#Gedanke: Kraft und Empfindsamkeit

„Du bist
als vitales, lustvolles, schönes
Geschöpf gedacht,
das mit einem brillanten Geist
ausgestattet,
seine enormen
physischen und psychischen Kräfte
zum Wohle für Dich
und das große Ganze
einsetzen soll.
Das steht
überhaupt nicht
im Widerspruch zu
Deiner sinnlich-weichen,
einfühlsamen, empfindsamen
und sozialen Seite,
die sich mit den Menschen
und Wesen
Deiner Umgebung
tief verbinden kann.“

(Stefan Wolff)

Falsche Grundannahmen

16. Prolog:

Wer meine beiden letzten beiden Blogartikel gelesen hat, weiß, dass ich die Frage bewege, ob und wenn ja, in welcher Weise, ich Freimaurer bleiben möchte oder nicht. Im ersten Blogartikel aus Juni 2023 berichtete ich davon, dass es zwischenmenschliche Erlebnisse waren, die bei mir zu einer Entfremdung mit dem Freimaurertum geführt hatten. Im zweiten Blogartikel aus Oktober 2023 veränderte ich den Fokus hin zu mir und ging unter anderem der Frage nach, was meine eigenen Anteile an der beschriebenen Entfremdung vom Freimaurertum sind.

Tatsächlich bin ich mittlerweile in einen machtvollen und nahezu alle Bereiche meines Lebens umfassenden, schmerzhaften Prozess der Dekonstruktion geworfen worden. Ich musste mich mir stellen, dem ungeschminkten Teil von mir gegenübertreten. Den vielen unbequemen Wahrheiten über mich selbst, über meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen, über die Dinge, die mir Angst machen, die in mir Schmerz und Trauer verursachen, die mich lähmen und bei denen ich über viele Jahre hinweg sehr viel Kraft aufgewendet habe, sie tief in mir wegzuschließen und ganz weit unten zu halten.

Hierbei musste ich feststellen, dass meine Beziehung zum Freimaurertum nur eine Baustelle von mehreren ist. Und es ist bei weitem nicht mal die größte Baustelle. Vielleicht ist sie auch nur ein Symptom. Je länger dieser Dekonstruktionsprozess andauert und je mehr er ans Eingemachte geht, desto mehr realisiere ich, dass der Teil dieses Prozesses, der das Freimaurertum betrifft, gänzlich anders und vor allem auch langwieriger verläuft, als ich dies zu Beginn hätte absehen können.

Und dadurch ist mir klargeworden, dass ich in meinen ersten beiden Blogartikeln zum Thema von zwei falschen – weil realitäts- und lebensfernen – Grundannahmen ausgegangen bin. Ich will diesen Artikel hier nutzen, um diese Grundannahmen ein für alle Mal abzuräumen.

17. WAS HAT DAS FREIMAURERTUM MIR GEBRACHT?

Die beiden falschen Grundannahmen, die ich in den ersten beiden Teilen dieser Blogserie voraussetze, verbergen sich in folgender Aussage von mir, die ich im ersten Teil dieser Blogserie gebracht habe: „Welche positiven „Früchte“ sehe ich in meinem Leben, die ich unmittelbar und ausschließlich auf das Freimaurertum zurückführen kann? Also kann ich positive Veränderungen und Entwicklungen benennen, die ich ohne das Freimaurertum nicht erlebt hätte?“

Zunächst einmal erntete ich für das Wording dieser Fragestellung einiges an Gegenwind und Widerspruch aus den Reihen der Freimaurer. Denn für einige (Brüder) schwang hier die Fragestellung „Was hat das Freimaurertum mir gebracht“ mit. Eine Herangehensweise an das Freimaurertum aus dieser Haltung und Motivation heraus sei mit dem freimaurerischen Weg unvereinbar, so der Vorwurf. Es gehe nicht um die Frage, was ich zu erhalten habe, sondern darum, was ich bereit sei zu geben. Die von mir gestellte Frage presse das Freimaurertum zu sehr in eine Kosten-Nutzen-Rechnung und folge zu sehr Prinzipien des Konsums. Nicht mehr die freimaurerische Idee stehe hierbei im Mittelpunkt, sondern meine Ego-Bedürfnisse. Ich verstehe diese Kritik und kann und will sie auch nicht entkräften.

Dennoch unterstelle ich, dass jede/r Freimaurer*in vor der Aufnahme ins Freimaurertum vorher überschlagen haben dürfte, was er/sie an Ressourcen (z.B. Zeit, Geld usw.) investiert und was ihm/ihr das bringt. Niemand wagt den Schritt ins Freimaurertum hinein, wenn er/sie sich davon nicht irgendetwas verspräche. Ich glaube, dass die Gretchenfrage eher ist: „Mit welcher Motivation schließe ich mich dem Freimaurertum an? Ist diese lauter oder unlauter?“

Und folglich schwingt diese Fragestellung auch in meiner Auseinandersetzung mit. Wenn das Freimaurertum keinen Mehrwert für mich (mehr) hat – oder wenn es mir sogar schadet – warum sollte ich dann noch Freimaurer bleiben?

18. FALSCHE GRUNDANNAHMEN

Doch was an der oben zitierten Aussage ist nun so falsch, dass ich sie mit diesem Blogartikel ein für alle Mal abräumen will?

Wenn ich frage, welche „positiven Früchte“ ich „ausschließlich auf das Freimaurertum zurückführen“ kann und welche „positive Veränderungen und Entwicklungen“ ich „ohne das Freimaurertum nicht erlebt“ hätte, impliziert das, dass ich in der Lage wäre, dies unzweifelhaft herauszuschälen. Allerdings musste ich feststellen, dass mir dies gar nicht so recht möglich ist. Denn im meinem Leben gibt es schließlich nicht nur das Freimaurertum: Ich übe einen Beruf aus, der mich fordert, bin Ehemann und Vater, stehe in vielerlei familiären, freundschaftlichen und anderweitigen sozialen Beziehungen und Verpflichtungen. Darüber hinaus reflektiere ich mein Leben und arbeite an mir selbst, indem ich neben dem Freimaurertum noch Teil einer spirituellen Männergruppe bin, die Natur und die Stille suche, Joggen gehe, schreibe und einige, teilweise auch qualifizierte, Menschen um mich herum habe, die mir unverblümt ins Leben reden dürfen. Dieses Geflecht ist so mannigfach, vielschichtig und wechselseitig von einander abhängend, dass es mir gar nicht möglich ist, einen einzelnen Teil dieses Geflechts als alleinig verantwortlich dafür zu benennen, wenn ich positive oder negative Entwicklungen in meinem Leben registriere.

Und meine zweite falsche Grundannahme ergibt sich aus der ersten: Es ist mir auch nicht möglich, ein Thema wie das Freimaurertum isoliert von den anderen Themen meines Lebens zu betrachten und zu bearbeiten. Und das ist vielleicht auch die größte Erkenntnis meines bisherigen Prozesses. Meinem vordergründigem Thema mit dem Freimaurertum liegen weitaus größere und umfassendere Lebensthemen im Hintergrund zu Grunde. Und nur in dem Grad, in dem ich beginne, diese aufzulösen, werde ich bemächtigt sein, auch mein Thema mit dem Freimaurertum auflösen.

19. NOCH SO’N AUSBLICK

Doch wie geht es nun weiter? Zunächst einmal ging es mir darum, durch das Abräumen meiner falschen Grundannahmen meinen gesamten Prozess bezüglich des Freimaurertums in eine realistischere und gesündere Bahn zu lenken.

Nun ist es so, dass dieser schmerzende und tiefgreifende Prozess der Dekonstruktion, in dem ich mich seit einigen Monaten befinde, in zutiefst persönliche und intime Bereiche meiner Selbst geht. Daher kann und will ich diesen Prozess nicht ohne Weiteres eins zu eins auf meinem Blog begleiten und offenlegen. Zumal ich bei vielem noch nicht einmal sicher absehen kann, wo ich mal rauskommen werde.

Ganz sicher werde ich vieles von dem, was ich gerade durchmache, auch irgendwann auf meinem Blog reflektieren. Doch das wird aus der Retrospektive geschehen. Denn zunächst benötigt dieser Prozess vor allem eins: Nämlich Zeit. Und die nehme ich mir…

Das Ende meines freimaurerischen Weges? (Teil 2)

5. PROLOG 2.0

Am 21. Juni dieses Jahres hatte ich den ersten Teil meiner Reihe „Das Ende meines freimaurerischen Weges“ veröffentlicht. Hierin schrieb ich von „Ent-Täuschungen“ und Irritationen mit einzelnen Freimaurer-Brüdern sowie von meiner Entfremdung von meiner Johannisloge. Bis zum Herbst dieses Jahres wollte ich entscheiden, ob ich dem Freimaurertum den Rücken kehre, mich innerhalb des Freimaurertums umorientiere oder ob ich meinen freimaurerischen Weg in der eingeschlagenen Weise fortsetze. Diesen Prozess der Reflexion und Auseinandersetzung wollte ich hier auf meinem Blog begleiten.

