacht. Ich merkte, wie ich mich für die Welt des Freimaurertums öffnete. Und wie ich innerlichen Zugang zu dieser Welt bekam.

Allerdings begriff ich erst durch die Literatur von Richard Rohr, dass ein wesentlicher Teil dessen, was das Wesen des Freimaurertums ausmacht, ein alter, überlieferter Initiationsritus ist. Diese Bruderschaft hat in ihrem Kern den Gedanken der Männerinitiation durch die Jahrhunderte hindurch bewahrt. Allerdings benutzt das Freimaurertum kaum noch archaische Bilder und Symbole, um dies auszudrücken. Sondern Bilder und Symbole, die den Dombauhütten und den Steinmetzbruderschaften des Mittelalters entlehnt sind.

MISSING LINK

Doch wie kam es dazu, dass sich im Laufe der Geschichte diese beiden Linien – die der Inititiation und die der Steinmetze – im Freimaurertum kreuzten? Witzigerweise war es wieder Richard Rohr, der mir das fehlende Puzzleteil zu dieser Frage lieferte. In seinem Buch „Adams Wiederkehr“ beschreibt er fast schon beiläufig ein altes Ritual, das der Mönchsorden der Benediktiner in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens praktiziert hat: Zur Feier des Gelöbnisses lag der Kandidat in ein Leichentuch gehüllt vor dem Altar, während um ihn herum Kerzen standen, die entzündet waren und Requiem gesungen wurden. Das Bild einer Beerdigung. Im Laufe der Zeremonie erstand der Kandidat aus diesem Grab auf und wurde in den Orden aufgenommen. Das alte initiantische Bild von Tod und Auferstehung. Richard Rohr erklärte dies damit, dass der Benediktiner-Orden, der einzige Mönchsorden ist, der auf Grund seines Alters noch mit archaischen Intitiationsriten in Berührung gekommen ist.

Und plötzlich setzte sich das Puzzle für mich zusammen. Denn die Benediktiner waren auch einer der Mönchsorden, die in der Zeit der Vorromanik mit dem Bau von Klosteranlagen – insbesondere der Klosterkirchen – begangen. In der Romanik entwickelten sich die „bauenden“ Mönche zu „reisenden“ Mönchen. Diese reisten von Klosterbaustelle zu Klosterbaustelle, um Klosterkirchen zu errichten. Hieraus wiederum gingen die Bauhütten und Steinmetzbruderschaften, die im Mittelalter die gotischen Sakralbauten erschufen, hervor. Diese aber existierten und wirkten mittlerweile organisatorisch unabhängig von den Mönchsorden. Bis zu der Zeit der Aufklärung wiederum entwickelte sich aus ihnen das spekulative Freimaurertum.

Der Mönchsorden der Benediktiner scheint also der Knotenpunkt zu sein, an dem sich der Gedanke der Männerinitiation mit dem Kirchenbauhandwerk verband. Als ich das begriffen hatte, fasste ich den Entschluss, an die Tore des Tempels der Bruderschaft der Freimaurer zu klopfen und um Einlass zu bitten.

WARUM NUN DIESER BLOG?

Ich glaube, es ist etwas ganz besonderes an unserer Zeit, dass Männer mit ganz unterschiedlichen spirituellen Hintergründen und Geschichten wieder beginnen, das alte Erbe der Initiation zu entdecken. Der Ritus nach Richard Rohr ist nur ein Beispiel dafür. Ich habe viele aufrichtige Männer kennenlernen dürfen, die sich wieder auf ihre ganz eigenen Heldenreisen begeben haben. Die sich ihren dunklen Seiten gestellt haben. Die in Demut die archaische Kraft und die Zerbrechlichkeit ihres Mann-Seins angenommen haben. Zentral in den Biographien dieser Männer war das Durchlaufen eines Initiationsritus.

Und dann ist da seit jeher diese alte Bruderschaft der Freimaurer inmitten der Gesellschaft, die das Erbe der Initiation seit einer so langen Zeit bewahrt. Und deren Wurzeln sich Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende zurückverfolgen lassen.

Meine Erfahrung ist allerdings, dass das Freimaurertum für manch spirituell aufrichtig suchenden Mann bisweilen abschreckend daherkommt. So wirken die Grade, die ein Freimaurer durchläuft, oftmals hierarchisch. Und auch die äußeren Formen erwecken nicht selten einen elitären und starren Eindruck.

Trotzdem glaube ich, dass diese beiden so unterschiedlichen Traditionen der Männerinitiation sich gegenseitig ergänzen und bereichern können. Setzen sie doch bei denselben Fragen an, die sich die männliche Seele seit jeher stellt. Und geben Sie auf diese Fragen – bei näherer Betrachtung – doch auch ganz ähnliche Antworten. Und genau das ist es, wovon ich auf diesem Blog erzählen möchte…