Die toxische Seite des Christentums

SPIRITUALITÄT UND TOXISCHE RELIGION

Wer auf meinem Blog liest, dem wird eines sehr schnell klar: Das prägende Element, das sich durch jedes meiner Bilder, durch jeden Buchstaben, den ich niederschreibe, zieht, ist Spiritualität. Und da ich die Geschichten, Symbole und Bilder meiner Spiritualität in erster Linie dem Christentum entlehne, nehme ich auch häufig Bezug auf Gott und auf Jesus Christus. Folglich ist auch meine grundsätzliche Beziehung zum Christentum zunächst eine positive.

Wenn Ihr wissen wollt, wie ich „Spiritualität“ für mich definiere, lest Ihr am besten meinen Artikel „Spirituelle Heldenreise„. Und wenn Euch interessiert, was ich unter „Gott“ verstehe, lege ich Euch meinen Artikel „Freimaurertum benötigt Spiritualität und Gottesbezug“ ans Herz. Diese Blogartikel vorausgesetzt, ist der Ausgangspunkt sowie der Endpunkt von Spiritualität, wie ich sie verstehe, immer das mit menschlicher und göttlicher Würde beschenkte Individuum. Und über diese Würde verfügt das Individuum ganz unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Religion, seinem kulturellen oder sozioökonomischen Hintergrund, seiner geschlechtlichen Identität, seiner Weltanschauung oder was auch immer. Weiter geht es in dieser Spiritualität immer um das Verbunden-Sein beziehungsweise das Eins-Sein dieses Individuum mit allem, was existiert und seinem eigenen göttlichen Urgrund. Es geht immer um die Überwindung des egodominierten Selbst („Falsches Selbst“), das Freilegen des eigenen ursprünglichen göttlichen Kerns („Wahres Selbst“) und die Rückkehr zum eigenen Ursprung. Folglich kann Spiritualität niemals faschistisch motiviert sein, sich über Feindbilder definieren oder im Widerspruch zur Wissenschaft stehen. Vielmehr ist sie sogar eine bereichernde Ergänzung, Fortführung und Horizonterweiterung der Wissenschaft. Spirituelle Weltsicht kann und muss immer undogmatisch, nondualistisch, interdependent und holistisch sein.

Dieses Verständnis von Spiritualität hat zur Folge, dass ich den unterschiedlichen Religionen und religiösen Traditionen der Menschheit zuerst einmal wertschätzend gegenüberstehe. Und aus der Innenansicht des Christentums heraus könnte ich unzählige Blogartikel mit der Nächstenliebe und dem sozialen und karitativen Engagement, das ich bei vielen Christen erleben durfte, füllen. Das bedeutet für mich im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ich die Religion im Allgemeinen oder das Christentum im Besonderen verkläre oder unkritisch sehe. Schließlich bin ich auf meinem Weg zur Genüge mit den toxischen Seiten der Religion in Berührung gekommen. Auf meinem Blog habe ich die Religion beziehungsweise bestimmte religiöse Auswüchse immer wieder auch kritisch gestellt.

Das aktuelle Weltgeschehen jedoch hat mich jüngst innehalten und die Rolle der Religion noch einmal kritischer hinterfragen lassen. Als Gläubiger ist mir hierbei aufgefallen, dass die Bilder der letzten 20 Jahre, die mich im Zusammenhang mit geopolitischen Machtkämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen am stärksten verstört und betroffen gemacht haben, die Religion zu verantworten hat. Und als Christ beobachte ich mit Sorge, dass Teile des Christentums zunehmend eine destruktive und lebensverachtende Rolle in diesen Machtkämpfen und Auseinandersetzungen einnehmen.

Im Folgenden werde ich exemplarisch vier dieser mich verstörenden Ereignisse herausgreifen und kurz Revue passieren lassen. Abschließend werde ich an dem, was der christliche Religionsgründer Jesus Christus laut biblischer Überlieferung zum Thema Macht und Gewalt vor etwa 2000 Jahren gelehrt hat, Maß nehmen, und daran die beschriebenen aktuellen Entwicklungen des Christentums bemessen. Auch, wenn mein Fokus primär auf dem Christentum liegt, so will ich, den Einstieg dennoch mit dem Islam machen.

ISLAMISTISCHER TERRORISMUS

Alles begann mit dem 11. September 2001. Von denen, die damals alt genug waren, den Anschlag auf das World Trade Center bewusst mitbekommen zu haben, ist mir bislang niemand begegnet, der nicht auch über 20 Jahre später noch klar benennen könnte, was er in dem Moment, als die Passagiermaschinen in die Tower stürzten, gerade machte. Ich selber nahm damals an einem „Ethik-Seminar“ teil. Es ging um ethisch-moralisches Handeln im beruflichen Kontext. Zuerst vibrierte mein Handy. Eine Freundin hatte mir eine SMS (denn WhatsApp und Co. gab es damals noch nicht) mit folgendem sinngemäßen Inhalt geschickt: „Das World-Trade-Center ist kaputt. Das Pentagon ist kaputt. Und mir ist auch schon ganz schlecht.“ Im nächsten Moment platzte eine Kollegin aufgeregt in den Seminarraum. Diese hielt sich ein Radio ans Ohr. So ein analoges Radio mit ausziehbarer Antenne und so. Im übernächsten Moment war der gesamte Kurs auch schon um einen Fernseher herum versammelt und zog sich die schockierenden Bilder aus New York rein. Immer und immer wieder. Als ich am nächsten Tag in einer norddeutschen Großstadt eine Tageszeitung kaufen wollte, gab es keine mehr. Vom deutschlandweiten Blatt bis hin zur kleinen Regionalzeitung, sie waren alle ausverkauft.

Der Anschlag vom 11. September hatte traumatisierendes Potenzial. Zum einen, weil die Weltgemeinschaft es niemals für möglich gehalten hätte, dass solch eine Tat auf amerikanischem Grund und Boden möglich sein könnte. Und zum anderen, weil er einer breiten westlichen Öffentlichkeit zum ersten Mal die Realität islamistischen Terrorismus‘ vor Augen führte.

In den folgenden Jahren sollten weitere Anschläge unterschiedlicher islamistischer Couleur auf europäischem Grund und Boden folgen. Insbesondere der Anschlag auf das Verlagsgebäude der französischen Satirezeitschrift „Carlie Hebdo“ im Jahr 2015 als Rache für die Veröffentlichung von Karikaturen des muslimischen Propheten Mohammed traf mich bis ins Mark. Er ließ mich fassungslos und wütend zurück. Schwang in der Tatausführung doch so unendlich viel Verachtung für die freiheitlichen Werte des Westens mit. Damals hätte ich nie zu denken gewagt, dass selbst diese Tat noch zu toppen gewesen wäre: Im Jahr 2020 wurden in Frankreich Lehrer von Islamisten enthauptet, weil der Stoff ihres Unterrichts nicht genehm war. Wie barbarisch, wie bestialisch!