Doch manchmal spielt das Leben Wildcards, die alle Prioritäten durcheinanderwirbeln. So auch bei mir. Zwar lief besagter Prozess im Hintergrund weiter, jedoch hatte ich zunächst auf andere Entwicklungen in meinem Leben zu reagieren. Daher kann ich zum jetzigen Zeitpunkt zweierlei sagen: Das Zeitfenster bis Herbst ist für mich nicht mehr zu halten. Und in die Frage, was mein Verhältnis zum Freimaurertum angeht, ist in Bewegung gekommen.

6. NOCHMAL EINEN SCHRITT ZURÜCK

Ich empfand meinen ersten Artikel dieser Blogserie vergleichsweise ausgewogen. Zwar schrieb ich von Irritationen und „Ent-Täuschungen“, die ich mit einzelnen Brüdern meiner Johannisloge erlebt hatte, allerdings räumte ich auch ein, dass es Brüdern meiner Loge mit mir wohl ganz ähnlich ergangen sein dürfte. Doch der Erste, der mich daran zweifeln ließ, ob mein Artikel tatsächlich so ausgewogen war, war ein sehr enger und langjähriger Freund, der mich fragte, ob sich die betroffenen Freimaurer durch diesen Artikel nicht angegriffen fühlen könnten. Auch aus meiner Johannisloge wurde mir gesteckt, dass dieser Artikel bei einzelnen nicht gut angekommen sein könnte. Was also sollte ich tun? Ich bat meine Frau, die die betreffenden Brüder meiner Johannisloge oberflächlich auch kennt, sich diesen Artikel durchzulesen und mir ihren Eindruck zurückzumelden. Und was soll ich sagen? Sie fand es daneben, dass ich mit solch einem Thema in solch einer Weise an die Öffentlichkeit gehe. Wäre sie von diesem Artikel betroffen gewesen, sie hätte sich auf den Schlips getreten gefühlt.

Diese Reaktionen verunsicherten mich. Sie ließen mich innehalten und darüber nachdenklich werden, ob beziehungsweise in welcher Form ich diese Blogserie fortsetze. Dies half mir, mir noch einmal klarer über meine Motivation zu werden.

Zu der Frage, was meine Motivation zu dieser Blogserie ist, hatte ich ja bereits im ersten Teil einiges geschrieben. Das vorausgesetzt, ist es mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass diese Blogserie keine Abrechnung wird. Weder mit einzelnen Freimaurer-Brüdern, noch mit meiner Johannisloge. Daher werde ich hier keine Namen nennen und Begebenheiten so abstrakt wie möglich umschreiben. Ich stehe für mich vor einer weitreichenden und einschneidenden Entscheidung. Und diese will ich hier auf meinem Blog herleiten und reflektieren. Das wird natürlich auch miteinschließen, dass ich davon schreiben werde, wo ich selber Brüder meiner Johannisloge „ent-täusch“ oder irritiert habe (soweit meine blinden Flecken es zulassen). Es wird hier jedoch keine Schlammschlacht und kein Nachtreten geben. Daher können die Leser meines Blogs, die es sich in Erwartung einer Seifenoper schon mit Popcorn und Cola auf dem Sofa bequem gemacht haben, Popcorn und Cola schön wieder in den Supermarkt zurückbringen. Auf meinem Blog wird es keine Seifenoper geben.

Und zu der Frage, warum ich diese Reflektion nach außen trage (eine Frage die mich mehrfach erreichte), möchte ich folgendes antworten: Warum nicht? Seit ich angefangen hatte zu bloggen, ist ein konstantes Charakteristikum meiner Artikel, dass ich meinen Lesern auch einen Blick in mein Inneres gewähre. Es geht mir nicht (nur) darum, über abstrakte Ideen, hehre Ideale oder freimaurerische Persönlichkeiten, die irgendwann in der Vergangenheit mal gelebt und Großes vollbracht haben mögen, zu schreiben. Nein, meine Leser sollten von Anfang an erfahren, was dem Menschen „Hagen Unterwegs“ auf seinem freimaurerischen Weg begegnet und was das mit ihm macht. Meine Leser sollten erfahren, was am Freimaurertum mich berührt und bewegt, womit ich ringe und woran ich verzweifle. Und wenn ich mir die Rückmeldungen anschaue, die ich auf meine Blogartikel erhalte, dann ist es genau das, was meine Leser an meinem Blog schätzen. Mit vielen Themen scheine ich mich auf meinem Blog stellvertretend für viele andere Freimaurer zu befassen. Und für Außenstehende wird durch meine Art des schreibenden Reflektierens dieses oft etwas Nebulöse und schwer zu greifende Freimaurertum mit einem Mal einmal greifbarer. Und darüber hinaus wissen meine Leser: Wenn ich etwas Positives über das Freimaurertum schreibe, dann ist es auf Herz und Nieren geprüft. Und das wissen sie, weil ich auch die Negativseiten des Freimaurertums nicht verschweige. Das zusammengenommen macht die Authentizität und Glaubwürdigkeit meines Blogs aus. Und aus diesem Blickwinkel heraus stellt sich die Frage, weshalb ich diese Serie bezüglich meiner freimaurerischen Zukunft veröffentliche, gar nicht mehr.

7. REACTION-BLOGARTIKEL

Ergo: Ich werde diese Serie fortsetzen. Und nach so viel durchaus notwendiger Vorrede, komme ich nun zum eigentlichen Artikel: Und dieser Artikel wird ganz anders sein, als ich das ursprünglich mal geplant hatte. Denn: Auf keinen anderen Blogartikel habe ich jemals so viel Rückmeldung erhalten, wie auf den ersten Teil dieser Serie. Auf ganz unterschiedliche Weisen erreichten mich ganz unterschiedliche Reaktionen. Ich kam anfangs gar nicht hinterher, auf diese alle möglichst umgehend zu reagieren. Und es waren ganz viele inhaltliche Edelsteine dabei!

Je mehr ich mich mit den verschiedenen Reaktionen auf meinen Blogartikel auseinandersetzte, desto mehr merkte ich, wie diese Auseinandersetzung Teil der Reflexion meiner Fragestellung, ob mein freimaurerischer Weg zu Ende geht und wenn nein, in welcher Form er weitergehen kann, wurde.

Daher habe ich die ursprüngliche Idee, wie ich diese Serie aufbauen will, etwas über den Haufen geworfen und widme den zweiten Teil dieser Serie ausschließlich den Reaktionen auf den ersten Teil. Bei YouTube gibt es das Format der „Reaction-Videos“. Hierbei filmt sich der YouTuber dabei, wie er ein Video eines anderen YouTubers anschaut und auf dieses reagiert und dieses kommentiert. So in etwa wird auch dieser Blogartikel hier werden, halt nur in geschriebener Form. Er wird eine Art Reaction-Blogartikel werden.

8. EIN MASSENPHÄNOMEN?

Die überragende Mehrheit der Rückmeldungen von Freimaurern und Ex-Freimaurern auf meinen Blogartikel war, dass sie den Punkt, an dem ich bezüglich des Freimaurertums stehe, aus ihrer eigenen Vita kannten. Ein freimaurerischer Blogger, mit dem ich via Sprachnachrichten dazu ins Gespräch kam, teilte den Eindruck, dass es sich hierbei um ein „freimaurerisches Massenphänomen“ handele.

Einen Freund von mir, der selber kein Freimaurer ist, erinnerte die Dynamik, die mein Blogartikel innerhalb der freimaurerischen Social-Media-Community auslöste, sehr an #Aufschrei oder #MeToo: Eine Person berichtet von etwas, was sie erlebt hat beziehungsweise was ihr wiederfahren ist, und mit einem Mal tritt einer nach dem anderen hervor, hebt den Finger und sagt: „Ich kenne exakt dasselbe aus eigenem Erleben.“

Eine große Zahl an Freimaurern – wenn nicht sogar jeder Freimaurer – hatte in Bezug auf das Freimaurertum ganz ähnliche „Ent-Täuschungen“ erlebt wie ich. Doch wie die einzelnen Freimaurer damit umgegangen waren, unterscheidet sich sehr voneinander.

Ein nicht unwesentlicher Teil hat dem Freimaurertum ein für alle Mal den Rücken gekehrt. Und um es klar zu sagen: Alle diese Austritte erfolgten ausschließlich aufgrund zwischenmenschlicher Enttäuschungen mit anderen Freimaurern. Keine anderen Gründe wurden genannt. Ein Phänomen, das ich zu bestätigen weiß: In meinem direkten Logenumfeld sind von den Brüdern, die in dem Zeitraum von etwa fünf Jahren vor meiner Aufnahme bis fünf Jahre nach meiner Aufnahme dem Bund beigetreten sind, schätzungsweise Dreiviertel wieder ausgetreten beziehungsweise haben sich aus dem Logenalltag zurückgezogen. Dies scheint logenübergreifend ein derart gravierendes Problem zu sein, dass es schon arg verwundert, dass dieses Phänomen innerhalb des Freimaurertums nicht viel präsenter und offensiver diskutiert wird. Mir scheint, als hätte das Freimaurertum hier einen blinden Fleck.

