
Menschensohn

„Sterben und Wiedererwachen beherrschen die ganze Natur.
Das müde Jahr legt sich im Herbst zum Todesschlaf nieder, die müde Sonne versinkt am Abend im westlichen Meer, das Reich der Winterdämonen oder der unterirdischen Gottheiten breitet sich dann aus über alles, was lebt.
Es ist die Wanderung des Novizen durch Dunkel und Schrecken, seine Wanderung zu den Todesgottheiten über Totengebeine hinweg, bedrängt von Kälte, Müdigkeit und Verlassenheit, bis hin zum Licht.
Im Frühling kommt der verjüngte Vegitationsgott mit Jauchzen wieder hereingezogen, die sieghafte Sonne erhebt sich im Osten, die finsteren Gewalten entfliehen, eine neue Welt beginnt, und das Reich der Lichtgottheiten bricht an.“
(August Horneffer)
Da standen wir um ihr Bett herum; zu dritt. Die Einrichtung ihres Zimmers war karg, die Wände in sterilen Farbtönen gehalten. Stumm und mit geschlossenen Augen lag sie da. Ihr Mund ließ ein Lächeln erahnen und gab dem Gesicht einen seligen Ausdruck. Sie wirkte erlöst, irgendwie zufrieden. Jeden Moment rechnete ich damit, dass sie die Augen wieder öffnen würde. Doch sie tat es nicht. Sie würde ihre Augen niemals mehr öffnen. Ich hatte oft davon gelesen, dass Menschen im Augenblick ihres Todes ihren Körper verlassen und von oben auf sich herabblicken, bevor sie für immer aus dieser Welt gehen. Unwillkürlich schaute ich zur Zimmerdecke auf. Wieder und wieder. Doch ich erblickte nichts, was darauf hinwies, dass sie noch da war. Als ich etwas näher an ihr Bett herantrat, nahm ich ihn wahr, wenn auch nur zart: Den Geruch von Kot, Urin und der einsetzenden Verwesung.
Ich blickte mich in ihrem Zimmer um. In dem Regal und auf der Vitrine standen neben ein paar letzten Habseligkeiten Fotos von ihr mit ihren vier Urenkeln. Diese Fotos schienen einer anderen Zeit, einem anderen Leben zu entstammen. Auf ihnen war eine wohlgenährte und lebensfrohe, wenn auch alte und vom Leben gezeichnete Frau zu sehen. Die abgemagerte, in sich zusammengefallene Gestalt dort im Bett hatte nur noch wenig mit ihr gemein. Ist es das, was am Ende von einem Leben übrigbleibt? Tränen rannen über meine Wangen. Bilder der Vergangenheit stiegen in mir auf.
Ich erinnere mich noch genau daran, als ich ihr vor fast zwanzig Jahren das erste Mal begegnet war. Wie sie plötzlich zur Terrassentür hereingekommen war. Die Oma. Eine Frau mit strahlenden Augen, langen, offenen Haaren und einer sehr weiblichen Figur. Als Geschenk hatte sie einen Blumenstrauß mitgebracht, den sie unterwegs in ihrem Garten und am Wegesrand gepflückt hatte. Um sie herum waren ihre beiden Hunde gewuselt, die ihr stets auf Schritt und Tritt gefolgt waren und um die sie sich hingebungsvoll gekümmert hatte.
Der Strauß selbstgepflückter Blumen hatte von ihrer großen Leidenschaft erzählt: Den Blumen. Folglich war es auch sie gewesen, die den Garten, der zu dem Mehrfamilienhaus, in dem sich ihre Mietwohnung befunden hatte, gehegt und gepflegt hatte. Dort hatte sie gezüchtet, gebuddelt, gepflanzt, gegossen, gejätet und gehakt. Und das bei Wind und Wetter. Jedes Mal, wenn meine Frau und ich unser Zuhause begrünen wollten, hatte sie uns beim Kauf der Blumen beraten und selbst mit Hand angelegt, wenn es darum ging, diese richtig einzupflanzen und anwachsen zu lassen.