Neun Jahre nach dem Terroranschlag vom 11. September nahm ich an einem Seminar der Universität Hamburg teil. Es ging um den Umgang mit Menschen anderer Kulturen. Zwei Aussagen, die dort von den Dozenten getätigt wurden, sind bei mir haften geblieben. Die erste Aussage war: Es gibt eine Korrelation zwischen der sozialen Lebenssituation in einer Gesellschaft und der Bereitschaft des Einzelnen, islamistisch motivierte terroristische Anschläge zu begehen. Je unsicherer ein Gesellschaftssystem und je prekärer die Lebenssituation der Bevölkerung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort auch Terrorakte verübt werden. Daher ereignet sich auch die große Masse islamistischer Terroranschläge in muslimischen Ländern. Und die zweite Aussage war: Die mit großem Abstand meisten Opfer islamistischer Terrorakte sind Moslems. Klar, beides relativiert nicht die Verantwortung, die die Religion des Islam für diese menschen- und lebensverachtenden Taten trägt, aber es ordnet sie in einen größeren Kontext ein und leitet sie ein wenig her. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Islam die rechtfertigende Ideologie und auch die praktische Infrastruktur für diese Taten geliefert hatte.

In den christlichen Kreisen, in denen ich mich damals bewegte, wurde vergleichsweise schnell mit dem Finger auf den Islam gezeigt. Die Gräueltaten des islamistischen Terrorismus galten als letzter Beweis dafür, dass der Islam an sich von Grund auf böse oder gar ein satanischer Irrweg sei. Die Gräueltaten des Christentums, wie zum Beispiel Kreuzzüge und Hexenverbrennungen, lagen lange genug zurück, so dass mancher Christ sich ruhigen Gewissens über „diese Moslems“ erheben konnte. Damals war die Welt noch in Ordnung: Die Moslems waren die Bösen und die Christen die Guten. Doch schleichend und von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt, sollte sich dies nach und nach ändern…

REGENWALD IN FLAMMEN

2018/2019 gingen Bilder durch Presse und soziale Medien, auf denen große Flächen des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes in Flammen zu sehen waren. Dieser Regenwald brannte in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit wie niemals zuvor. Mitverantwortlich dafür zeichnete der damalige brasilianische Präsident, Jair Messias Bolsonaro. 2018 ins Amt gewählt, betrieb er eine Politik, die der Brandrohdung des Amazonas-Regenwaldes Vorschub leistete und Bestimmungen zum Schutz des Regenwaldes sukzessive aufgeweichte und abgeschaffte. Auch seine Maßnahmen zur Eindämmung der Brände wurde als völlig unzureichend kritisiert. Sie waren zu wenig, zu langsam und zu halbherzig.

Laut Wikipedia vertritt Bolsonaro „gesellschaftspolitisch rechtspopulistische bis rechtsextreme und wirtschaftspolitisch neoliberale Positionen“. Was mir lange Zeit gar nicht bewusst war, war, wie tief Bolsonaro in den evangelikal christlichen Milieus Brasiliens verwurzelt ist. Und dass die Stimmen eben dieser Milieus ausschlaggebend für seine Wahl zum Präsidenten Brasiliens gewesen waren. In diesen Milieus soll er Zustimmungswerte von bis zu 73 Prozent erhalten haben.

Doch wie kam es dazu? Denn noch Ende der 70er beziehungsweise Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts waren 9 von 10 Brasilianern katholisch gewesen. Seither jedoch sind die evangelikalen Richtungen des Christentums dort die am stärksten wachsenden Glaubensgemeinschaften. Mittlerweile zählen rund 30 Prozent von Brasiliens Gesamtbevölkerung zu evangelikal christlichen Kirchen. Geht diese Entwicklung so weiter, wird es dort in absehbarer Zeit mehr Evangelikale als Katholiken geben. Und die evangelikalen Milieus sind welche, die sich ins politische Geschehen einmischen und versuchen, Einfluss zu nehmen. Sei es, um Steuererleichterungen für ihre wie Wirtschaftsunternehmen geführten Kirchen zu erreichen, sei es, um ihre national rechts-konservativen Positionen in der Gesellschaft durchzusetzen und zu verfestigen oder um ihnen wohlgesonnene Entscheidungsträger an den wichtigen gesellschaftlichen Positionen zu installieren. Bolsonaro hatte dies erkannt und sich den evangelikal christlichen Milieus angedient. Die Frau, die er geheiratet hatte, entstammte der evangelikalen Kirche des populären Predigers Silas Malafai. In selbiger Kirche hatte Bolsonaro sich 2016 medienwirksam taufen lasse, und das obwohl er nach wie vor Katholik gewesen war. Im Wahlkampf schließlich hatte er die Positionen der evangelikalen Christen beispielsweise in Fragen der Sexualethik, der Drogenpolitik oder auch der Familienpolitik eingenommen und war mit Slogans wie „Brasilien über alles. Gott über allen“ in den Wahlkampf gezogen. Als Dank war in den evangelikal christlichen Milieus fleißig das Kreuz bei Bolsonaro gemacht worden.

Und kaum hatte Bolsonaro die Macht ergriffen, gingen diese apokalyptischen Bilder aus dem brasilianischen Amazonas-Regenwald um die Welt. Dieser brannte in einem Ausmaß nieder, wie es bis dahin nicht vorstellbar gewesen wäre. Die internationale Presse beobachtete das Krisenmanagement des neuen Präsidenten mit Unverständnis. Steckte dieser selbst hinter diesen Bränden, mit dem Ziel neues Weideland zu generieren? Verschleppte und unterminierte er bewusst die Brandbekämpfungsmaßnahmen? Oder war seine Intervention einfach nur schlecht koordiniert und durchgeführt? So mancher begründete Verdacht wurde in den Medien diskutiert. Und auch wenn man in dieser Sache von außen ziemlich eindeutige Indizien sammeln konnte, so liegt es doch in der Natur der Sache, dass die abschließende Beweisführung unvollendet bleiben musste.

Was einen aber förmlich ansprang, war das Schweigen der großen Mehrheit des evangelikalen Christentums, das Bolsonaro ins Amt gewählt hatte. Es war das Schweigen eben jener Christen, die sonst so lautstark ihre Stimme erheben, wenn es darum geht, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen oder die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu kämpfen. Als es um die Bewahrung der Schöpfung, um das Ausrotten ganzer Tierarten, um die Vernichtung des Lebensraumes indigener Menschen und die Bekämpfung des Klimawandels ging, da schwiegen genau diese Christen. Und dieses Schweigen war unüberhörbar.

ERSTÜRMUNG DES KAPITOLS

Am 06. Januar 2021 erstürmte ein Mob überwiegend weißer Männer eines der zentralen Symbole der amerikanischen Demokratie: Das Kapitol. Der Grund hierfür war die demokratische Abwahl des bis dato amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald John Trump. Auch wenn dieser Sturm vergleichsweise gesittet vonstattenging, so brachte er dennoch Vandalismus und Diebstahl mit sich und forderte eine Handvoll Menschenleben. Viel schlimmer jedoch: Es war ein Tabubruch von ungeahnter Reichweite, weil er fundamental mit der demokratischen Idee brach. Sehr schnell wurde klar, dass dieser Sturm in seinem Kern christlich motiviert war. Für den geneigten Beobachter dürften insbesondere die Bilder dieses gehörnten, halbnackten und stark tätowierten, selbsternannten „Q-Anon-Schamanen“, der nach der Erstürmung im Inneren des Kapitols unter „Halleluja“- und „Amen“-Rufen eine christliche Gebetsgemeinschaft anleitete, am schwersten einzuordnen und zu ertragen gewesen sein.