Ein weiterer, großer Teil hat nach einem Vorgang des inneren Ringens die eigenen Erwartungshaltungen an das Freimaurertum revidiert und dadurch eine neue Zufriedenheit auf dem eigenen freimaurerischen Weg finden können. Zwei Rückmeldungen fand hierbei besonders erwähnenswert. So schrieb mir ein Freimaurer-Bruder, dass er mehrfach an diesem Punkt gestanden habe und sich mehrfach neu habe entscheiden müssen, ob er Freimaurer bleiben wolle, weil ihm richtiggehend Widerliches durch Brüder wiederfahren war. Dieser Bruder jedoch blieb dabei und ist heute in der freimaurerischen Außenwahrnehmung ein hell strahlender Leuchtturm der Humanität. Ein anderer Freimaurer-Bruder trat aus dem Freimaurertum aus und erst nach einigen Jahren, nachdem sich seine Erwartungshaltungen gewissermaßen geläutert hatten, wieder ein. Die beiden Brüder sind heute langjährige und zufriedene Freimaurer.

Zu diesem ganzen Komplex rund um die Frage des Austritts aus dem Freimaurertum erreichte mich noch ein weiterer nachdenkenswerter Gedanke: Trete ein Freimaurer aus, erschaffe dies nur Verlierer: Zum einen den Ausgetretenen, dem in den allermeisten Fällen etwas fehlen werde, was ihn zuvor in irgendeiner Weise innerlich berührt habe. Daher bliebe in den allerseltensten Fällen ein Ex-Freimaurer zurück, der seine Entscheidung nicht auch bereue. Und zum anderen sei da seine ehemalige Loge, die einen Bruder mit einzigartigen Eigenschaften, Charakterzügen und Fertigkeiten verloren habe. So platt es auch klingt: Jeder Freimaurer, der deckt, hinterlässt eine Lücke in seiner Loge, die durch niemanden anders wieder geschlossen werden kann.

9. DAS PROBLEM DER ERWARTENSHALTUNG

Damit sind wir mittendrin in der Fragestellung: Welche Erwartungshaltung habe ich an das Freimaurertum und ist diese Erwartungshaltung überhaupt berechtigt? Viele Rückmeldungen auf den ersten Teil dieser Blogserie drehten sich direkt oder indirekt um ebendiese die Fragestellung.

In der Auseinandersetzung mit dieser Frage wurde mir klar: Dass ich mich von einzelnen Brüdern „ent-täuscht“ und verletzt fühle und mich von meiner Johannisloge entfremdet habe, hängt zu einem großen Teil damit zusammen, dass ich mit falschen Erwartungshaltungen an die ganze Sache herangegangen bin. Das, was hier „ent-täuscht“ wurde, waren meine Erwartungshaltungen. Es war eine „Ent-Täuschung“, ein „Ende der Täuschung“ im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich unterstelle nicht, dass die Freimaurer-Brüder, mit denen ich mich im Vorfeld meiner Aufnahme getroffen hatte, um abzuklopfen, ob das Freimaurertum zu meinem Weg passt oder nicht, mich vorsätzlich hinters Licht geführt hätten, um in mir falsche Erwartungen und Hoffnungen zu schüren. Vielmehr bin ich mit einer deutlichen Vorprägung und viel Hintergrundwissen an das Freimaurertum herangetreten. Schon bevor ich Freimaurer wurde, hatte ich in der Männerarbeit nach Richard Rohr einen Initiationsritus durchlaufen, Bruderschaft erfahren und an mir selbst gearbeitet. Dies alles hatte ich genommen und einfach mit dem Freimaurertum addiert. Heraus kamen eine Bruderschaft und ein Initiationsritus der Superlative. Dass das Freimaurertum an einigen Stellen jedoch etwas von der persönlichen und zwischenmenschlichen Tiefe vermissen lässt, die ich in der Männerarbeit erlebt hatte, wollte ich zunächst nicht wahrhaben. Nichtsdestotrotz weist das Freimaurertum gerade in Punkto Symbolik und historischer Verwurzelung Qualitäten auf, die ich in der Männerarbeit nach Richard Rohr nicht vorfinde.

10. EIGENE THEMEN PROJIZIEREN

Aus dem ersten Teil dieser Blogserie ergab sich unter anderem ein Telefonat, das eine ganz essentielle Fragestellung nach oben spülte. Ich führte es mit einem Freimaurer-Bruder, mit dem sich meine Wege online immer mal wieder gekreuzt hatten. Ein Bruder, der Coaching-Hintergrund hat und ebenfalls spirituell unterwegs ist. Dieses Telefonat dauerte recht lang und war von einer großen Verbundenheit und einem tiefen Verstehen geprägt. Eine ganze Weile stellte mir dieser Bruder einfach nur Fragen, um mich und meinen Hintergrund sowie meine Beweggründe zu verstehen.

Aus diesem Gespräch nahm ich vor allem einen Impuls, eine Fragestellung für mich mit, nämlich: Das, was mich an anderen Freimaurer-Brüdern irritiert, verletzt oder triggert, könnten in erster Linie meine eigenen Themen sein. Eventuell habe ich sie für mich noch nicht gelöst oder habe einfach keinen Blick für sie, weshalb ich entweder diese Themen auf mein Gegenüber projiziere und mich dann an meinem Gegenüber abarbeite. Oder aber mich an meinem Gegenüber abarbeite, wenn ich verdrängte Themen von mir unterbewusst tatsächlich bei ihm wahrnehme. In beiden Fällen ist das Problem also nicht der andere Freimaurer-Bruder, sondern das Problem bin ich selbst beziehungsweise Anteile von mir, die ich nicht sehen kann oder will und/oder noch nicht aufgearbeitet habe.

Dieser Ansatz ist jetzt weder groß originell noch irgendwie neu für mich. Gewissermaßen gehört er zu meinem spirituellen Standard-Handwerkzeug. Trotzdem war es in meiner aktuellen Situation sehr wertvoll, diesen Ansatz noch einmal hervorzukramen und den Spot drauf zu setzen. Denn seither dämmert es mir, dass hier ein weiterer Schlüssel liegen könnte, meine aktuelle Situation und Fragestellung zu klären.

11. DEN EIGENEN RAUEN STEIN BEARBEITEN

Wenn ich mir die letzten beiden Unterpunkte mit ihren Fragestellungen nach meiner Erwartungshaltung und meinen eigenen Themen, die ich auf andere Brüder projiziere, anschaue, merke ich, dass der Fokus von den Anderen weg und hin zu mir selbst schwenkt. Weg von den Rauen Steinen anderer Freimauer hin zu meinem eigenen Rauen Stein. Viele weitere Rückmeldungen zielten auch genau in diese Richtung.

Projiziere ich Ecken und Kanten meines eigenen Rauen Steins auf die Rauen Steine der anderen, so muss ich mir die Frage gefallen lassen, wieso ich nicht zunächst die Ecken und Kanten an meinem eigenen Rauen Stein wahrnehme und zulasse. Dann bin ich doch überhaupt erst in der Lage, sie auch bearbeiten zu können.

Und wenn ich zudem mit Erwartungshaltungen, die dem Realitätscheck nicht standhalten, an das Freimaurertum herantrete, muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob ich nicht zunächst diese Form der überschüssigen Ecken und Kanten meines eigenen Rauen Steins abzuschlagen habe.

Das, was danach übrigbleibt, gilt es, mir anzuschauen und für mich zu klären, ob dies für meinen persönlichen Weg einen Mehrwert hat.

Hier schwingt noch eine weitere Fragestellung mit, die mir ebenfalls ein Freimaurer als Reaktion auf den ersten Teil dieser Blogserie stellte: Wieviel Macht räume ich anderen (Freimaurern) über meine eigenen Emotionen ein? Ich lasse diese interessante Fragestellung mal unkommentiert nachhallen…

Bleibe ich im Bild des Rauen Steins, dann ist ein regelmäßiges Infragestellen meines freimaurerischen Weges notwendiger Bestandteil ebendieser Arbeit am Rauen Stein. Und gerade die Negativerlebnisse mit dem Freimaurertum helfen, den eigenen Blick zu klären. Denn nur so kann ich aufmerksam werden für die Ecken und Kanten meines eigenen Rauen Steins. Diese Art der Reflexion sollte einen jeden Freimaurer ausmachen.

