Der große Fluss

Jeden Morgen überquere ich den großen Fluss. Auf meinem Weg zur Arbeit in die pulsierende Metropole.

Umgeben von Menschen mit Kopfhörern auf den Ohren und Displays vor den Augen. Nicht wahrnehmend, was ihnen ihre Umgebung zu sagen hat. Unachtsam für die ganzen kleinen Details des Alltags. Und viel zu oft bin ich selbst nur ein Teil dieser grauen, unachtsamen Masse. Kopfhörer auf den Ohren, ein Display vor den Augen. Konsumieren und betäuben statt wahrnehmen.

Manchmal jedoch gelingt es der morgendlichen Sonne, einzelne der Fahrgäste zu berühren. Dann beobachte ich sie heimlich. Wie sich ihre Blicke in der Weite, die sich auf der anderen Seite des Waggonfensters auftut, verlieren. In der Weite des großen Flusses, der der Sonne entgegenfließt. Bis zum Horizont. Und irgendwo dort ganz hinten kommen sie mit sich selbst in Berührung.

Manchmal bin es aber auch ich, dessen Blick sich in dieser Weite verliert. Es ist, als bliebe die Zeit stehen. Nur für diesen einen Augenblick. Und dann steigt so etwas wie Ehrfurcht in mir auf. Ehrfurcht und Dankbarkeit. Für einen kurzen Augenblick bedauern meine Gedanken nicht die Vergangenheit oder befürchten die Zukunft. Sondern sind präsent, im Hier und Jetzt. Und für einen kurzen Moment erahne ich, was die Mystiker der verschiedenen Traditionen mit den Worten „Eins-Sein“ und „Verbunden-Sein“ gemeint haben könnten… Bis mich dann plötzlich am Bahnfenster vorbeirasende Lärmschutzwände aus diesem Moment wieder jäh herausreißen.

Solche Momente zeigen mir, dass der große Fluss, den ich tagtäglich überquere, so viel Essentielles zu erzählen hat. Von dieser Welt und von diesem Leben.

Und gerade jetzt im Herbst benutzt er so mächtige Bilder dafür. Den einen Morgen liegt er zugebettet in dichtestem Nebel. Den anderen Morgen taucht ihn die Sonne in Farben so wundervoll, dass mir die Worte fehlen. Eingerahmt vom prachtvollen Bunt der Bäume, die seine Ufer säumen. Ein Anblick, dessen Erhabenheit nur betrachtet und genossen, nicht aber eingefangen und konserviert werden kann. Ein Anblick, der mir bewusst macht, dass ich Teil von etwas viel Größerem bin, als dass ich und mein kleines Ego es je fassen könnten.

Und trotzdem schwingt in diesem Bild auch eine seltsame Melancholie mit. Denn der Herbst lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Zeit des Lichtes, die Zeit der Fruchtbarkeit und die Zeit des Überflusses im Sterben liegt. Der Sommer wird schwächer von Tag zu Tag. Unwiderbringlich. Und schließlich wird er sterben. Vor uns liegt der lange und beschwerliche Weg durch das Dunkle. Es ist, als wolle uns der Herbst eine schöne Erinnerung, einen Funken Hoffnung mit auf diesen Weg geben.

So erzählt mir der große Fluss die ewige Geschichte vom Werden und Vergehen. Und gleichzeitig erzählt er mir von der Hoffnung, dass auf jedes Sterben auch ein Auferstehen folgt.

Unwillkürlich fühle ich mich an den Satz erinnert, der mir auf meinem Weg durch das freimaurerische Ritual an unterschiedlicher Stelle begegnet ist: “Kein Leben ohne Tod. Kein Tod ohne Leben.“ Aus diesem Satz spricht jenes alte Wissen, dass in allem Leben das Sterben bereits angelegt ist. Gleichzeitig aber auch, dass in jedem Tod die Geburt des neuen Lebens angelegt ist. Vielmehr: Das Sterben ist sogar notwendige Voraussetzung dafür, dass etwas neu geboren werden kann.

Und genau diesen Kreislauf von Werden und Vergehen und von Sterben und Auferstehen durchlaufen wir. Jahr für Jahr, Tag für Tag, Atemzug für Atemzug. Daher ist der Tod nicht das Ende, sondern notwendiger Teil der Verwandlung. Das Alte muss sterben, damit das Neue geboren werden kann.

Seit jeher ist es ein wesentlicher Aspekt von Initiationsriten, den Initianten für diese Gesetzmäßigkeiten achtsam zu machen. Ihn diese Gesetzmäßigkeiten rituell erleben zu lassen. Und ihn auf diese Weise in diese Gesetzmäßigkeiten „zurückzuverbinden“. Damit er irgendwann erkennt, dass nicht nur die äußere Welt, sondern auch sein innerer Weg sich in diesen Kreisläufen vollzieht.