Die Erstürmung des Kapitols stellte den vorläufigen Höhepunkt einer längeren Entwicklung dar, die in den 1970er Jahren ihren Anfang genommen und unter Präsident Trump eine neue Intensität und Dynamik bekommen hatte. Über Jahrzehnte hinweg hatten sich im christlich evangelikalen Spektrum der USA sehr meinungsstarke und medial zunehmend präsente Strömungen herausgebildet, die ihren Einfluss auf die Politik, insbesondere ins Republikanische Milieu hinein, sukzessive ausbauten. Sich im apokalyptischen Endkampf gegen die antichristlichen Kräfte des omnipräsenten, jedoch nur schwer greifbaren Feindbildes „Kultur-Marxismus“ wähnend, hatten sich diese evangelikalen Strömungen ideologisch zusehends radikalisiert und ihr politisches Koordinatensystem ins Rechtsextremistische und Nationalistische verschoben. Auffällig war auch, wie dieses Weltbild nach und nach anschlussfähig für die krudesten Verschwörungsideologien geworden war. Hervorzuheben seien hier die Ideologien rund um „Q-Anon“ (oder auch einfach nur „Q“). Deren Kern die Annahme ist, dass weltweit satanische Eliten in Hinterzimmern und Kellern Kinder quälten und töteten, um anschließend deren Blut zu trinken. In Präsident Trump hatte dieses christlich evangelikale Spektrum „seinen“ Präsidenten im Amt. Ein Präsident, der ihresgleichen an den wichtigen Schalthebel der Macht installiert und Gesetzesvorhaben in ihrem Sinne verabschiedet hatte.

Lässt man diese Entwicklung des evangelikalen Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika Revue passieren, überrascht es nicht mehr wirklich, dass es allem voran Christen waren, die in den Chor derer einstimmten, die die Abwahl von Donald Trump als durch Betrug zustande gekommen ansahen. Und dies, ohne dass es belastbare Beweise für diese Behauptung gegeben hätte. Und es überrascht ebenso wenig, dass es eben diese Christen waren, die vorneweg marschierten, als es darum ging, das Kapitol zu erstürmen. War diesen Menschen bewusst, was für einen Schaden ihr Verhalten im Herzen der Demokratie anrichtete; was für eine Signalwirkung dies für nicht-demokratische oder demokratiefeindliche Gesellschaftssysteme gehabt hat? Und auch hier war wieder augenscheinlich, welche zentrale Rolle das Christentum bei der Rechtfertigung dieser Taten spielte. Denn deren Antriebsfedern waren christlich begründete Apokalyptik und christlich legitimierte Feindbilder.

RUSSLAND-UKRAINE-KRIEG

Am 24. Februar 2022 begann Russland einen brutalen und gnadenlosen Angriffskrieg, als es mit einem massiven militärischen Aufgebot zu Land, zur Luft und zur See in den benachbarten Bruderstaat Ukraine einmarschierte. Was dies auslöste, wird von vielen Russen und Ukrainern als Bruderkrieg bezeichnet. Wie wahrscheinlich ganz Europa versetzten auch mich die Bilder, die dieser Krieg produzierte, in eine Art Schockstarre. Und es dauerte einige Tage, bis ich anfing, mich aus ihr zu lösen und Worte zu finden.

Neben den unzähligen Fragen, die solch ein Krieg immer aufwirft, fragte ich mich zunehmend auch, welche Rolle die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Auseinandersetzung eigentlich einnimmt. In ersten Internet-Recherchen fand ich Bilder von deren Geistlichen, die russische Raketen und Schusswaffen segneten. Allerdings konnte ich nicht verifizieren, dass diese Bilder tatsächlich im Zusammenhang mit dem aktuellen Russland-Ukraine-Krieg stehen. Was ich jedoch verifizieren konnte, war, dass Russisch-Orthodoxe Geistliche vor der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 militärisches Gerät, Raketen, Schusswaffen und Soldaten der russischen Streitkräfte gesegnet hatten. In den Jahren danach jedoch war innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche ein leidenschaftlicher Streit darum entbrannt, ob es aus christlicher Sicht überhaupt zu vertreten sei, Kriegswaffen zu segnen. Aber selbst, wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche in dieser Frage ihre Position in Frage gestellt und geändert haben sollte, so befremdet ihre Haltung im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine dennoch sehr. In der Vergangenheit waren von dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I. (der im Übrigen mehrfacher Milliardär ist) zu hören, dass der Kriegsdienst ein Akt der Nächstenliebe sei. Und auch als die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin sich in Richtung Ukraine in Bewegung setzte, war keinerlei Intervention von Seiten dieser Kirche zu vernehmen. Das höchste der Gefühle war der Appell, die Anzahl der Kriegsopfer möglichst gering zu halten. Mit zunehmender Kriegsdauer radikalisierten sich die Worte des Russisch-Orthodoxen Kirchenoberhauptes. So begann er irgendwann, den Krieg gegen die Ukraine als notwendigen und apokalyptischen Glaubenskrieg gegen einen gottlosen Westen, gegen „die Kräfte des Bösen“ zu deklarieren. Und für solch einen heiligen Krieg nimmt man Opfer unter den orthodoxen Glaubensgeschwistern in der Ukraine sowie die Zerstörung ihrer Gotteshäuser als notwendigen Kollateralschaden halt in Kauf. Meiner Ansicht nach, gibt es für dieses Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche zwei Beweggründe:

Zum einen ist da dieser uneingeschränkt herrschende Machthaber Russlands, Wladimir Putin. Dieser inszeniert sich seit Jahren als orthodoxer Christ und sucht auf diese Weise den Schulterschluss mit der Russisch-Orthodoxen Kirche. So lässt er sich gerne in medial wirksamer Weise beim Besuch russisch-orthodoxer Gottesdienste, beziehungsweise beim Praktizieren russisch-orthodoxer Rituale in Szene setzen und soll auch schon Gesetzesentwürfe vorab mit der Kirchenführung abgestimmt haben. Weiter umgibt er sich mit einer verklärenden Lebensgeschichte, wonach seine gläubige Mutter ihn als Säugling heimlich und gegen den erklärten Willen seines atheistischen Vaters hatte taufen lassen. Das entsprechende Taufkreuz soll auf dramatische Weise einen Brand in einem von Putins Anwesen überstanden haben. Dies und die Tatsache, dass seine Familie diesen Vorfall unversehrt überlebt hatte, soll Putins Bekehrungsmoment zum russisch-orthodoxen Glauben gewesen sein. Daher trägt er dieses Kreuz bis heute unablässig um seinen Hals. Putin weiß, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht nur etwa 70 Prozent der Bevölkerung bindet, sondern auch, dass sie eng mit der russischen Geschichte und der russischen Identität verbunden ist. So war sie ein entscheidender Faktor des inneren Zusammenhalts, als sich im 10. Jahrhundert der erste Staat auf russischem Gebiet gründete und stabilisierte. Und gerade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1980er und 1990er Jahren, gab sie weiten Teilen der russischen Gesellschaft Zuflucht, Trost und Identität. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist in Russland ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. Putins Großmachtfantasien lassen sich nur mit ihr verwirklichen, nicht gegen sie. Am 18. März 2022 schließlich erreichte der Orthodoxe Christ Wladimir Putin einen an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbietenden Tiefpunkt. Am Jahrestag der Annexion der Krim riss er den Bibelvers „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannesevangelium, Kapitel 15, Vers 13) völlig aus dem Zusammenhang und entfremdete ihn dahingehend, ihn als göttliche Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine zu missbrauchen.