Die Beziehung zur Oma war stets auch durch den Magen gegangen. Noch heute läuft mir das Wasser im Munde zusammen, wenn ich an ihre Braten denke. Saftiges Fleisch, krosse Kruste, nach guter Deutscher Hausmannsart. Welch eine Vorfreude, wenn uns der Geruch dieses Essens schon bei Betreten ihrer Wohnung entgegengeweht war. Gleiches gilt für ihre Buletten, die sie in rauen Mengen zu ganz gleich welchem Anlass nur zu gerne zubereitet hatte. Diese waren auch in unserem Freundeskreis der Hit gewesen. Unübertroffen sind auch ihre Torten, die sie mit viel Herzblut und Akribie nach guter, alter Schule zu zaubern verstanden hatte.
Eine weitere Leidenschaft von ihr waren ihre Bücher gewesen. In jeder freien Minute hatte die Oma ein Buch nach dem anderen verschlungen. Wie kindlich ihre Augen immer geglänzt hatten, wenn sie zum Geburtstag oder zu Weihnachten mal wieder ein Buch auspacken durfte. Sie hatte dann immer einen Moment innegehalten, das Buchcover gelesen und das Buch fest an ihr Herz gedrückt. Deckenhohe Regale, vollgepfropft mit Büchern hatten ihre Wohnung geschmückt.
Vor fünf Jahren dann war unsere erste Tochter zur Welt gekommen. Von nun an war sie nicht mehr nur Oma gewesen, sondern auch Uroma. In den folgenden Jahren sollte ihre Familie sie mit insgesamt vier Urenkeln beschenken. Doch je mehr ihre Urenkel ins Leben traten, desto mehr trat die Uroma aus dem Leben. Je mehr ihre Urenkel anfingen zu leben, desto mehr starb die Uroma.
Nach und nach hatte ihr der Tod all das genommen, was ihr das Leben einmal geschenkt hatte. Zuerst war einer ihrer beiden Hunde verstorben. Als ein paar Jahre später auch der zweite Hund verstorben war, erlosch schleichend auch der Lebenswille der Uroma. Bald schon war sie zu schwach gewesen, weiter den Garten zu bewirtschaften, so dass sie diesen irgendwann hatte abgeben müssen.
Unaufhaltsam war ihr Verfall weiter vorangeschritten. Bis schließlich die notwendige wie grausame Entscheidung zu treffen gewesen war, sie ins Pflegeheim einzuweisen. Nicht wissend, dass wir damit auch ihr Todesurteil unterschrieben hatten. Ins Pflegeheim hatte ihr nur ein kleiner Teil ihres Hab und Guts folgen dürfen. Und so hatten wir uns mehrere Wochen durch ihr Leben gewühlt. Durch ihre Erinnerungen und ihren Dreck, durch ihre Geheimnisse, ihre Schätze und ihren Ballast. Und schließlich hatten wir für sie entschieden, was sie loszulassen hatte und was nicht. Wir hatten für sie entschieden, was aus ihrer Vergangenheit noch Wert für die Zukunft haben durfte und was nicht.
Einen Teil ihrer Bücher hatten wir in ihr neues Zuhause gerettet. Gegenüber von ihrem Bett hatten wir ein Regal aufgebaut, von wo aus die verbliebenen Buchrücken sie stets anlächelten. Doch die Uroma sollte nie wieder auch nur eins dieser Bücher zu Hand nehmen.
Als wir sie in ihrem Bett zurückgelassen hatten und die Zimmertür ins Schloss geknallt war, nahm das Corona-Virus dieses Land in seinen festen Griff. Und damit auch ihr Pflegeheim. Lockdown, Social Distancing, Kontaktbeschränkungen. Als wir sie nach dem ersten Lockdown wiedergesehen hatten, hatte uns eine fremde Person gegenübergesessen. Eine Person, die der Tod bereits fest in seinen Arm geschlossen hatte. Eine Person, die zunehmend weniger hatte unterscheiden können zwischen gegenwärtiger Realität, der Vergangenheit und ihrer Einbildung. Von angstmachenden Hirngespinsten war sie zunehmend heimgesucht worden. Gleichzeitig hatte sich wohliges Vergessen sich auf sie gelegt.