12. EINMAL FREIMAURER – IMMER FREIMAURER?

Weiter gab es einige Rückmeldungen, die mir sagten, dass mein freimaurerischer Weg nicht ende, nur, weil ich dem Freimaurertum den Rücken kehre. Denn Freimaurer-Sein drücke sich in einer Lebenshaltung, einem Lebensweg sowie einer Art sich zu hinterfragen und an sich zu arbeiten aus; nicht an einer Mitgliedschaft in einer Organisation. Zweifellos sei es für den Weg als Freimaurer förderlich, das in Anspruch zu nehmen, was das institutionalisierte Freimaurertum zu bieten hat: Ritual, Symbolik, brüderliche Gemeinschaft. Dies sei aber nicht grundsätzliche Voraussetzung, um ein Freimaurer sein zu können. Außerdem zeige nach Ansicht dieser Freimaurer die Art und Weise, wie ich an mir arbeite und diesen Prozess reflektiere, dass ich nach wie vor Freimaurer sei beziehungsweise in der freimaurerischen Idee verhaftet sei. Daher: Sollte ich mich am Ende dieses Prozesses dazu entscheiden, mich vom institutionalisierten Freimaurertum abzuwenden, sage dies noch nichts darüber aus, ob ich auch danach noch Freimaurer sei oder nicht. Und folglich sei mein Weg nach dieser Entscheidung auch nicht am Ende angelangt. Denn schließlich habe ich dadurch Erfahrungen gemacht und mich weiterentwickelt

13. SPIRITUELLE BRÜDER AM RAND

Eine kleine Randnotiz: Auf meinem Blog vertrete ich ja eine sehr spirituelle Herangehensweise an das Freimaurertum. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um die einzig mögliche Spielart des Freimaurertums. Vielmehr sind die Brüder, die mit solch einer spirituellen Schlagseite ihren freimaurerischen Weg gehen, eine Minderheit. Dies führt dazu, dass es im Logenumfeld dieser Brüder wenige Gleichgesinnte gibt, mit denen sie in fundierten Austausch über ihre Sicht- und Herangehensweisen bezüglich des Freimaurertums treten können.

Und dies war ein Umstand, den mir einige dieser spirituellen Brüder zurückgemeldet haben. Ein Umstand, der spirituelle Brüder oft daran zweifeln lässt, ob sie im Freimaurertum richtig aufgehoben sind. Dies bedeutet nicht, dass diese Brüder in ihren Logen nicht auf gebildete und inspirierende Menschen getroffen wären, mit denen sie nicht bereichernden Austausch gehabt und Brüderlichkeit erlebt hätten. Es ist nur so, dass diese spirituellen Brüder für ihre sie in der Hauptsache treibenden Themen und inneren Entwicklungen in der Loge oftmals kaum Abnehmer finden und sich daher fragen, ob das Freimaurertum für sie nach wie vor die richtige Heimat ist.

Dieses Spannungsfeld kenne ich aus eigenem Erleben ebenfalls. Und dies bringt zwangsläufig die Frage mit sich, ob das Freimaurertum tatsächlich der richtige Ort für mich ist, um innerlich zu wachsen und mich zu entwickeln. Oder ob es richtig wäre, mir einen anderen Ort dafür zu suchen. Einen Ort, wo der spirituelle Aspekt im Mittelpunkt steht und kein Randdasein fristet.

14. GANZ GANZ GROSS

Insgesamt bleibt hervorzuheben, dass ich auf den ersten Teil dieser Blogserie aus ganz unterschiedlichen Ecken Deutschlands und aus ganz unterschiedlichen freimaurerischen Richtungen diverse Gesprächsangebote bekommen habe. So viele, dass ich gar nicht alle annehmen konnte. Es kam zu Telefonaten, zu Schriftverkehr oder zu Sprachnachrichten mit Brüdern, die ich teilweise vorher noch gar nicht gekannt hatte. Dieser Austausch war jedes Mal von großer Empathie und Herzlichkeit geprägt. Einzelne dieser Gespräche gingen sehr in die Tiefe. Das Freimaurertum hat sich hier von einer ganz, ganz großen Seite gezeigt! Eine Seite, die ich zugegebenermaßen etwas aus den Augen verloren hatte.

Aus einem Teil dieser Konversationen ergaben sich Einladungen zu Besuchen von Tempelarbeiten der Logen der entsprechenden Brüder. Dies hat den Entschluss in mir reifen lassen, noch einmal auf Johannisgesellenreise zu gehen, bevor ich eine Entscheidung bezüglich meiner freimaurerischen Zukunft treffe. Ich werde den Zirkel weit fassen und neben meiner eigenen Loge Tempelarbeiten unterschiedlichster Lehrarten besuchen. Ich will mich ganz neu einlassen auf Symbolik und Ritual des Freimaurertums. Und in mir nachhallen lassen. Was die freimaurerische Vielfalt angeht, sitze ich hier in Hamburg an der Quelle. Und dies gilt es auch zu nutzen.

Einige Freimaurer sagten mir sinngemäß, dass es nicht nur darum ginge, zu schauen, was mich alles vom Freimaurertum trenne; so wie ich es in dem ersten Teil dieser Blogserie ja überwiegend getan hatte. Vielmehr ginge es auch darum, nicht aus den Augen zu verlieren, was mich mit dem Freimaurertum verbinde. Der hier beschriebene freimaurerische Austausch half mir, auch diesen Fokus wieder zuzulassen.

Dies alles zusammengenommen bedeutet natürlich, dass sich ein zeitliches Ultimatum, wie es mir vor mittlerweile einigen Monaten gestellt worden ist und das jetzt bereits geschliffen worden ist, komplett erledigt hat. Ich bin inmitten eines Prozesses. Dieser Prozess geht voran und arbeitet in mir, er ist jedoch nicht in zeitliche Vorgaben zu pressen.

15. ZWISCHENFAZIT

Das wären so die groben Linien an Rückmeldung, die ich auf den ersten Teil dieser Blogserie bezüglich meines weiteren freimaurerischen Weges erhalten habe. Wahrgenommen durch meine Brille. Ausgedrückt mit meinen Worten. Ganz sicher ist das, was ich hier wiedergegeben habe, nicht abschließend. Ganz sicher werde ich Dinge übersehen haben und das ein oder andere anders verstanden haben, als der Absender es gemeint hatte. Aber so läuft das Spiel nun einmal.

Ich kann für mich sagen, dass diese Rückmeldung für mich unheimlich wertvoll sind. Sie haben mein Blickfeld erweitert. Sie haben mich innerlich vorangebracht. Der „Hagen Unterwegs“ vor dem ersten Teil dieser Blogserie ist ein anderer als der „Hagen Unterwegs“ nach dem ersten Teil dieser Blogserie. Ich bin für mich definitiv noch zu keiner Entscheidung gelangt, was meine freimaurerische Zukunft anbelangt. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Entscheidung fundiert und wohl abgewogen werden wird. Vielen Dank dafür!

Freimaurerische Bigotterie

ALS FRAU AUßEN VOR?

In meinem privaten Umfeld gibt es den einen oder anderen Menschen, der es ziemlich suspekt fand, als ich mich entschied, Freimaurer zu werden. Insbesondere durch die feministische Brille betrachtet, mutete dieser Schritt mehr als fragwürdig an. Denn kommen bei den Freimaurern nicht alte weiße Männer zusammen, die sich im Glanze einer elitären Exklusivität sonnen? Eine Exklusivität, in der für Frauen kein Platz ist? Kein Vorbehalt gegenüber der Freimaurerei begegnete mir so häufig wie der, dass Frauen dort ausgeschlossen würden.

Nur um dieses Argument ein für alle Mal abzuräumen: Doch, auch in der Freimaurerei gibt es Frauen. Genauso, wie es reine Männerlogen gibt, gibt es auch reine Frauenlogen und auch gemischte Logen.

Allerdings gibt es bei der ganzen Frage bezüglich „Freimaurerei und Frauen“ ein ganz großes „Aber“. Ein „Aber“, das gewichtig und ziemlich hässlich ist. Ein „Aber“, das mich als männlichen Freimaurer beschämt. Und um dieses „Aber“ soll es in diesem Blogartikel gehen.

MEIN ERSTER GÄSTEABEND

Tatsächlich fand mein erster realer Kontakt als Suchender zu einer gemischten Freimaurerloge statt. Eher zufällig bekam ich eine Einladung zu einem Ihrer Gästeabende in die Hand.

Als ich diesen Gästeabend dann besuchte, war ich zunächst etwas irritiert, weil ich in dieser Loge keinen einzigen Mann antraf. Diese Loge war nur auf dem Papier eine gemischte Loge, de facto jedoch eine reine Frauenloge. Die Logenmeisterin erklärte mir an diesem Abend, warum das so ist: Freimaurerlogen, in denen auch Frauen Mitglieder sind, werden durch die offiziellen freimaurerischen Statuten und Institutionen nicht offiziell anerkannt. Folglich ist es Frauenlogen und auch gemischten Logen nicht möglich, die sogenannte „freimaurerische Regularität“ zu erlangen. Dies wiederum hat zur Folge, dass Männer, die sich dafür interessieren, Freimaurer zu werden, sich lieber regulären Männerlogen anschließen, als irregulären Frauenlogen oder irregulären gemischten Logen. Auch mir legte die Logenmeisterin für den Fall, dass ich ernsthaft an der Freimaurerei interessiert sei, nahe, mich dann doch lieber einer reinen, regulären Männerloge anzuschließen.

Den Vortrag dieses Abends hielt ein Mann. Ein eloquenter und gebildeter Mann. Vor allem aber: Ein regulärer Freimaurer. In dem Vortrag, den ich als sehr fundiert und umfassend erinnere, ging es um Gotthold Ephraim Lessing. Dessen Ringparabel ist so etwas wie die Lieblingsgeschichte der Freimaurer. Je länger dieser Gästeabend andauerte, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass sich so etwas wie eine informelle Hierarchie herausbildete: Vorne der „richtige“ – weil reguläre – Freimaurer, der alle an seinem Wissen teilhaben ließ. Und zu seinen Füßen die „nicht so ganz richtigen“, – weil irregulären – Freimaurerinnen, die an seinen Lippen hingen.