Darüber hinaus gibt es Stimmen, die der Ansicht sind, die Russisch-Orthodoxe Kirche selbst habe ein vitales Interesse daran, dass Russland diesen Krieg mit der Ukraine führt und auch gewinnt. Hintergrund ist, dass auf ukrainischem Boden mehrere orthodoxe Kirche existieren. Hervorzuheben, weil sie aufgrund ihrer Größen herausragende Stellungen einnehmen, sind hierbei die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarch untersteht, sowie die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die sich 2018 aus dem Zusammenschluss verschiedener orthodoxer Kirchen gründete und bis 2019 dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel unterstanden hatte. 2019 war diese Ukrainisch-Orthodoxe Kirche für eigenständig erklärt und in der Folge durch das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat von Alexandria, die Kirche von Griechenland und Zypern, anerkannt worden. Dies hatte natürlich auch die Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russlands zementiert und die Einflusssphären der Russisch-Orthodoxen Kirche geschmälert. Eine wie auch immer geartete Eingliederung der Ukraine in ein russisches Reich würde dies wieder abmildern.

Natürlich sind die Motivationen für den Einmarsch Russlands in die Ukraine vielschichtig und mannigfaltig. Es spielen geopolitische und wirtschaftspolitische Gründe, die Frage nach Lebensraum und Rohstoffen sowie nationalistische und geschichtsrevisionistische Beweggründe hinein. Darüber hinaus aber, so mein Eindruck, tobt unter seiner Oberfläche ein Religionskrieg; und zwar ein christlich motivierter. Dieser Eindruck verfestigte sich zusehends, als ich in den Sozialen Medien von Vertretern einer rechtsextrem christlichen Weltsicht las, die Wladimir Putin dafür feierten, dass dieser mit militärischer Stärke in letzter Konsequenz gegen einen dekadenten, degenerierten und von links-grün versifften Eliten durchseuchten Westen zu Felde zieht.

ZWISCHENRUF

Das waren jetzt drei Ereignisse, die aufgrund ihres verstörenden Charakters bei mir besonders haften geblieben sind. Drei Ereignisse, bei denen das Christentum direkt oder indirekt eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hat. Als ich diesen Blogartikel schrieb, wurde mir bewusst, dass die Auswahl dieser Ereignisse willkürlichen Charakter hat, weil man noch so viel mehr ähnlich gelagerte Ereignisse hervorkramen könnte. Was ist beispielsweise mit dem Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche? Hat es außerhalb des Christentums je solch ein System gegeben, in dem über Jahrhunderte hinweg, durch die Hierarchien der Institution gedeckt und vertuscht in struktureller Weise Kinder misshandelt und missbraucht werden? Ernüchternd ist es auch, sich mal mit dem Verhalten großer Teile der westlichen Christenheit zu den Abwürfen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945, die bis heute vielen hunderttausend Menschen das Leben gekostet haben, auseinanderzusetzen. Diese Aufzählung ließe sich wohl noch lange fortsetzen…

In diesem Kontext stellt der Religionsgründer des Christentums, Jesus Christus, dem Christentum in weiten Teilen ein Armutszeugnis aus, wenn er in der Bibel (Matthäus 7, 17-21) folgendes sagt: „So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Was sind die Früchte des Christentums?

Ich stelle all diese Fragen als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger. Und als tief im Christentum verwurzelter Gläubiger muss ich es mir gefallen lassen, wenn Menschen, die sich nicht zum Christentum zählen, mir genau diese Fragen vorwerfen. Tatsächlich kam mir beim Schreiben dieses Blogartikels die Frage, ob diese Welt nicht ein besserer Ort wäre, wenn es meine Religion, das Christentum, einfach gar nicht gäbe.

DIE LEHRE JESU CHRISTI

Auch wenn es seltsam klingt, mir geht es in diesem Blogartikel nicht darum, mich politisch zu positionieren. Ich kann und will nicht darüber urteilen, ob man als Gläubiger seinen christlichen Glauben eher konservativ oder eher liberal zu leben hat. Für beides gibt es gute Gründe. Und für beides gibt es schlechte Vorbilder. Für mich haben die „Christen in der AfD“ dieselbe Berechtigung wie die „Bundesarbeitsgemeinschaft Christ*innen bei Bündnis90/DIE GRÜNEN“. Egal jedoch, ob konservativ oder liberal, Jesus Christus, der Begründer des Christentums, hat klare und unmissverständliche Ansagen dazu gemacht, was den Umgang mit Gewalt und dem Mitmenschen angeht. Und an diesen Standards habe ich als Christ Maß zu nehmen, egal, ob ich mich als konservativ oder als liberal verorte.

Um diesen Standards auf die Spur zu kommen, langt ein Blick in das Neue Testament der Bibel, um genau zu sein in das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5 bis 7. Dort findet sich die sogenannte „Bergpredigt“. Diese dürfte wohl die Predigt von Jesus Christus mit der größten Strahlkraft und dem höchsten Verbreitungsgrad sein. Sie durchzieht vom ersten bis zum letzten Buchstaben ein Geist kompromissloser Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit. Gleich zu Beginn, in den Seligpreisungen, wird dort diese Richtung unmissverständlich klargemacht. So wird unter anderem den „Leid Tragenden“, den „Sanftmütigen“, den „nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden“, den „Barmherzigen“, den „Frieden Stiftenden“ und den „um der Gerechtigkeit Willen Verfolgten“ Seligkeit zugesprochen (Matthäus 5, 1-12). Dadurch hebt Jesus Menschen, die diese Eigenschaften aufweisen oder diesen Werten nachstreben, gleichzeitig auch als Menschen hervor, an deren Lebenswandel es sich zu orientieren lohnt. Im Weiteren scheint Jesus so etwas wie einen Wesenskern zu definieren, den jeder Einzelne von sich aus besitzt und der von seinem Gegenüber zu respektieren ist und nicht angerührt werden darf. Der Vergleich zur Menschenwürde drängt sich auf. Zumindest deute ich es in diese Richtung, wenn Jesus sagt, dass man sich seinem Bruder gegenüber nicht erst dann schuldig macht, wenn man ihn tötet, sondern bereits, wenn man ihn „nur“ mit Worten wie „Nichtsnutz oder Narr“ belegt. Dies verbindet er mit der Forderung, sich mit seinem Widersacher unverzüglich versöhnen (Matthäus 5, 21-26). Eines der stärksten Motive in der Bergpredigt jedoch ist die Aufforderung, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Es soll kein „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ geben, sondern, wenn einem auf die rechte Backe geschlagen wird, soll man auch die andere hinhalten, wenn einem der Rock genommen wird, soll man auch noch den Mantel geben und wenn man genötigt wird, eine Meile zu gehen, soll man zwei Meilen gehen (Matthäus 5, 38-41). Diese ganzen Forderungen gipfeln schließlich in der Aufforderung, die eigenen Feinde zu lieben und für die zu bitten, die einen verfolgen. Nur durch dieses Handeln beweist man sich als Kind Gottes. Und: Wenn man nur die liebt, die einen auch lieben oder nur zu seinen „Brüdern“ freundlich ist, was tut man da Besonderes (Matthäus 5, 43-48)? Auch im Weiteren wendet Jesus den Blick weg vom äußeren Feind, hin zum inneren Feind, wenn er sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Es soll nicht darum gehen, den „Splitter“ im Auge des Nächsten zu sehen, sondern den „Balken“ aus dem eigenen Auge zu entfernen (Matthäus 7, 1-5). Für den Umgang mit unseren Mitmenschen formuliert Jesus abschließend folgende Maßgabe: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7, 12). Ein Verhaltenskodex, der auch unter „Goldene Regel“ bekannt ist. Eine Forderung, die oberflächlich betrachtet erst einmal griffig und nett klingt. Taucht man jedoch tiefer in sie ein, realisiert man, dass sie ganz viel Achtsamkeit und Empathie erfordert. Denn es geht darum, die eigenen Bedürfnisse und auch die des Mitmenschen wahrzunehmen, zu ergründen, zu verstehen und zu respektieren. Das war jetzt ein exemplarischer Ritt durch die Bergpredigt von Jesus Christus. Es ließen sich in den Evangelien des Neuen Testaments der Bibel zahlreiche weitere Stellen mit einer identischen Zielrichtung finden.

