#Gedanke: Kraft und Empfindsamkeit

„Du bist
als vitales, lustvolles, schönes
Geschöpf gedacht,
das mit einem brillanten Geist
ausgestattet,
seine enormen
physischen und psychischen Kräfte
zum Wohle für Dich
und das große Ganze
einsetzen soll.
Das steht
überhaupt nicht
im Widerspruch zu
Deiner sinnlich-weichen,
einfühlsamen, empfindsamen
und sozialen Seite,
die sich mit den Menschen
und Wesen
Deiner Umgebung
tief verbinden kann.“

(Stefan Wolff)

#Gedanke: Auf, auf, junger Parzival!

„Nun zieh ich los, lass alles liegen,
das was ich brauch, ich bei mir trag.
Dies Gefühl kann nichts aufwiegen,
denn heute weiß ich, das wird mein Tag.

Neues Glück liegt auf den Wegen,
die Welt ist groß und sie ist mein.
Alte Träume, die brach gelegen,
ich lass die Sorgen Sorgen sein.

Neues Städtchen,
andere Mädchen,
es steht nie still, das Rädchen.
Einerlei
an welchem Ort,
einfach von zu Hause fort.“

(In Extremo,
aus: „Neues Glück“)

Lauf!

Schwärze. Ein kurzes Blinzeln. Helligkeit, wieder Schwärze. Ein erneutes Blinzeln. Helligkeit, Umrisse von Bäumen und Lagerhallen. Schwärze.

Schmerz. Unbestimmt. Durchzog mich. Dumpf, pochend. Schmerz. Vom Kopf strahlte er in sämtliche Körperregionen aus. Vermengt mit unablässigem Schwindel. Schmerz.

Der Geschmack von Eisen in meinem Mund. Blut. Unter meinem Kopf kalter, steiniger, grobkörnig harter Untergrund. Ebenso unter meiner Brust, meinem Bauch, meinen Armen, und unter meinen Beinen.

Irgendwo ein paar Meter entfernt von mir fiebernde Laute. Schmatzendes Stöhnen der Gier und des Leidens. Unfähig sich zu artikulieren. Wie eine Welle wogte es langsam auf mich zu.

Ich öffnete wieder die Augen und blinzelte in Richtung dieser Welle. Verschwommene Silhouetten einer großen Ansammlung von Gestalten. Waren es Menschen? Langsam humpelten, taumelten, stolperten sie auf mich zu. Ihr Schmatzen, ihr Stöhnen, ihr Hecheln, ihr Schreien drang unaufhaltsam lauter an mein Ohr.

Nach und nach gelang es mir, die Silhouetten der einzelnen Gestalten in dieser Ansammlung schärfer zu sehen. Doch irgendetwas stimmte mit ihnen nicht. Die Hautpartien von ihnen, die nicht von verdreckter und verschlissener Kleidung notdürftig bedeckt waren, schimmerten faulig und waren mit eitrig blutenden Kratern übersät. Hier und da hingen Haut- und Muskelfetzen leblos herab und legten blankes Knochenwerk frei. Je näher mir diese Kreaturen kamen, desto mehr wurde ich gewahr, dass über ihren Augäpfeln neblige Schleier lagen, was ihren Augen seltsame Ausdrucklosigkeit verlieh.

Wie versteinert lag ich am Boden und starrte auf das, was sich dort auf mich zubewegte. Panik! Es schnürte mir die Kehle zu. Angst! Nur noch wenige Schritte waren diese Kreaturen mittlerweile von mir entfernt. Jetzt nahm ich auch den Geruch der Fäulnis wahr, den sie verströmten. Ekel. „Steh auf! Lauf! So schnell Du kannst!“, schrie etwas in mir, „Lauf!“

Aaarrrgg! Ein dumpfer Schlag auf meine linke Wade ließ mich schmerzhaft zusammenzucken. Eine verrottende, halb skelettierte Hand hatte sie gepackt. Und zog mein Bein zu einem blutend geifernden Mund hin, dessen fletschende, von Karies zerfressenen Zähne sich jeden Moment lustvoll hineinrammen sollten. Ich holte mit meinem rechten Fuß aus und trat der Kreatur ins Gesicht. Ihre Wangenknochen brachen, Haut und Muskeln rissen und mein Fuß steckte in ihrem Rachen. Panisch rüttelte ich ihn hin und her. Als ich ihn hektisch wieder herauswuchtete, riss ich den gesamten Unterkiefer der Kreatur heraus. Blut und eitrige Masse spritzten hervor.