Natürlich war dieser Abend inhaltlich für mich gewinnbringend gewesen. Und auch insofern spannend, weil ich das erste Mal in meinem Leben echte freimaurerische Luft schnuppern durfte. Doch der Eindruck, wie demütigend innerhalb der Freimaurerei mit den Freimaurerinnen umgegangen wird, ließ einen äußerst faden Beigeschmack zurück.

DIE FRAGE DER REGULARITÄT

Doch was hat es mit dieser „Regularität“, die dafür sorgt, dass Frauen innerhalb der Freimaurerei irgendwie außen vor bleiben, auf sich? Woher stammt die Idee der „Regularität“?

Geht man dieser Frage nach, kommt man an den sogenannten „Alten Pflichten“ nicht vorbei. Hierbei handelt es sich laut Freimaurer-Wiki um die „erste gedruckte und veröffentlichte Sammlung von Gesetzen und Konstitutionen (Regeln) der Freimaurer“. Diese sind 1723 von dem Reverend und Prediger an der Kirche der schottischen Presbyterianer in London, dem Doktor der Philosophie und der Theologie, James Anderson, verfasst und erstmalig am 28. Februar 1723 veröffentlicht worden. In diesen Alten Pflichten wird für das damals noch blutjunge Freimaurertum unter anderem niedergelegt, was einen Freimaurer ausmacht, wie die Ordnung einer Freimaurerloge hergestellt wird und wie sich der einzelne Freimaurer innerhalb und außerhalb der Loge zu verhalten hat. Der gesamte Text setzt voraus, dass nur Männer Freimaurer werden können. So wird durchgehend von Männern, von „der Maurer“, „ein Maurer“ oder „der Bruder“ gesprochen. Im 3. Abschnitt mit dem Titel „Von den Logen“ wird schließlich klar benannt, dass Freimaurer nur „gute und wahre Männer, frei geboren, von reifem Alter und diskreten und vernünftigem Urteilsvermögen“ werden können. Es dürfen „keine Frauen“ zum Freimaurer aufgenommen werden.

Die Alten Pflichten werden von den sogenannten „Basic Principles“ aus dem Jahre 1929 ergänzt, konkretisiert und ausgeschärft. In diesen verständigten sich die Großlogen von England, Irland und Schottland darüber, unter welchen Voraussetzungen Großlogen anerkannt und gestiftet werden. Die Basic Principles sind so etwas wie der Versuch, den kleinsten gemeinsame Nenner zu definieren, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine (Groß-) Loge überhaupt als regulär anerkannt werden kann. Acht Punkte sind dort niedergelegt. Der vierte bezieht sich auf die Frage nach „den Frauen und der Freimaurerei“. Dazu steht dort geschrieben: „Die Mitglieder der Großloge und der einzelnen Logen setzen sich ausschließlich aus Brüdern zusammen, die als Männer zu Freimaurern wurden. Und dass jede Großloge keinerlei freimaurerische Zusammenarbeit mit Organisationen haben darf, die weibliche Freimaurer initiieren.“ Also auch die Basic Principles lehnen Frauen als Freimaurer ab.

Ergo: Die Alten Pflichten und die Basic Principles, die maßgeblich sind, wenn es um die Frage geht, ob eine Loge oder Großloge regulär oder irregulär ist, lehnen die Idee, dass auch Frauen Freimaurer sein können, ab. Es könnten an dieser Stelle noch weitere Schriften und Verordnungen mit gleicher Zielrichtung genannt werden, die diese Vorgaben ins jeweilige Großlogen-Recht und den jeweiligen Logen-Alltag transferieren. Doch deren Ursprünge lassen sich in letzter Konsequenz alle auf die Alten Pflichten und die Basic Principles zurückführen. Und da jede reguläre Loge „gesetzmäßig durch eine andere anerkannte Großloge oder durch drei oder mehr regulär konstituierte Logen gegründet worden sein“ muss, vererbt sich die Idee, dass Frauen keine Freimaurer sein können, quasi von regulärer Loge zu regulärer Loge immerfort. Und den Beginn dieser Regularitätskette bildet die Vereinigte Großloge aus England, auf die sich schlussendlich direkt oder indirekt jede reguläre Loge zurückführen lässt.

Nun lassen sich die Mechanismen, die beim Freimaurertum zu greifen anfingen, als Festschreibungen darüber getroffen wurden, wer regulärer und wer irregulärer Freimaurer ist, mit denen vergleichen, die bei den Religionen greifen, wenn sie definieren, welcher Gläubige rechtgläubig ist und welcher nicht. In beiden Fällen werden mehr oder weniger absolute Statuten aufgestellt, die dadurch, dass sie bestimmte Menschen einschließen, gleichzeitig andere Menschen ausgrenzen. Das liegt im Wesen solcher Statuten (oder sollte ich eher von „Dogmen“ sprechen?). Und bei den Freimaurern sind es eben die Frauen, die durch den niedergeschriebenen Buchstaben pauschal ausgegrenzt werden.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Basic Principles innerhalb der weltweiten Bruderschaft der Freimaurer nicht gleichermaßen anerkannt sind. Hintergrund ist, dass es ab dem 18. Jahrhundert eine große Rivalität zwischen zwei der größten damaligen freimaurerischen Richtungen, nämlich der englischen und der französischen, gab. Es ging um Einfluss und Deutungshoheit innerhalb der Bruderschaft der Freimaurer. Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich kam es zum Bruch, zum Schisma zwischen der englischen und der französischen Freimaurerei. Mit den Basic Principles nun hat die Vereinigte Großloge von England versucht zu definieren, wer sich tatsächlich Freimaurer nennen darf, sprich wer regulärer Freimaurer ist, und wer nicht. (Groß-) Logen, die einzelne Inhalte der Basic Principles nicht mittrugen, galten von nun an als irregulär. Das brachte es mit sich, dass große und traditionsreiche (Groß-) Logen, wie der Grand Orient de France, sich nicht mehr als regulär bezeichnen durften. Auch die Frauenlogen, die offiziell spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts existierten, fanden sich irgendwann in der Irregularität wieder. Gleiches gilt für die gemischten Logen, die es bereits seit einigen Jahrzehnten früher gegeben haben dürfte.

Die gesamte innerfreimaurerische Auseinandersetzung um die Frage der Regularität, um die Inhalte der Alten Pflichten und der Basic Principles ist ein sehr weitreichender und fundamentaler Konflikt, dessen Wehen bis in die heutige Zeit hineinreichen. Daher könnte ich allein dieser Auseinandersetzung schon mehrere Blogartikel widmen. Für den vorstehenden Artikel, in dem es um die Frage geht, inwiefern Frauen reguläre Freimaurer sein können, soll mein oberflächlicher und inhaltlich sehr zugespitzter Ritt durch diesen Teil der freimaurerischen Geschichte jedoch ausreichen.

DIE SITUATION HEUTE

Sehr interessant ist es, sich bezüglich dieses Themenkomplexes einmal durch das Freimaurer-Wiki zu klicken. Dort kann man vieles vertiefen, was ich in diesem Blogartikel lediglich anreißen kann. Und dort stieß ich auf die Übersetzung einer sehr interessanten Verlautbarung der Vereinigten Großloge von England aus dem Jahr 1999, die ich hier mal im O-Ton bringen will: „In England und in Wales gibt es zumindest zwei Frauengroßlogen. Außer daß diese Frauen aufnehmen, sind sie, soweit das festgestellt werden kann, in ihrer Ausübung regulär. Es gibt auch eine Großloge, die Männer und Frauen aufnimmt. Diese Großlogen werden von der ‚United Grandlodge‘ (UGLE) nicht anerkannt; es finden keine gegenseitigen Besuche statt. Jedoch gibt es mit den Frauengroßlogen gelegentlich informelle Gespräch über Angelegenheiten von beiderseitigem Interesse. Wenn Brüder von Nichtmaurern darauf angesprochen werden, können sie also klarstellen, daß sich die Freimaurerei nicht auf Männer beschränkt, und das obwohl die UGLE selbst keine Frauen aufnimmt.“ Als bei der Vereinigten Großloge von England mit der Bitte um Konkretisierung dieser Aussage nachgehakt wurde, folgte nachstehende Aussage, die ich hier ebenfalls im O-Ton bringen will: „Um anerkannt zu werden, muss eine Loge reguläre Freimaurerei praktizieren, aber das ist nicht die einzige Voraussetzung. Anerkennung bedeutet auch, daß gegenseitige Logenbesuche möglich sein müssen. Aber weder die UGLE noch die beiden Frauengroßlogen wollen gemischte Logenarbeiten. Es gibt Aktivitäten, die manche Menschen lieber in einer ‚Single-Sex‘-Umgebung praktizieren, ohne den Druck und die Ablenkungen, die in gemischten Gruppen auftreten können. Das gilt für viele sportliche Tätigkeiten: Männer und Frauen spielen Hockey, aber nicht zusammen. Und es gilt für spirituelle Räume: Siehe die Nonnen und die Mönche.“

Diese Aussagen sind höchst interessant. Denn sie sprechen der Frau an sich nicht mehr per se die Fähigkeit ab, Freimaurerinnen zu sein. Vielmehr wird Ihnen sogar zugestanden, dass sie im freimaurerischen Sinne regulär rituell arbeiten. Trotzdem bleiben diese Aussagen letztendlich inkonsequent. Denn Frauen- oder auch gemischten Logen wird eine Regularität mit der Begründung nicht zugesprochen, dass gegenseitige Besuche der rituellen Tempelarbeiten möglich sein müssen. Besuchten sich jedoch Männer und Frauen gegenseitig bei den Tempelarbeiten, handelte es sich bei diesen Ritualen um gemischte Tempelarbeiten, welche wiederum nicht regulär wären. Im Ernst jetzt? Dem geneigten Beobachter stellt sich hierbei die Frage, warum das gesamte Feld der freimaurerischen Tempelarbeiten nicht einfach komplett für Männer und Frauen freigegeben wird. Warum legt man es nicht ins Ermessen jeder einzelnen Loge, jedes einzelnen Freimaurers, in welcher geschlechtlichen Konstellation die rituellen Arbeiten begangen werden wollen?