Das ist eines der großen Mysterien des Lebens. Von diesem Mysterium erzählt mir das freimaurerische Ritual. Und von diesem Mysterium erzählt mir auch der große Fluss, den ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit überquere.

Wenn ich achtsam bin, kann ich dieses Mysterium überall in der Natur entdecken. Die Sprache, die die Natur hierfür verwendet, ist für jeden verständlich. Wir nehmen uns nur viel zu wenig Zeit, hinzuschauen und zuzuhören. Denn es scheint viel einfacher, den Kopfhörer auf den Ohren und das Display vor dem Gesicht zu haben. Einfacher, als inne zu halten und einfach nur wahrzunehmen?

Ich habe für mich den Entschluss gefasst, dass der große Fluss mein Lehrmeister sein darf. Er darf mich Achtsamkeit lehren. Achtsamkeit für die Mysterien und Kreisläufe des Lebens. Genauso, wie ich es auch dem freimaurerischen Ritual erlaubt habe…

(Dieser Artikel ist ganz besonders den Freimaurern Horst S. und Gerd-Wilhelm R. gewidmet, die in diesem Jahr – im hohen Lebensalter und doch viel zu früh – ihren Weg in den Ewigen Osten angetreten haben.)

Das Lied vom neuen Anfang

Auf einmal waren sie wieder da: Die Vögel, die morgens vor meinem Schlafzimmerfenster das Lied vom neuen Anfang singen. Die Sonnenstrahlen, die morgens sanft in mein Schlafzimmer kriechen und mich wachküssen. Die bunten Blüten, die durch die Erdkruste brechen und die Wiesen in ein prachtvolles Gewand kleiden. Das zarte Grün, das die Bäume und Sträucher ziert.

Und auch in den Augen der Menschen nehme ich wieder dieses wunderschöne Strahlen wahr. Ihre Gesichter wirken aufgehellt, irgendwie hoffnungsvoller. Es sind immer noch dieselben Menschen wie in den letzten Wochen und Monaten. Doch irgendetwas hat sich im Innersten dieser Menschen verändert.

Hinter uns liegen die dunklen Monate. Die Zeit, in der die Sonne nur wenig Kraft hatte. Die Zeit, in der Frost und Kälte alles durchdrangen. Als die Nacht den Tag niedergerungen und die Dunkelheit das Licht besiegt hatte. Die große Kraft des Lichtes ließ sich nur noch erahnen. Unsere Erinnerungen waren der einzige Ort, an dem es noch strahlen durfte.

Doch jetzt sind die Tage angebrochen, in denen das Licht neu geboren wird. Unaufhaltsam ersteht es auf und findet zu alter Stärke zurück. Und mit dem Licht kehrt auch das Leben zurück. Die gesamte Schöpfung strebt dem Licht entgegen. Erblüht aufs Neue. Wird fruchtbar. Das Leben sprießt, wohin ich auch schaue.

Und als wollte uns die Sonne mit der hinter uns liegenden Zeit versöhnen, taucht sie den Himmel in die erhabensten Farben. Morgen für Morgen und Abend für Abend. Der Himmel des Frühlings sieht genauso wundervoll aus, wie er es einst im Herbst tat. Doch erzählte der Herbst noch vom wundervollen Sterben, so erzählt der Frühling jetzt von der kraftvollen Auferstehung.

Wohin man auch blickt, stimmt die gesamte Schöpfung wieder in das ewige Loblied auf ihren Schöpfer ein. „Dann jauchzt mein Herz Dir großer Herrscher zu: Wie groß bist Du?! Wie groß bist Du?!“ Was vor uns liegt ist Licht. Was vor uns liegt ist Leben.

(Dieser Text ist ganz besonders meiner geliebten Frau gewidmet.)

Stille Nacht – Heilige Nacht?

Eigentlich wollte ich hier noch gar nichts schreiben, bevor mein Blog nicht komplett fertiggestellt ist. Aber ich habe das Gefühl, dass mich die (Vor-) Weihnachtszeit mal wieder regelrecht in den Wahnsinn zu treiben droht; oder halt an die Tastatur. Ich habe mich für letzteres entschieden.

Im Grunde arbeitet die Advents- und Weihnachtszeit mit kraftvollen und archetypischen Bildern, die, so glaube ich, die Macht haben, den Menschen im Innersten zu berühren und zu transformieren.