Mir ist schon klar, dass eine friedfertige und gewaltlose Ausrichtung, wie Jesus sie fordert, in der Realpolitik, in der es in letzter Konsequenz immer um Macht geht, wohl nicht umzusetzen sein dürfte. Zu komplex sind realpolitische Zusammenhänge und zu eindimensional sind Jesu Forderungen. Mein Eindruck ist jedoch, dass es Jesus in der Bergpredigt gar nicht um einen Leitfaden für politisches Handeln gegangen ist, sondern um eine Orientierung für die Menschen, die ihm nachfolgen. Und diese Nachfolger von Jesus Christus sind nun mal die Christen. An sie richten sich seine Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit. Der einzelne Christ wiederum ist derjenige, der politisch aktiv werden kann. Und mein Blogartikel zeigt, dass es tatsächlich viele Christen sind, die politisch Einfluss nehmen und sich engagieren. Und wenn diese Christen sich zu allererst an Jesu Forderungen nach Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit orientierten und nicht damit beschäftigt sind, sich krankmachenden Endzeitideen, apokalyptischen Wahnvorstellungen und paranoiden Feindbildern hinzugeben, könnte diese Welt ein besserer Ort sein. Ganz sicher wären uns solch verstörende und traumatisierende Ereignisse, wie ich sie in diesem Blogartikel beschreibe, dann erspart geblieben. Ich frage mich, wann die Christen, die diese Ereignisse (mit) zu verantworten haben, endlich anfangen, die Lehre ihres Religionsgründers, Jesus Christus, von dem sie ja schließlich vorgeben, ihm nachzufolgen, ernst zu nehmen?

Kultur der Lüge

„Siehst Du die Streifen nicht,
die dort am Himmel steh’n,
da hab ich mal was zu gelesen.
Bestätigt wird das ganze
vom Experten-Team
und das sitzt neben mir am Tresen.“
(Dritte Wahl)

DER JUDE AN SICH

Vor ein einigen Monaten diskutierte ich mit einer Person, die mir nahesteht, über die aktuelle politische Großwetterlage in Deutschland. Wie so oft. Wir telefonierten.

Diesmal ging es um die Frage, wie gefährlich das Corona-Virus tatsächlich ist und ob die Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung angemessen oder völlig überzogen sind. Durchaus Fragen, die man stellen und aus verschiedenen Blickwinkeln diskutieren kann. Mein Gegenüber vertrat die These, dass das Corona-Virus durch gezielt gesteuerte, gleichgeschaltete mediale Meinungsmache bewusst als gefährlicher dargestellt werde, als es tatsächlich sei. Es solle Panik und Angst in der Bevölkerung geschürt werden. Auf diese Weise solle das deutsche Volk gefügig gemacht und auf eine Corona-Zwangsimpfung vorbereitet werden. Verdienen daran solle Bill Gates, der seit Jahren große Geldsummen in die Impfstoffforschung, medizinische Einrichtungen und Organisationen sowie die WHO investiere. Ein weiteres Ziel sei es, durch die Lockdown-Maßnahmen die deutsche Wirtschaft und damit Deutschland selbst zu Grunde zu richten.

Dies, so führte mein Gesprächspartner fort, würde von denselben Mächten forciert, die schon im Jahr 2015 die deutschen Ausgrenzen für einen unbegrenzten und unkontrollierten Zustrom an Flüchtlingen aus muslemisch geprägten Ländern geöffnet hatten. Auch hierdurch sollte Deutschland geschwächt und das deutsche Volk schließlich sukzessive durch eine Mischrasse mit Migrationshintergrund ausgetauscht werden.

Ich kam in diesem Telefonat mit dem Atemholen kaum nach. Immer abenteuerlicher wurden die Theorien. Und als Beweise für deren Richtigkeit wurden ein paar fragwürdige Social-Media-Profile und Telegram-Kanäle, einige halbseidende Webpages sowie diverse Betroffenheit erzeugende YouTube-Videos angeführt.

Schließlich stellte ich die Frage aller Fragen: „Wer profitiert davon? Wer steckt hinter alledem?“ „Der Jude.“, kam die Antwort prompt. Mir fiel die Kinnlade herunter. „Also, den Finanz-Juden meine ich.“, konkretisierte mein Gesprächspartner seine Aussage. „Die Juden sind ja fast alle in der Finanzbranche aktiv.“

Ich merkte, dass diese Aussage eine unverrückbare rote Linie von mir überschritten hatte. Und diese rote Linie heißt Rassismus…

ZWEI FRAGEN

Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Doch waren es früher irgendwelche Nerds, die irgendwo am Rande der Gesellschaft irgendwelchen obskuren und letztendlich nicht beweisbaren Theorien anhingen, so dringen diese Theorien heute bis in die Mitte der Gesellschaft vor. Und schlagen Wurzeln. In den Köpfen der Menschen. In den Herzen der Menschen. Die neuen Medien machen es möglich.

Fake News haben Konjunktur. Schien es früher einen gewissen gesellschaftlichen Minimalkonsens zu geben, was ein Fakt ist, was dessen Deutung ist und was dessen Verdrehung, so scheint heute wahr zu sein, was gefällt. Behauptungen müssen nicht mehr bewiesen werden. Es langt, sie andauernd und vehement zu wiederholen.

Man könnte über diese Entwicklung ungläubig den Kopf schütteln oder einfach nur schmunzeln, wenn sie den gesellschaftlichen Diskurs nicht so radikalisieren, verrohen und vergiften würde. Man könnte über diese Entwicklung einfach hinweggehen, wenn sie nicht so paranoide Weltbilder erschaffen würde. Man könnte diese Entwicklung abtun, wenn sie nicht so tiefe Gräben in die Gesellschaft reißen würde. Legitimierten Verschwörungstheorien und Fake News anfangs „nur“ so manch virtuellen Shit-Storm, so legitimieren sie mittlerweile auch Gewalt gegen Menschen. Worin wird diese Entwicklung einmal münden?

Je mehr ich mich mit dem Phänomen der grassierenden Verschwörungstheorien und Fake News auseinandersetzte, desto mehr kristallisierten sich für mich zwei entscheidende Fragestellungen heraus: „Wie kommt es, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung jeden noch so abstrusen und ganz offensichtlich erlogenen Fake News, jeder noch ao abstrusen und ganz offensichtlich erlogenen Verschwörungstheorie aufspringt?“ Und: „Weshalb bringt dies solch eine Radikalisierung, Verrohung und Vergiftung des gesellschaftlichen Diskurses bis hin zur Legitimierung von Gewalt mit sich?“ Diesen Fragen will ich in diesem Blogartikel nachgehen.

EIN PAAR DEFINITIONSVERSUCHE

Doch bevor ich dies tue, sollte ich zunächst einmal umreißen, wovon ich ausgehe, wenn ich von Verschwörungstheorien und Fake News spreche.