Als ich sie das letzte Mal besucht hatte, hatte ich mir vorgenommen, ihr einfach nur zuhören zu wollen. Ich hatte erfahren wollen, welche Geschichten sie am Ende ihres Weges zu erzählen hatte. Ein freudiges Lächeln hatte sich über ihrem Gesicht ausgebreitet, als ich ihr Zimmer betrat. Sie hatte mich beim Namen genannt. Sie hatte mich erkannt. Ich weiß nicht, wie lange ich neben ihr gesessen und ihr gelauscht hatte. Sie hatte mir davon erzählt, dass sie sich unter ihrem Bett habe verstecken müssen, weil man nach ihr gesucht habe. Hierbei sei ihr ein Gewehrkolben in den Rücken gestoßen worden. Ein anderes Mal sei sie auf einer Liege festgeschnallt gewesen. Männer in Uniformen hätten um sie herumgestanden und sie als „Jüdin“ bezeichnet. „Hagen, das kann doch alles nicht wahr sein!“, hatte sie mit Tränen in den Augen beklagt. Der Nationalsozialismus schien tiefe Narben in ihr hinterlassen zu haben. Und jetzt im Angesicht des Todes waren diese Narben wieder aufgebrochen. Ich hatte ihr ein letztes Mal über ihre Wange gestreichelt. Sie schien diese Berührung förmlich in sich aufgesaugt zu haben. Wann war sie das letzte Mal zärtlich berührt worden? „Du bist so gut zu mir.“, hatte sie noch geschluchzt.
Die Bilder der Vergangenheit verblassten wieder. Ich warf einen letzten Blick auf den Leichnam, der vor mir im Bett lag. Plötzlich war da diese Schuld. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht mehr Zeit mit der Uroma verbracht hatte. Weil ich mich den Gerüchen, dem Schmutz und dem Anblick ihres Alters oftmals nicht hatte aussetzen wollen. Weil ich manches Mal einfach nur zu bequem war, sie zu besuchen oder sie auch nur anzurufen. An ihrem Totenbett erst realisierte ich, wie wichtig sie mir war und wie wenig ich sie das habe auch spüren lassen. Doch da war mit einem Mal auch diese Dankbarkeit. Ich war dankbar für die schönen Erinnerungen an diese Frau, die unauslöschbar in meinem Herzen abgelegt sind. Und ich war dankbar, dass ihr Gesichtsausdruck davon erzählte, dass es eine Erlösung für sie gewesen ist, als der Tod sie an die Hand nahm und sie mit ihm ging.
Mein Blick schweifte über ihr Bücherregal. Unwillkürlich blieb ich an einem Roman hängen. Seine Handlung rankte sich um das weltweite Bienensterben. Solch interessante Bücher hatte die Uroma gelesen? Ich nahm das Buch an mich, mit dem festen Vorsatz, es auch zu lesen. Vielleicht war dies mein letzter verzweifelter Versuch, sie festzuhalten. Vielleicht mein letzter verzweifelter Versuch, noch einmal in ihre Welt einzutauchen und ihr noch einmal nah zu sein…
Brichst Du mit mir auf
zum alten Baum?
Sah Leichen an ihm hängen,
letzte Nacht in meinem Traum.
Dem Unrecht geopfert,
gar tödlich kann es sein,
verwesten sie
am Baum dort ganz allein.
Brichst Du mit mir auf
zum alten Baum,
wo Tote riefen „Flieht!“,
letzte Nacht in meinem Traum.
Trauer und Klage,
doch niemand stimmte ein,
verhallten sie ungehört
am Baum allein.
Brichst Du mit mir auf
zum alten Baum?
Dort sah ich mich stehen,
letzte Nacht in meinem Traum.
Totenstille um mich her,
wie einsam kann es sein,
verweilte ich am Baum
und das allein.
Brichst Du mit mir auf
zum alten Baum?
Dort sah ich Dich allein,
letzte Nacht in meinem Traum.
Merkwürdiges geschah,
wie seltsam kann es sein,
trafen wir zusammen
unter dem Baum allein.
Brichst Du mit mir auf
zum alten Baum.
Menschen strömen hinzu,
aufgewacht aus einem Traum.
Ein Lied liegt in der Luft,
voll Hoffnung kann es sein,
ergreifen Hände sich,
stimmt Mancher mit ein.
(Frei nach dem Titel „The hanging Tree“,
aus dem Film „Die Tribute von Panem“.)