Es ist die dunkelste Zeit im Jahr. Die Tage sind so kurz und die Nächte so lang und tief, wie sonst nie. Es ist die Zeit der Kälte, die Zeit der Finsternis und die Zeit des Todes. Der Frost hat alles Leben unter sich begraben. Wir befinden uns im Winter; im Norden des Lebens.

Die Adventszeit fordert uns auf, inmitten dieser Dunkelheit und Trostlosigkeit auszuharren; diesen Schwellenraum außerhalb unserer Wohlfühlzone nicht zu verlassen oder „weg machen“ zu müssen. Es ist dieselbe Aufforderung, die bei den alten Initiationsriten an den Initianten gestellt wurde: „Stell Dich der Finsternis. Halte die Finsternis aus. Und das, ohne dass Du weißt, ob diese Finsternis je ein Ende nehmen wird.“ Auch in jeder Heldenreise kommt die Zeit, in der der Held in irgendeiner Weise durch das „dunkle Tal“ wandern muss, ohne zu wissen, ob er aus diesem jemals wieder herauskommen wird.

Aber der Winter ist auch die Zeit, in der unter der Eisschicht das heranreift, was im Frühling mal hervorbrechen wird. Daher fordert uns die Adventszeit inmitten dieser Finsternis auch auf, zu erwarten, dass das Licht geboren wird.

Und zu Weihnachten, in der längsten und tiefsten Nacht des Jahres, wird dann das, was wir noch nicht sehen können, geschehen: Das kleine Kind wird geboren werden: Jesus Christus, der später in der Bibel „Das Licht der Welt“ und „Der Morgenstern“ genannt werden wird. Der Morgenstern ist der Stern, der am Himmel erscheint, kurz bevor der neue Tag anbricht. Der, der verkündet, dass die Dunkelheit ein Ende hat, und dass das Licht kommt. In der antiken Mythologie war dieser Morgenstern einst Luzifer, der Lichtbringer.

Daher ist die Aufgabe des Advents zweierlei: Zum einen fordert er uns auf, die Dunkelheit auszuhalten. Zum anderen richtet er unseren Blick aus auf die Geburt des Lichtes. Diese Geburt kann aber erst stattfinden, wenn die Nacht am tiefsten ist.

Ich glaube, dass unserer Gesellschaft die Fähigkeit, Dunkelheit zu ertragen, Finsternis auszuhalten, weitestgehend verloren gegangen ist. Wir haben eine Ideologie, die die egomanen subjektiven Bedürfnisse des Individuums über alles stellt. Ein Gesellschaftssystem, das auf Schmerzvermeidung und Sicherheit ausgelegt ist. Zumindest für die, die es sich leisten können. Und ein Wirtschaftssystem, das uns einredet, dass wir jedes Bedürfnis sofort befriedigen, jeden Mangel augenblicklich ausfüllen dürfen und müssen. „Ich will – alles – und das sofort!“

Und so verwundert es nicht, dass immer mehr Menschen alles tun, um die Finsternis des Winters zu vermeiden. Wenn es zu unangenehm wird, suchen wir uns flüchtige Befriedigung, flüchtige Ablenkung, flüchtiges Glücksgefühl. Dann greifen wir zu den Weihnachtssüßigkeiten – die es ja schon seit September zu kaufen gibt – kippen uns Glühwein hinter die Binden, schmücken unsere Häuser und Wohnungen mit hellen und bunten Lichtern und hören kitschige, inhaltslose Weihnachtsmusik. Viel Aufwand, nur um die dunkle Jahreszeit, die uns mit unserem Tod und unserer Endlichkeit konfrontiert, nicht wahrnehmen zu müssen.

Advent und Weihnachten sind mittlerweile oftmals nicht viel mehr als der hohle und belanglose Abklatsch einer idealisierten Heilen Welt. Die kitschige Weihnachtsromantik unserer Gesellschaft verkommt mehr und mehr zu einer Flucht vor der Realität, als dass sie uns noch mit unseren ureigensten Lebensthemen in Berührung kommen ließe.

Es ist ein Gesetz der Psychologie, dass alles, was man verdrängt, weil man es nicht erträgt, in viel mächtigerer und destruktiverer Weise an anderer Stelle wieder hervorbrechen wird. Wenn ich das bedenke, dann stelle ich mir die Frage, was für Aussichten eine Gesellschaft hat, die alles, was mit Tod, Finsternis und Endlichkeit zu tun hat, verdrängt?

Und was muss geschehen, damit eine Gesellschaft sich der archetypischen und transformierenden Botschaft der Advents- und Weihnachtszeit wieder bewusst wird?