Wikipedia beschreibt eine Verschwörungstheorie als „den Versuch, einen Zustand, ein Ereignis oder eine Entwicklung durch eine Verschwörung zu erklären, also durch das zielgerichtete, konspirative Wirken einer kleinen Gruppe von Akteuren zu einem meist illegalen oder illegitimen Zweck … Verschwörungstheorien dienen dem überlasteten Menschen in überfordernden Situationen, der Komplexitätsreduktion und der Aufrechterhaltung des Glaubens an die Durchschaubarkeit der Realität und die Selbstwirksamkeit des Subjekts“.

Das, was Verschwörungstheorien so schwer greifbar und schwer zu wiederlegen macht, ist, dass jedes Argument und jeder Beweis gegen eine solche Theorie von ihren Anhängern als ein Argument dafür umgedreht werden kann.

Fake News definiert Wikipedia als „manipulativ verbreitete, vorgetäuschte Nachrichten, die sich überwiegend im Internet, insbesondere in sozialen Netzwerken und anderen sozialen Medien zum Teil viral verbreiten.“ Im Duden findet man unter dem Stichwort Fake News folgende Definition: „In den Medien und im Internet, besonders in den Social Media, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen“.

Verschwörungstheorien und Fake News ist gemein, dass sie darauf abzielen, Stimmungen zu erzeugen und nicht darauf, sachliche Aufklärung zu betreiben. Verführerisch an ihnen ist, dass man sie gar nicht beweisen muss. Einmal vom Stapel gelassen, können sie sich ungefiltert ausbreiten und festsetzen. Sie sind mit einem Nachdruck formuliert, der ein Infragestellen nicht duldet. Dieser imperative Tonfall suggeriert Seriosität und Wissenschaftlichkeit und stellt jeden in die Ecke des naiven und unwissenden Idiotens, der es wagt, sie zu hinterfragen.

Im Zeitalter der Social Media können Verschwörungstheorien und Fake News in Wechselwirkungen des sich gegenseitigen Bestätigens und Beschleunigens treten und dadurch eine dramatische Dynamik entwickeln. So können Fake News erfunden werden, um Verschwörungstheorien zu stützen und umgekehrt Verschwörungstheorien, um Fake News zu stützen. Fatal wird dies, wenn diese Dynamiken in menschenverachtende Richtungen gehen oder extremistischen Ideologien in die Karten spielen.

ETHISCH-MORALISCHER BANKROTT

Meine These ist, dass in wir in diesen Tagen in unserer Gesellschaft eine Saat aufgehen sehen, die mindestens seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten oder gar seit Jahrtausenden ausgesät worden ist: Nämlich die schleichende Gewöhnung an vorsätzliche Lüge und an bewusste Halbwahrheit…

Da sind zunächst einmal die, die wir in unsere Parlamente gewählt haben, damit sie unsere Interessen vertreten. Wenn es um Lügen und bewusste Halbwahrheiten geht, marschieren diese seit jeher munter vorneweg. Die Vorbildfunktion, die ein politisches Amt immer mit sich bringen sollte und die sich in einem ethisch-moralischen Lebenswandel ausdrücken sollte, wird von den politischen Eliten viel zu oft mit Füßen getreten. Es war seit jeher opportun, das eigene Volk anzulügen, wenn es dem eigenen Machterhalt diente. Nahm ein Politiker so großspurige Worte wie „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“ in den Mund, ging es ihm nicht um Wahrheitsfindung, sondern darum, die Öffentlichkeit von der eigenen Lüge zu überzeugen. Wurden Sozialstandards abgebaut, Arbeitnehmerrechte eingeschränkt oder Voraussetzungen geschaffen, das Lohnniveau zu drücken, wurde uns dies als „notwendige Reformen“ verkauft. Und natürlich stand und steht es nicht im Widerspruch dazu, nach der politischen Laufbahn lukrative Posten in eben den Unternehmen zu bekleiden, die einem zuvor noch ebendiese „notwendigen Reformen“ in die Feder diktiert hatten.

Dann sind da die Bildschirme, Plakatwände und Zeitschriften, von denen seit Jahrzehnten belanglos makellose Menschen unsere Gesellschaft mit Lügen und bewussten Halbwahrheiten fluten. Produkte werden stimmungsvoll in Szene gesetzt und mit gefälligen Attributen wie „Wellness“ oder „Freiheit“ oder was auch immer gerade en vogue ist, versehen. Bei genauerem Hinsehen aber stehen diese Attribute meist im krassen Gegensatz zum angepriesenen Produkt. Denn was hat es beispielsweise mit Freiheit zu tun, eine Zigarette zu rauchen? Was hat es mit Wellness zu tun, mit Zucker und Palmöl vollgestopfte Nahrungsmittel zu sich zu nehmen? Es geht ausschließlich darum, emotionale Resonanz auszulösen. Es soll Lebensgefühl verkauft werden. Denn hat der Konsument erst einmal einen emotionalen Zugang zum Produkt bekommen, wird er es auch konsumieren. Egal, ob er Bedarf daran hat oder nicht. Egal, ob er sich damit vergiftet oder nicht. Gerne werden auch Label wie „Fairtrade“ oder „Bio“ auf Produkte aufgebracht. Doch in schöner Regelmäßigkeit werden Fälle bekannt, in denen diese Label entweder bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt oder durch Label ersetzt wurden, die die versprochenen Standards nicht einhalten. Denn in der Regel schert es die Unternehmen einen feuchten Dreck, ob ihre Produkte tatsächlich unter fairen und umweltschonenden Bedingungen hergestellt werden. Es geht ausschließlich darum, ein Marktsegment zu besetzen, um Gewinn zu machen. Und im nächsten Jahr muss dieser Gewinn noch einmal gesteigert worden sein. Daher geht es einzig und alleine darum, das Gewissen des Konsumenten zu beruhigen, damit dieser artig weiter konsumiert.

Wahre Profis im Spiel der Lügen und bewussten Halbwahrheiten sind aber auch diese aalglatten Nadelstreifenträger, die sich in den Chefetagen der großen Banken und Konzerne tummeln. Die tagein tagaus dem Diktat der Gewinnmaximierung folgen. Für die der gewöhnliche Arbeitnehmer oder hohe Umweltschutzstandards nicht mehr als lästige und möglichst niedrig zu haltende Kostenfaktoren darstellen. Die mit einem Federstreich Arbeitsplätze vernichten und Produktionsstandorte ins Ausland verlagern. Die an den Finanzmärkten astronomische Geldsummen verzocken und so ganze Volkswirtschaften in Schieflage bringen. Deren Solidarität und Mitgefühl exakt so weit reichen wie der eigene Vorteil. Die sich als Belohnung für ihre Arbeit nicht für möglich gehaltene Lohnexzesse genehmigen. Oder nicht minder exzessive Abfindungen zahlen lassen, wenn sie erfolglos waren. Und am Abend des Tages sitzen sie sonnenstudiogebräunt, gestriegelt und geschniegelt im sportiv konservativen Outfit in den Talkshows der Republik und erklären uns eloquent sympathisch, warum unsere Empörung über ihr Verhalten gar keine Berechtigung hat. Reicht das nicht aus, wird viel Geld in aufwendige Werbekampagnen gepumpt, bis es auch der Allerletzte geschluckt hat.