WIEDER BEISAMMEN
Die Corona-Pandemie hatte eine Schneise in mein freimaurerisches Leben geschlagen. In das rituelle Erleben ebenso wie in die brüderliche Begegnung. Denn als das gesellschaftliche Leben heruntergefahren werden musste, schlossen auch die Logenhäuser ihre Pforten. Und es liegt in der Natur der Sache, dass weder das Eine noch das Andere online adäquat ersetzt werden konnte.
Ein halbes Jahr sollte es dauern, bis die Brüder meiner Loge und ich erstmalig wieder zusammenkommen konnten. Anlass sollte eine rituelle Tempelarbeit im ersten Grad, dem des Johannislehrlings, sein. Doch es war kaum noch etwas so, wie ich es über Jahre hinweg kennen und lieben gelernt hatte. Es fing damit an, dass wir den Tempel einzeln, mit Sicherheitsabstand und dem Tragen eines Mundschutzes zu betreten hatten. Und auch das Ritual an sich war an verschiedenen Stellen derart abgeändert worden, dass es dem Hygienekonzept der zuständigen Behörde gerecht wurde.
Daher fühlte sich dieses Ritual mit einem Mal wieder so neu und ungewohnt an. Den Brüdern und mir war die Unsicherheit bei Ausführung des Rituals förmlich anzumerken…
DER WICHTIGSTE FREIMAURERISCHE GRAD
Welcher freimaurerische Grad, welche freimaurerische Erkenntnisstufe ist die wichtigste? Diese Frage diskutierten vor längerer Zeit amerikanische Freimaurer auf Twitter. Da ich selbst auf Twitter diversen freimaurerischen Accounts aus dem Ausland folge, konnte ich diese Diskussion live mitverfolgen.
Alleine schon diese Fragestellung hat mich mehr als befremdet. Ich fand sie regelrecht abstoßend. Denn in ihr schwingt eine Bewertung, vielleicht sogar die Idee einer Hierarchie innerhalb der einzelnen freimaurerischen Grade mit. So nach dem Motto: Je höher, je geheimnisvoller oder je schwerer zu erreichen ein Grad ist, desto würdiger, auserwählter, wissender, erleuchteter oder was auch immer ist der, der diesen Grad inne hat. Diese Logik hat einen widerlich elitären Beigeschmack. Denn meiner Erfahrung nach erhält man in absolut keinem freimaurerischen Grad verborgenes Wissen, geheime Praktiken, ungeahnte Bewusstseinszustände, höhere Erkenntnis oder was auch immer offenbart, was man nicht auch komplett ohne das Freimaurertum samt seiner Rituale und Symbole erlangen könnte. Nichtsdestotrotz ist der freimaurerische Weg ein wohl einzigartiger initiantischer Weg, dessen Rituale und Symbolik sich aus den vielfältigen Traditionen der Baukunst, der Mysterienbünde, der Mystik, der Aufklärung, des Tempelrittertums, der Gnosis, des Humanismus, der Hermetik und der archaischen Initiationsriten (sicher ist diese Aufzählung nicht abschließend) speist. Unter Zuhilfenahme von Versatzstücken dieser Traditionen wird der Freimaurer in jedem Grad mit den essentiellen Fragestellungen dieses Lebens, seiner spirituellen Kreisläufe und Gesetzmäßigkeiten sowie des Sterbens und des Todes konfrontiert. Ich persönlich erlebe den freimaurerischen initiantischen Weg durch die einzelnen Grade, so wie ich ihn im christlichen Freimaurerorden vorfinde, als sehr stimmig und bewegend. Er weist unheimlich viele Facetten und Bedeutungsebenen auf und durchdringt nach und nach mein gesamtes Leben. Doch ich habe durch ihn absolut gar nichts kennengelernt, was ich nicht schon vorher gewusst hätte oder mir auch ohne das Freimaurertum hätte erschließen können. Aus diesen Gründen befremden mich Fragen, wie die, welche der wichtigste freimaurerische Grad ist, immer sehr.