Eventuell, weil essentielle Teile des männlichen Freimaurertums noch nicht so weit sind? Denn noch 2013, als ich in den christlichen Freimaurerorden aufgenommen wurde, bekam ich mit, wie ein älterer Bruder bei einem freimaurerischen Mahl von sich gab, dass das freimaurerische Ritual ein Ritual sei, dass „auf die männliche Seele abgestimmt“ und folglich „nichts für Frauen“ sei. Bei keinem der Brüder, die diese Aussage vernommen hatten, regte sich Widerspruch. Erst im Nachhinein begriff ich, wie anmaßend solch eine Aussage ist. Denn wenn eine Frau aus Überzeugung Freimaurerin ist und augenscheinlich vom freimaurerischen Ritus und der freimaurerischen Symbolik berührt und inspiriert wird, welcher Mann hat dann das Recht zu behaupten, dass Ritual und Symbolik des Freimaurertums nichts für sie sei? Welch Arroganz, Ignoranz und Überheblichkeit spricht denn bitte aus solch einer Ansicht?!

Ich will aber nicht verschweigen, dass es sich hierbei nicht um die Mehrheitsmeinung unter den Freimaurer-Brüdern zu handeln scheint. Denn in meinem Logenalltag und meinem Social-Media-Umfeld erlebe ich, dass der Umgang zwischen Freimaurern und Freimaurerinnen von Geschwisterlichkeit, Respekt und gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist. Man befindet sich steten Austausch und besucht sich gegenseitig (wenn auch nicht zu gemeinsamen Tempelarbeiten). Man teilt dieselben Werte und dieselben Tempel. Nichtsdestotrotz bleibt natürlich der Makel der Irregularität an den Freimaurerinnen haften.

EIN PLÄDOYER

Jetzt mag der ein oder andere Freimaurer an dieser Stelle sagen: „Wenn der Hagen Unterwegs sich so für die Gleichberechtigung der Frau in freimaurerischen Fragen einsetzt, warum tritt er dann der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland, sprich dem christlichen Freimaurerorden, bei, der keine Frauen zulässt?“ Tatsächlich habe ich mich, bevor ich Freimaurer wurde, sehr ausführlich mit dem Freimaurertum und seinen unterschiedlichen Richtungen befasst. Meine Entscheidung für den christlichen Freimaurerorden war eine wohl überlegte und abgewogene. Und dies liegt in der initiantischen Männerarbeit nach Richard Rohr begründet, in der ich verwurzelt bin. Dort habe ich die Erfahrung gemacht, dass viel männliches Gockelgehabe und Gepose eher wegfällt und Männer ihren Schmerz, ihre Schwachheit, ihre Schattenseiten und ihre Scham eher zulassen und mit Ihresgleichen teilen können, wenn keine Frauen zugegen sind. Daher war für mich klar, dass ich einer rein männlichen Loge beitreten möchte. Und bis heute habe ich diese Entscheidung nicht bereut.

Was mir jedoch negativ aufstößt, ist die Tatsache, dass die aktuelle freimaurerische Rechtslage meiner Großloge gar keine andere Wahl lässt, als mir zu verbieten, gemeinsam mit Frauen an Tempelarbeiten teilzunehmen. Ich empfinde dies als übergriffig und bevormundend. Denn was spricht dagegen, den einzelnen Bruder selbst entscheiden zu lassen, in welcher geschlechtlichen Konstellation er Tempelarbeiten beiwohnen will? Warum wird mir diese Erfahrung verwehrt? Und was mir ebenso negativ aufstößt, ist die Tatsache, dass die aktuelle freimaurerische Rechtslage es mit sich bringt, dass es in meiner Großloge keine Frauenlogen gibt. Warum enthalten wir den erhabenen, wirkmächtigen und bis ins letzte Detail durchkomponierten freimaurerischen Ritus des christlichen Freimaurerordens den Frauen komplett vor? Was ginge denn verloren, wenn es in der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland neben reinen Männerlogen auch reine Frauenlogen oder gar gemischtgeschlechtliche Logen gäbe?

Nur um eines klar zu sagen: Dieser Blogartikel von mir ist kein Plädoyer dafür, dass meine Großloge sich durch die Aufnahme von Frauen in die Irregularität begeben soll. Niemandem wäre dadurch geholfen; weder der Sache der Frauen, noch dem christlichen Freimaurerorden selbst. Allerdings bedarf es für das Ein- und Aufstehen für die Regularität von Freimaurerinnen auch nicht die Aufgabe der eigenen Regularität.

Und dieser Blogartikel ist auch kein Plädoyer dafür, die Idee der Regularität komplett über Bord zu werfen. Auch wenn ich finde, dass der Begriff der freimaurerischen Regularität deutlich weiter gefasst werden sollte, als dies aktuell der Fall ist, so ist die Idee der Regularität dennoch notwendig, um grob abzustecken, wo die freimaurerische Idee beginnt und wo sie endet. Um mal ein plakatives Beispiel zur Veranschaulichung zu bringen: Gäbe es einen Rahmen der Regularität nicht, was spräche dann dagegen, Gesellschaften, wie einst die nationalsozialistische „Thule-Gesellschaft“ aus dem Dritten Reich, die vom Aufbau und den rituellen Formen her viele Überschneidungen zum Freimaurertum aufwies, auch dem Freimaurertum zuzuschlagen? Ich denke, aus diesem Beispiel wird ersichtlich, dass ein Mindestmaß an freimaurerischer Abgrenzung durch Regularität notwendig ist.

Dass diesem Maß an Abgrenzung aktuell allerdings die Frauen zum Opfer fallen, halte ich für grundfalsch. Und so sehr ich mir den Kopf auch zerbreche, es will mir einfach keine schlüssige und tragfähige freimaurerische Begründung dafür einfallen, weshalb Frauen keine regulären Freimaurer sollten werden dürfen.

Daher ist dieser Blogartikel ein Plädoyer dafür, die Frau endlich aus dem Gefängnis der Irregularität herauszuholen und sie in allen freimaurerischen Belangen und auf allen freimaurerischen Ebenen dem Mann vollumfänglich gleichzustellen! Beenden wir doch endlich diesen Zustand, der Frauen innerhalb des Freimaurertums unterm Strich viel zu oft zu Geschwistern zweiter Klasse degradiert. Für mich als Mann ist dieser Zustand beschämend, aus der Zeit gefallen und bigott. Dabei ist der Schritt dahin, diesen Zustand zu beenden, doch gar kein so großer mehr.

Warum Freimaurer?

2. TEIL DER SERIE: „FREIMAUREREI ALS LEBENSEINSTELLUNG“ (GASTBEITRAG)

Was bleibt vom Freimaurertum? Wenn man diese ganzen freimaurerischen Äußerlichkeiten, die Ämter und Grade, die Hierarchien und Institutionen, die Etikette und das Elitäre und den ganzen Habitus, der daraus erwächst, wegnimmt, was bleibt dann noch vom Freimaurertum übrig? Was ist die freimaurerische Lebenseinstellung, der freimaurerische Lebensweg hinter alledem? Was am Freimaurertum hat Bestand, wenn man hinter dessen äußere Fassaden blickt? Seit einigen Monaten begleiten mich ebendiese Fragen. Und ich habe keine abschließende Antwort darauf.

Daher wuchs die Idee in mir, ganz unterschiedliche Feimaurerinnen und Freimaurer zu bitten, ihre Antworten zu diesen Fragen aufzuschreiben und auf meinem Blog zu veröffentlichen. Sie alle eint, dass ich sie als tiefgründig und inspirierend erlebe. Einige von ihnen kenne ich aus meinem tagtäglichen Leben, mit anderen wiederum habe ich mich bislang nur virtuell ausgetauscht. Zu einigen verbinden mich tiefe geschwisterlich freundschaftliche Beziehungen, andere erlebe ich aus der Ferne. Doch ich bin sehr gespannt, was sie dazu zu sagen haben. Über das Jahr verteilt will ich ihre Antworten auf diese Fragen nach und nach auf meinem Blog einstreuen.