Befeuert wird die von mir skizzierte Kultur der Lüge durch eine Presse- und Medienlandschaft, die nach und nach ihre Funktion als gesellschaftlicher Wächter preisgibt. Lange Zeit war sie ein Bollwerk gegen diese Kultur der Lüge. Über Jahrzehnte hinweg war sie es, die den Finger in die Wunden legte und der Gesellschaft den Spiegel vorhielt. Es war nur folgerichtig, dass die Staats- und Verfassungsrechtler anfingen, von der Presse – neben der Legislative, der Judikative und der Exekutive – als der vierten Säule der Gewaltenteilung zu sprechen. Seit Ende der 80er beziehungsweise Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts jedoch wurde die Presse- und Medienlandschaft zunehmend dem Diktat der fiskalischen Rentabilität unterworfen. Der Fokus wurde verschoben auf die Maßgabe Gewinn zu erwirtschaften. Dies brachte eine schleichende Verflachung der Berichterstattung mit sich. Seither: Umfang und Qualität der Nachrichten gehen zurück. Es wird weniger in die Tiefe gegangen. Und die Aufmachung der Berichte ist zunehmend reißerisch und auf eine einfache Konsumierbarkeit ausgerichtet. Berichtserstattung wird zunehmend selektiv, was die Auswahl der Nachrichten angeht, und oberflächlich, was deren Tiefe angeht. Gebracht wird, was sich gut verkauft. Und das wird uns in mundgerechten Häppchen serviert.

Natürlich überspitze ich ganz bewusst, wenn ich ganze Berufsstände und gesellschaftliche Gruppen vollkommen plakativ an den Pranger stelle und über einen Kamm schere. Mein Artikel wird all denen nicht gerecht, die in den von mir angegriffenen Berufsständen arbeiten beziehungsweise zu den gesellschaftlichen Gruppen gehören und sich an dieser Kultur der Lüge ganz bewusst nicht beteiligen. Mein Artikel ist unfair all den aufrichtigen und ehrenwerten Journalisten, Politikern, Bänkern und Unternehmern gegenüber.

Und dann greift es natürlich auch zu kurz, einfach nur „irgendwelche andere“ oder gar „die da oben“ anzugreifen und für die aufgezeigten Entwicklungen verantwortlich zu machen. Dies wird einem komplexen und gesamtgesellschaftlichen Problemsachverhalt nur bedingt gerecht. Denn diese Kultur der Lüge hat letztlich nahezu jeden Winkel des gesellschaftlichen Lebens durchsetzt. Und auch wenn es natürlich die gesellschaftlichen Eliten und Meinungsführer – allen voran die aus Politik, Wirtschaft, Finanzbranche und Medien – sind, die durch ihr jahrzehntelanges Vorleben Halbwahrheiten und Lügen hoffähig gemacht haben, so bewegt sich doch ein jeder von uns in dieser Kultur der Lüge. Ein jeder von uns hat sich damit arrangiert und sehr wahrscheinlich auch seine Vorteile daraus gezogen. Ein jeder von uns steht Tag für Tag und in beinahe jeder Situation seines eigenen Lebens vor der Entscheidung, ob er dieses infame Spiel mitspielen will oder nicht. Und ich kann von mir sagen, dass ich viel, viel häufiger Teil dieser Kultur der Lüge bin, als mir recht sein könnte.

EINE FATALE ENTWICKLUNG

Trotzdem überspitze und vereinfache ich in diesem Blogartikel ganz bewusst. Denn dies ist mir Mittel zum Zweck. Auf diese Weise habe ich herausarbeiten und veranschaulichen können, was meine Kernthese ist: Wir sehen in diesen Tagen in unserer Gesellschaft eine Saat aufgehen, die mindestens seit Jahrzehnten – wenn nicht seit Jahrhunderten oder gar seit Jahrtausenden – ausgesät worden ist: Die schleichende Gewöhnung an vorsätzliche Lüge und an bewusste Halbwahrheit. Die Meinungsführer unserer gesellschaftlichen Eliten haben uns seit jeher derart inflationär belogen, dass sich die Lüge an sich seltsam vertraut für uns anfühlt.

Und so ist es nur zu folgerichtig, dass, wenn Menschen an den Punkt kommen dieser Kultur der Lüge zu misstrauen, sie sich nicht etwa für Wahrheit entscheiden, sondern einfach nur für eine neue Form der Lüge. Den offiziellen Meinungen und Verlautbarungen der gesellschaftlichen Eliten und Meinungsführern aus den Banken, Parteizentralen, Konzernen oder Medienhäusern wird nicht mehr geglaubt. Dafür aber halbseidenen und undurchsichtigen YouTube-Kanälen, Messengergruppen, Internetseiten und Onlineforen. Die, die den gesellschaftlichen Eliten und Meinungsführern nicht mehr glauben, glauben im Umkehrschluss nicht etwa an gar nichts mehr, sondern an so ziemlich alles. Zumindest an alles, was sie glauben wollen, weil es ins eigene Weltbild passt. Und da ist es letztendlich auch herzlich egal, wie verworren oder unhaltbar dieses Weltbild auch ist. Einmal an die Lüge gewöhnt, bleibt man ihr treu. Die vermeintliche Lügenpresse der anderen wird lediglich gegen die eigene Lügenpresse getauscht; die Kultur der Lüge der anderen gegen die eigene. Und genau aus diesem Grund haben Verschwörungstheorien und Fake News es bis in die Mitte der Gesellschaft geschafft. Deshalb sind sie so omnipräsent.

VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN, FAKE NEWS UND DAS EGO

Doch zu Beginn dieses Blogartikels hatte ich noch eine weitere Frage aufgeworfen, nämlich: „Wieso bringt der Glaube an Verschwörungstheorien und Fake News solch eine Radikalisierung, Verrohung und Vergiftung des gesellschaftlichen Diskurses bis hin zur Legitimierung von Gewalt mit sich?“ Weshalb entzweit er Menschen und bringt sie gegeneinander auf? Meines Erachtens lohnt es sich bei dieser Fragestellung näher hinschauen, in welche Wechselwirkungen Verschwörungstheorien und Fake News mit dem egodominierten Selbst – dem Falschen Selbst – des Menschen treten beziehungsweise treten können:

Zunächst einmal vermitteln Verschwörungstheorien und Fake News das Gefühl von Kontrolle. Denn in der Regel werden für komplexe und dadurch schwer nachvollbare Ereignisse und Entwicklungen einfachste Erklärungen herangezogen. Alles, was nicht in die herangezogenen Erklärungsmuster passt oder diesen widerspricht, wird ausgeblendet, wegretuschiert oder umgedeutet. Übrig bleibt eine vereinfachte und damit auch durchschaubare Weltsicht. Dadurch wird die Illusion befeuert, die Kontrolle über diese Welt, ihre Deutung und des Lebens an sich zu behalten.

Dann dienen Verschwörungstheorien und Fake News der Selbstüberhöhung. Schließlich ist man privilegiert, weil man sich im Besitz von „geheimem“ Wissen befindet. Und hierbei handelt es sich auch noch Wissen, das essentiell ist, um die Zusammenhänge und Zielrichtungen des gesellschaftlichen oder sogar weltweiten Geschehens zu verstehen. Man selber kennt die Wahrheit, für die die große Masse der Menschen blind ist. Dies kreiert das Selbstbild, ein Auserwählter zu sein.

Und meist geht dies alles einher mit einer gewissen Wagenburgmentalität. Man scharrt die Leute um sich, die denselben Verschwörungstheorien und Fake News anhängen. Es wird unterschieden zwischen „wir hier drinnen“, die wissend und sehend sind, und „denen da draußen“, die verblendet, irregeleitet oder blind sind. Es bleibt folglich nicht nur dabei, dass man sich selbst auf einen Thron setzt, nein, man wertet auch noch alle Außenstehenden und Andersdenkenden ab.