Und dennoch ging mir diese Frage nach. Wenn man mich fragen würde, welches wäre für mich ganz persönlich der wichtigste Grad? Zu allererst käme mir hier meine Aufnahme in den dritten Grad, den des Johannismeisters, in den Sinn. Hier wurde ich in machtvoller Weise mit meinem eigenen Sterben und meinem eigenen Tod konfrontiert. In der Art und Weise, in der dieses Ritual im christlichen Freimaurerorden ausgestaltet ist, war es das bewegenste Ritual, das ich je erlebt habe. Doch auch der anschließende Weg in die Andreasloge und durch die Andreasloge hindurch (Grad vier bis sechs) war berührend und von der inhaltlichen Ausgestaltung her unheimlich reich und in sich stimmig.
Doch je länger ich über diese Frage nachdachte, desto mehr kristallisierte sich für mich heraus, dass der erste Grad, der des Johannislehrlings, für mich der wichtigste ist! Warum? Dafür muss ich ein wenig ausholen. Denn die Aufnahme in den Grad des Johannislehrlings an sich bewegte mich zwar, jedoch nicht in dem Maße, wie es viele Brüder mir im Vorherein vorgeschwärmt hatten. Und ebenso nicht in dem Maße, wie mich die Initiationen in die Grade ab dem Johannismeister bewegen sollten.
Das, was den Grad des Johannislehrlings für mich so besonders macht, ist die innere Einstellung und das Bewusstsein, was mit diesem Grad einhergeht, sofern man sich darauf einlässt. Es ist die innere Einstellung und das Bewusstsein des Lernenden. So stellte ich mich bewusst hinten an und nahm die Position des Beobachters ein. Ich schaute hin, ich hörte zu. Und ich hielt den Mund, wenn ich nicht gefragt wurde. Wie ein Schwamm sog ich alles auf, was mir an freimaurerischer Symbolik, an freimaurerischen Ritualen und an freimaurerischen Inhalten begegnete. Und dann konnte ich sie förmlich greifen, diese spannungsgeladene Vorfreude, die in der Luft lag, jedes Mal, wenn die Brüder zusammenkamen und sich für das Ritual maurerisch einkleideten. Es hatte etwas Geschäftiges und Erwartungsfrohes. Jedes Mal vor einer Tempelarbeit. Diese Einstellung des Lernenden brachte etwas Achtsames und Demütiges mit sich. Und befanden wir uns dann im Ritual, war alles neu. Jede Handlung, jedes gesprochene Wort, jede Haltung. Das alles war neu und fühlte sich dadurch so unsicher an. Diese innere Unsicherheit sollte über Monate hinweg mein Begleiter im freimaurerischen Ritual sein…
ERINNERUNG DURCH CORONA
…Ganz unwillkürlich verspürte ich genau diese Unsicherheit wieder, als wir nach der coronabedingten Pause erneut rituell zusammenkamen. Zwei Faktoren waren dafür verantwortlich: Die lange Pause sowie die Änderungen im Ritualablauf, die das Corona-Hygienekonzept notwendig gemacht hatte.
Doch je mehr ich ankam in dieser Situation, desto mehr stieg Erinnerung in mir auf. Erinnerung an die Zeit, in der ich genau diese Unsicherheit schon einmal verspürt hatte: Meine Zeit im Johannislehrlingsgrad, kurz nach meiner Aufnahme in die Bruderschaft der Freimaurer, als ich noch frisch gebackener Johannislehrling war.
Daher ist es genau das, was die Corona-Pandemie mich als Freimaurer gelehrt hat: Sie hat mich erinnert an die Einstellung und das Bewusstsein des Johannislehrlingsgrades. Denn sie hat mir ganz neu bewusst gemacht, dass es notwendig ist, ein Lernender zu bleiben. Klar, den Grad des Johannislehrlings habe ich hinter mir gelassen. Ein für alle Mal. Daher halte ich nicht viel von der Aussage „Ein Freimaurer bleibt sein Leben lang Lehrling.“ Denn dem ist faktisch nicht so. Was hingegen ein Freimaurer sein Leben lang bleiben sollte, ist ein Lernender.
Mir scheint,
als wohne jedem alten Manne
das Bedürfnis inne,
seine Geschichten zu erzählen.
Die wohl entscheidende Frage
am Ende eines jeden Lebensweges
ist jedoch einzig und allein,
ob die eigenen Geschichten
es auch wert sind,
weitergetragen zu werden.