Der zweite Text stammt von Stefan Szych. Wie ich Stefan ist Freimaurer und nach Richard Rohr initiiert. Er ist mir Bruder, Freund und Weggefährte. Stefan ist 1965er Baujahr, verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und lebt im Hamburger Einzugsbereich. 2004 wurde er in die Johannisloge „Zur unverbrüchlichen Einigkeit“ des christlichen Freimaurerordens aufgenommen. Mittlerweile hat er die zehnte Erkenntnisstufe inne. Seit jeher engagiert Stefan sich sehr stark in den unterschiedlichen Abteilungen des Freimaurerordens. Beispielsweise ist er aktuell der wortführende Logenmeister (Ritualleiter) der Andreasloge „Concordia“ (Grad 4 bis 6) sowie „Bruder Redner“ in seiner Johannisloge (Grad 1 bis 3) und in seinem Ordenskapitel „Inviolabilis“ (Grad 7 bis 10). 2016 durchlief er die Männerinitiation nach Richard Rohr.

WARUM FREIMAURER?

Als Hagen mich vor ein paar Monaten fragte „Was ist Freimaurerei für Dich?“, war die Antwort klar: Lebenspraxis nicht Hobby

Warum?

Dazu muss ich etwas ausholen. Macht es euch also bequem und folgt mir durch mein freimaurerisch-spirituelles Leben.

Ein Hobby übt man aus, wenn es die Zeit zulässt. Freimaurerei ist immer. Sprich, sie beeinflusst alles, was ich tue. Und wenn ich mal nicht maurerisch handele, meldet sie sich irgendwann wieder als jene innere Stimme, die mir zuflüstert „War das jetzt ok so?“

Das war nicht immer so, denn geboren bin ich als Profaner. Niemand wird als Freimaurer geboren.

Dabei lernte ich, wie ich im Nachhinein feststelle, den ersten Freimaurer in meiner Familie kennen: Mein Opa. Er kein echter Freimaurer, lebte aber wie einer. Er war friedlich, ausgleichend, liebevoll und ein Mann, der Kompromisse mehr schätzte als die bedingungslose Konfrontation. In Glaubensfragen konnte er bestimmt sein, ohne jedoch Dogmen anzuhaften. Er war Calvinist, seine Frau katholisch. Probleme im Glauben? Nie. Die Form war egal, der Inhalt zählte.

Den nächsten Freimaurer traf ich als Reporter im Niedersächsischen Landtag: Er war ein harter Hund in der Politik, Fraktionschef, Wadenbeißer, aber nie ehrabschneidend. Dass er Freimaurer war, erfuhr ich erst, als ich selbst aufgenommen worden war.

In meiner tiefsten Krise, als ich arbeitslos war, fand ich die ersten Bücher des Franziskaners Richard Rohr. Sie nahmen mich sofort gefangen und ich machte mich auf die Suche nach einer Männergruppe. Es sollte eine Gruppe sein, in der ich mich mit Männern über Männerthemen austauschen konnte.

Nein, nicht eine dieser Auto- und Fußballgruppen. Es sollte um mich und meine Gefühle, meine Ängste aber auch Hoffnungen gehen.

Auf der Suche nach so einer Männergruppe fand ich zunächst eine Opfer-Gruppe. Vier Männer, die sich abwechselnd bei einem der Mitglieder trafen und redeten. Dabei war „reden“ war das falsche Wort: Sie suhlten sich in ihrem Leiden, ihrem Selbstmitleid und den Ungerechtigkeiten dieser ach so harten Welt, in der sie sich von allen herumkommandiert fühlten: Von den Chefs, den Umständen, ihren Frauen und Kindern. Nach zwei Treffen war für mich Schluss.

Es sollte zwei weitere Jahre dauern, bis ich den dritten Bruder traf. Es war ein Kollege, der sich mir offenbarte und mich dann eineinhalb Jahre auf die Aufnahme vorbereitete – arbeitsbegleitend sozusagen. Er wurde mein Pate, begleitete mich durch die ersten Jahre des Logenlebens intensiv und auch heute noch.

Was zeichnet diese Drei Männer aus?

Sie lebten, was sie lehrten.

Und alle drei waren es gläubige Männer, die kein Tamtam um ihren Glauben machten, sondern ihn in sich trugen, verwurzelt, ihn lebten wie das Atmen.

Nach meiner Aufnahme suchte ich meinen Platz in der Loge, durchlebte als Geselle die freimaurerische Pubertät, denn nach der ersten Aufnahme in einen neuen Grad wusste ich natürlich alles besser als die Brüder, die seit 30 Jahren und mehr Jahren Freimaurer waren.

Langsam fand ich meinen Platz, wurde Redner und erarbeitete mir, während ich die Vorträge für die Loge schrieb, mein Wissen über die Freimaurerei.

Es sollte zehn Jahre dauern bis bei mir der Groschen fiel: Nach einer gescheiterten Wahl zum Logenmeister erlebte ich eine tiefe Krise mit Zweifeln an mir, der Freimaurerei, den Brüdern, ja selbst an meinem Paten, der meine Wahl aktiv behindert hatte.

Ich dachte an Austritt.

Doch jede Niederlage trägt ihre Lehre in sich.

Denn parallel hatte ich mich mit einem Bruder, mit dem ich mich monatelang heftig gestritten hatte, ohne Aussprache versöhnt. Vergebung ist eine starke Macht, erfuhr ich aus dieser heilenden Begegnung. Und so wandte ich diese beglückende Erfahrung nach monatelangem Hadern mit mir und den Umständen in der Loge auch auf mein „Schicksal“ in der Loge an. Es folgte eine Aussprache mit dem Konkurrenten, eine Versöhnung und eine jahrelange sehr fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit für die Loge.

Und so wuchs ich, wie ich im Nachhinein feststelle, in dieser Zeit immer tiefer in die Freimaurerei hinein. Das erkannten offenbar andere Brüder und wählten mich ein Jahr nach meiner Krise zum Wortführenden Andreasmeister, also zu einem Logenmeister der zweiten Abteilung unserer Lehrart.

So ein Logenmeister wird immer vom obersten Beamten der Großloge eingesetzt und so kam es zu jenem denkwürdigen Tag: Der Landesgroßmeister rief mich im Tempel zu sich, ich kniete nieder für die Einsetzung – und war plötzlich in einer anderen Welt:
Es gab nur noch ihn, den Dreifach Großen Baumeister, und mich. Die Verbindung zwischen dem Bruder und mir war so intensiv, so vertraut, so selbstverständlich, dass ich dafür den Begriff „Initiation“ verwende.

Und es gab ein „Mehr“ als nur uns drei. Da war mehr als dieser Ort, dieser Raum, diese Stelle. Es war ein geheiligter Moment. Ich begriff, dass hier mehr geschah, als die offensichtliche Handlung. Ich wurde verwandelt, nicht heilig, nicht besonders. Nein, in mir wurde eine Tür aufgeschlossen, ein Vorhang beiseite gezogen, Licht auf den Weg geworfen…

Parallel las ich weiter die Bücher von Richard Rohr. Und ich ging noch einen Schritt weiter: Im Jahre 2016, zwölf Jahre nach meiner Aufnahme zum Freimaurer, wurde ich nach dem Ritual von Richard Rohr (MROP – Mens Rites of Passage) in Österreich initiiert.

Und dieses Ritual verbunden mit der jahrelangen Lektüre von Richards Büchern und den Erfahrungen aus der Freimaurerei, wirkten wie ein Brandbeschleuniger. Ich lebte plötzlich in einer Klarheit, einer Konsequenz, die mir fast schon unheimlich war.

Nein, ich bin nicht perfekt, ich bin kein Heiliger, nicht einmal fast. Ich bin immer noch auf der Suche, mache Fehler, versage, gehe Umwege oder in Sackgassen.

Aber ich kenne den Weg, weiß wie ich diese Suche möglichst sinnvoll und gottverbunden gestalten und wieder zurückfinden kann. Wenn ich mich verirre.

Ich erkannte in mir, dass es nicht um richtig oder falsch geht, sondern um das demütige Anerkennen dessen, was ist. Nicht fatalistisch oder resignierend, sondern heilend, und erleichternd:

Es ist hart ein Mensch zu sein, aber ich trage das, was ich tragen kann und soll.
Ich bin nicht wichtig, aber mein Name ist bei IHM notiert.
In diesem Leben geht es nicht um mich, jedoch ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern der Obermeister lebt in mir.
Ich habe nicht die Kontrolle, aber wer kann schon sein Leben um eine Handbreit verlängern?
Es stimmt: Ich werde sterben, aber nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes.

Kurz gesagt:

Freimaurerei hat mich auf den spirituellen Pfad meines Lebens geführt.
Dem gebe ich mich hin – als Mann, Ehemann, Vater, Kollege und Bruder – als ganzer Mensch.

Menschsein ist kein Hobby, es ist Lebenspraxis.

Rituelle Heimat

WARUM WIRD MAN FREIMAURER?