Als ich in Vorbereitung auf diesen Blogartikel zeitweilig einigen einschlägigen Telegram-Kanälen, auf denen verschwörungstheoretische Inhalte und Fake News (rund um die Stichworte „Q Anon“, „Corona-Leugnung“, „Der Austauch“ und so weiter) geteilt werden, folgte, wurde mir bewusst, dass diese eh schon sehr negativen Wirkweisen von Verschwörungstheorien und Fake News durch die Social Media durch noch drei weitere Aspekte zusätzlich eskaliert werden: Zuerst einmal werden Angst schürenden Szenarien gezeichnet, wonach geheime Mächte (wahlweise linke, grüne, kommunistische, jüdische, freimaurerische oder was auch immer für Kräfte) im Geheimen an den Schalthebeln der Macht sitzen und dieses Land (wahlweise auch die ganze Welt) nach und nach in den Abgrund ziehen. Dann erfolgt die Verbreitung dieser Inhalte in einer extrem hohen Taktung. Das hat zur Folge, dass der Konsument dieser Inhalte überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommt. Zu guter Letzt werden diese Inhalte in einer Art und Weise geteilt, die geeignet ist, den Konsumenten in einem andauernden Zustand von Wut und Empörung halten…

Zusammengefasst befördern Verschwörungstheorien und Fake News also die eh schon negativen, egodominierten Seiten der eigenen Persönlichkeit, indem sie dem Ego die Illusion von Sicherheit und Kontrolle vorgaukeln, es selbst überhöhen und über Andersdenkende erheben. Und durch die Art und Weise, wie diese Inhalte Verbreitung finden, wird der Verschwörungstheorie- und Fake-News-Gläubige in einem permanenten Zustand der Angst, der Wut und der Empörung denen gegenüber gehalten, die ihm als Schuldige für die Fehlentwicklungen in diesem Land oder gar in dieser Welt präsentiert werden.

Man darf sich nichts vormachen: Auf diese Weise wird den Konsumenten dieser Verschwörungstheorien und Fake News nach und nach die Fähigkeit zur Empathie abtrainiert. Und ganze Menschengruppen, nämlich all jene, die man als Drahtzieher oder Urheber der geglaubten Angst-Szenarien identifiziert, werden schleichend „enthumanisiert“. Denn sie werden nicht mehr als Menschen wahrgenommen und dargestellt, die mit Würde und Vernunft begabt sind. Nicht mehr als Menschen, die sich mit denselben Ängsten, Herausforderungen und Bedürfnissen konfrontiert sehen wie man selbst. Sondern nur noch als Gefahr bringende Subjekte, die es zu bekämpfen gilt. Empathie wird abtrainiert, Menschen werden enthumanisiert. Und der stille Begleiter dieser Entwicklung ist immer Rassismus, welcher dadurch seine Legitimation erhält und wieder gesellschaftsfähig wird. Und mit einem Mal unterhält man sich wieder mit Menschen, die hinter allem Übel dieser Welt „den Juden“ wähnen…

Und um noch eines klar zu sagen: Eine solche Entwicklung ist das komplette Gegenteil von dem, was einen „gesunden“ spirituellen Weg ausmacht. Umso bedenklicher, dass ausgerechnet eine relativ große Schar an konservativen Christen Verschwörungstheorien und Fake News aufsitzt. Denn eigentlich sollten Christen doch nach dem Dreifachgebot der Liebe leben, das Jesus Christus einst gebracht hat. Und dieses lautet: Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Die Bibel, Markus 12, 29).“ Liebe Gott – liebe Deinen Nächsten – liebe Dich selbst. Jesus spricht hier davon mit dem gesamten Wesen aus einer allumfassenden Liebe heraus zu leben. Liebe aber führt immer zu Mitgefühl und Empathie. Ich würde sogar soweit gehen, dass Liebe die Voraussetzung für Empathie ist. Das, was Verschwörungstheorien und Fake News aus einem Menschen machen, steht dem absolut konträr gegenüber. Da kann man sich noch so vehement auf das Christentum berufen und noch so enthusiastisch mit der Bibel herumwedeln, es ändert rein gar nichts daran.

VORBOTEN DES FASCHISMUS?

Wenn man zusammenfassend also die Argumentationslinien dieses Blogartikels nachvollzieht, ist es gar nicht mehr überraschend, dass sich ein nicht unwesentlicher Teil der Gesellschaft Verschwörungstheorien und Fake News zuwendet. Der Sozialisierung durch Lügen und vorsätzliche Halbwahrheiten sei Dank. Auch ist es nur zu folgerichtig, dass sich der gesellschaftliche Diskurs zunehmend radikalisiert, verroht und vergiftet, je mehr Verschwörungstheorien und Fake News Einzug halten. Denn es wird nicht nur das eigene egodominierte Selbst überhöht, sondern auch der Andersdenkende herabgwürdigt und zu einem hassens- und bekämpfenswerten Feindbild stilisiert. Dies alles bringt einen Verlust der eigenen Empathiefähigkeit sowie eine Enthumanisierung des Gegenübers mit sich. Rassismus, Übergriffe, Anschläge, Morde und Ausschreitungen stehen am Ende dieser Kausalkette. Entwicklungen, die wir in Deutschland aktuell live miterleben können.

Bereits im August 2015 schrieb ich in meinem Blogartikel „Wo Faschismus beginnt„: „Wenn man im Gegenüber nicht mehr den Menschen sehen kann und dessen Würde einer Anschauung unterordnet, ist – meines Erachtens – der Punkt erreicht, an dem Faschismus seinen Anfang nimmt. Hierbei ist es völlig unerheblich, ob diese Anschauung politischer oder religiöser Natur ist. Ein Wesensmerkmal faschistischer Systeme war und ist immer auch die Empathielosigkeit bestimmter menschlicher Gruppierungen gegenüber.“ Eine System, das Andersdenkenden gegenüber empathielos und in rassistischen Stereotypen auftritt, weil es diese enthumanisiert hat, verwirklicht also einen ganz wesentlichen Grundzug des Faschismus.

Wichtige Wegbereiter solcher Systeme sind und waren immer schon Verschwörungstheorien und Fake News gewesen. So erlebten wir es auf deutschem Boden bereits zu Zeiten der Weimarer Republik. Die Nazis hatten 1933 nicht völlig überraschend die Macht ergriffen. Nein, über Jahre hinweg hatten sie unter anderem durch das kontinuierliche Verbreiten von Verschwörungstheorien und Fake News ihrer Ideologie und ihrem Politikstil den Weg bereitet.

Ich kann nicht abschließend beurteilen, worin die von mir in diesem Blogartikel skizzierten Entwicklungen eines Tages mal münden werden. Aber ich kann ganz klar benennen, dass wir eine Entwicklung hin zu Radikalisierung, Verrohrung und Enthumanisierung in Kombination mit dem Verlust von Empathie erleben. Je weiter diese Entwicklung voranschreitet, desto weniger kann man davor seine Augen verschließen. Wann ist der Punkt erreicht, an dem jeder Mensch, der sich in den Werten von Demokratie und Menschenrechten verwurzelt weiß, Position beziehen muss? Fragen, die jeder nur für sich selbst beantworten kann. Ich weiß aber eines sicher: Die aktuelle Entwicklung hin zu Radikalisierung, Verrohrung, Enthumanisierung und dem Verlust von Empathie ist keine Alternative für Deutschland.