Warum wird jemand Freimaurer? Vielen Freimaurer-Brüdern habe ich diese Frage gestellt. Und vieles konnte ich beobachten, seitdem ich in diese Bruderschaft aufgenommen worden war. Herausgekommen ist ein bunter Blumenstrauß an Motivationen. Der wohl häufigste Grund ist, einen Weg zu finden, sich mit sich selbst auseinander zu setzen und an sich zu arbeiten. Dies wird gefolgt von dem Wunsch nach Gemeinschaft und dem Bedürfnis, sich sozial zu engagieren. Manch einer schätzt den philosophischen Austausch, die Auseinandersetzung mit humanistischen Ideen oder sehnt sich nach mystischem Erleben. Ein Bruder erzählte mir mal, dass er sich Erleuchtung erhoffte. Doch auch weniger ehrenwerten Motiven bin ich begegnet. So traf ich auch auf Brüder, die sich von der vermeintlich elitären Fassade des Freimaurertums angezogen fühlten. Auch traf ich auf Brüder, die sich berufliche Vorteile oder gar ein karriereförderliches Netzwerk erhofften. Doch warum nun wurde ich selber Freimaurer?

WARUM WURDE ICH FREIMAURER?

Ich kann heute nachvollziehen, dass ich etwa 15 Jahre vor meiner Aufnahme in die Bruderschaft der Freimaurer anfing, mich ernsthaft mit ihr auseinander zu setzen. Es war zu einer Zeit, in der ich von Ritualen nichts hielt. War etwas rituell, war es für mich nur eine Umschreibung dafür, dass es starr, tot und eng war. Aus genau diesem Grund war ich seinerzeit auch aus der evangelischen Kirche ausgetreten.

Durch eine sehr fundamentale Krise, die mein gesamtes bisheriges Leben völlig in Frage stellte, kam ich mit unterschiedlichen Traditionen der Stille im Christentum (Kontemplation, Mönchstum etc.), den Wegen der christlichen Mystik und den Ideen der archaischen Initiationsriten, der Naturspiritualität sowie der spirituellen Männerarbeit nach Richard Rohr in Berührung. Je tiefer sich einzelne Aspekte davon in meinem Alltag verankerten, desto mehr bekam ich innerlich auch Zugang zu den Wirkweisen von Ritualen. Ich begann Rituale als etwas Halt gebendes zu schätzen, das – vorbei an meinem verkopften Wunsch, das Leben zu kontrollieren – mich auf tiefste Weise zu berühren vermag. Das ging so weit, dass ich, als ich mich nach langer Zeit mal wieder in einen sehr liturgischen Gottesdienst der evangelischen Kirche wagte, hinten auf meiner hölzernen Kirchenbank saß und mit den Tränen rang, als das Abendmahl eingesetzt und ausgeteilt wurde. Das war der Moment, in dem ich entschied, wieder in die evangelische Kirche einzutreten. Und es war auch die Zeit, in der ich auf intuitive Weise zu begreifen begann, warum Menschen durch das freimaurerische Ritual angerührt werden können.

Weiter erschloss ich mir, dass es unterschiedliche Richtungen innerhalb des Freimaurertums gibt. Die Richtung, für die ich mich später bewusst entscheiden sollte, war die des christlichen Freimaurerordens. Denn dieser vereinigte in seiner Symbolik und seinem Ritual vieles von dem, was meinen bisherigen spirituellen Weg so reich beschenkt hatte: Aspekte der christlichen Mystik, der Männerinitiation und des Versenkens in innere Stille.

Damit bin ich der Frage, warum ich selbst Freimaurer wurde, schon ein gutes Stück auf die Spur gekommen. Die eigentliche Frage aber, die sich dahinter verbirgt und die jeder, der mit dem Gedanken spielt, Freimaurer zu werden, für sich beantworten muss, lautet: „Was erhoffe ich mir von der Mitgliedschaft in der Bruderschaft der Freimaurer, was ich ohne diese nicht hätte?“ Meine Antwort darauf war: Ich sehnte mich nach einem regelmäßigen Ritual in meinem Leben. Und ich sehnte mich danach, dass dieses mich mit dem in Berührung kommen lässt, was meinen spirituellen Weg ausmacht.

DAS WESEN DER TEMPELARBEIT

Und habe ich gefunden, was ich zu finden erhofft hatte? Ganz klar: Ja! Ich nehme an kaum einem freimaurerischen Ritual teil, aus dem ich nicht innerlich bewegt hervorgehe. Dabei kann ich allerdings gar nicht so recht erklären, woran das nun eigentlich liegt.

Denn formal betrachtet, handelt es sich bei dem freimaurerischen Ritual lediglich um eine Abfolge ritueller Wechselgespräche und ritueller Handlungen. Hierbei wird symbolisch ein idealer Raum betreten: Die Loge. Ich begreife die Loge als einen Ort, der tief in mir liegt. Mein inneres Auge des Sturms. Der Ort, an dem ich einfach nur bin. Der Ort, an dem mystisches Erleben stattfinden kann. Hat man sich rituell in diese Loge begeben, können weitere rituelle Handlungen – wie zum Beispiel die Aufnahme eines Initianten in diesen Grad – vollzogen werden. Anschließend wird diese Loge rituell und in umgekehrter Reihenfolge, wie sie betreten worden ist, wieder verlassen. Der beschriebene Vorgang findet in jedem freimaurerischen Grad während sogenannter Tempelarbeiten statt.

Das Besondere an den Tempelarbeiten, wie ich sie im christlichen Freimaurerorden erlebe, ist, dass diese zwar mit jedem Grad, den man durchläuft, um neue Aspekte bereichert werden, der gesamte (ordens-) freimaurerische Weg jedoch bereits im ersten Grad – dem des Johannislehrlings – enthalten ist. Und ich habe für mich festgestellt, dass es für die Intensität meines Erlebens beinahe gänzlich irrelevant, in welchem Grad dieses Ritual stattfindet.

Der Ablauf einer Tempelarbeit hat von seinem Wesen her etwas sehr liturgisches. In mir lösen Tempelarbeiten ähnliche Zustände aus wie Meditationen oder vergleichbare Stille-Übungen. Im Laufe der Zeit ist die rituelle Loge so etwas wie eine innere Heimat für mich geworden. Gerade auch in den letzten anderthalb Jahren, in denen sich mein Weg verfinsterte und ich mich Anteilen von mir stellen musste, die ich am liebsten ganz weit weg geschoben hätte, habe ich die freimaurerischen Tempelarbeiten noch mal ganz neu als einen Ort schätzen gelernt, an dem ich zur Ruhe komme und mit mir selbst und meiner spirituellen Sehnsucht in Berührung komme. Wenn der Logenmeister eine jede Tempelarbeit eröffnet, indem er mit seinem Hammer auf den Altar schlägt und die Worte spricht „Ehre sei Gott“, spüre ich in diesem Moment, wie ich heimkehre…

Erhabener Tempel

Wir traten aus dem großen, tiefen Wald heraus auf eine Lichtung. Der Frühling hatte die ersten zarten Blätter und Halme hervorgelockt, die den Boden der Lichtung in ein frisches und saftiges Grün kleideten. Durchsetzt von zahllosen weißen Blüten. Diese verliehen dem ganzen Bild etwas Märchenhaftes. Aus dem grün-weißen Meer erhoben sich einzelne, altehrwürdige Baumriesen. Deren würdevoll mächtigen Kronen wurden langsam vom Frühling wachgeküsst.

Kein von Menschenhand erbauter Tempel hätte jemals so wundervoll und erhaben sein können, wie der Tempel, in dem wir gerade standen. Mein Weggefährte nickte. Er verstand.

Die Situation erinnerte mich an einen Satz, der die Männerarbeit nach Richard Rohr prägt. Dieser besagt, dass der Menschheit zwei Bibeln gegeben sind: Bei der einen Bibel handelt es sich um das dicke, alte Buch, das die Lehre sowie die Geschichte des Christentums enthält. Bei der anderen Bibel handelt es sich um die die Natur um uns herum.

Hieraus spricht das Wissen, dass das Wesen Gottes, die spirituellen Gesetzmäßigkeiten dieser Welt sowie die Kreisläufe des Lebens vollständig offenbart sind in der Schöpfung.

Von Menschen erdachte Rituale – so der Franziskaner-Pater Richard Rohr folgerichtig – können immer nur so sinnvoll sein, wie es ihnen gelingt, diese Gesetzmäßigkeiten und Kreisläufe abzubilden und auszudrücken. Gute Rituale verweisen in letzter Konsequenz immer auf die Schöpfung. Folglich können Rituale auch nie so kraftvoll sein, wie die Natur es seit jeher aus sich heraus bereits ist.

Auf eine tiefe und intuitive Weise begannen wir diese Wahrheit zu erahnen, als wir auf die Lichtung traten und uns ihrer Pracht bewusst wurden. Wir verharrten noch eine ganze Weile. In Schweigen versunken. Und ließen zu, dass sich dieses wundervolle Bild tief in unsere Herzen einbrennt.

Irgendwann setzten wir unseren Weg fort. Achtsamen Schrittes. Durch diesen so erhabenen Tempel, der uns von allen Seiten umgab.