Hastig robbte ich ein paar Fußbreit von den Kreaturen weg. Hände griffen nach mir, Speichel schleuderte in meine Richtung. Ihr ohrenbetäubendes Schmatzen, Schreien, Stöhnen, Hecheln kreiste mich ein. Ich setzte mich auf, stürzte ein, zwei, drei Schritte nach vorne. Und taumelte wieder zu Boden. Schwindel.

Eine weitere Hand packte mich. Diesmal am T-Shirt. Ich wand mich raus. Und das T-Shirt riss mir vom Leib. Wankend kam ich auf die Füße. Und rannte los. Schwankend zunächst. Doch mit jedem Meter wurde mein Schritt sicherer. Und fester.

Ein gut und gerne zweieinhalb Meter hoher Maschendrahtzaun stoppte meinen Lauf abrupt. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Lunge rang nach Luft. Hinter mir hörte, roch und spürte ich die gierig geifernde Masse, die sich unaufhaltsam auf mich zubewegte.

Ich setzte den ersten Fuß in eine der Maschen. Doch beim Versuch, mich hochzuziehen, rutschte ich nach unten ab. Meine Kraft verließ mich. „Warum ausgerechnet jetzt?“ Erneut setzte ich einen Fuß in eine der Maschen. Er bekam Halt. Ich drückte mich hoch, setzte den nächsten Fuß in die nächste Masche. Für zwei Maschen, die ich emporkletterte, rutsche ich eine wieder ab.

Plötzlich begann der ganze Zaun zu wackeln. Die Kreaturen waren am Zaun angelangt. Sie rüttelten brüllend an ihm herum und versuchten unbeholfen, ihn ebenfalls hinaufzuklettern.

Da! Eine Hand hatte mich am Knöchel zu packen bekommen. Und zog mich nach unten. Ich rüttelte den Fuß und trat mehrfach mit dem anderen in Richtung der Kreatur. Doch verfehlte sie. Ihr Gewicht wog schwer an mir. Die Maschen, an denen ich mich festhielt, schnitten in meine Hände. Wie es schmerzte! Erst in meinen Händen, dann in meinen Armen. Ich spürte, wie meine Kraft schwand. Ich musste loslassen. Ein letzter verzweifelter Tritt in Richtung des Kopfes der Kreatur. Und der traf. Der Kopf knickte nach hinten weg. Der Hals riss im Bereich des Kehlkopfes auf. Blut, Eiter, Gedärme quollen hervor. Die Hand ließ von meinem Bein ab.

Zittrig tastete ich mich den restlichen Zaun hoch. Als ich oben angekommen war, ließ ich mich auf der anderen Seite des Zaunes einfach herunterfallen. Hart knallte ich auf staubigen Boden. Ich lag auf dem Rücken. Und atmete hastig wie schwer.

Unzählige faulende Hände griffen durch die Maschen des Zaunes in meine Richtung. Doch sie kamen ganz knapp nicht an mich heran. Je mehr dieser Kreaturen gegen den Zaun drängten, desto bedenklicher kam er ins Wanken. Nicht mehr lange, bis er nachgeben würde. Wieder schrie etwas in mir: „Lauf!“

Langsam richtete ich mich auf. Noch ein kurzer Blick zurück. Zurück zu dem, was dort hinter dem Zaun in meine Richtung drängte. Und dann ging ich los. Aus dem Gehen wurde Laufen, aus dem Laufen Rennen. Und ich rannte. Mit jedem Schritt, den ich zurücklegte, atmete mein Inneres auf. Und ich rannte. Über Wege und Straßen, über Wiesen und Felder, durch Dörfer. Und ich rannte. Landschaften und Gebäude flogen an mir vorbei. Und ich rannte.

Schließlich gelangte ich in einen dichten Wald. Sein Gehölz war wie schützende Arme, die mich empfingen. Und ich rannte. Mit jedem Baum, den ich zwischen mich und diese Kreaturen brachte, wuchs die Sicherheit. Denn mit jedem Baum, der mich verdeckte, nahm die Gewissheit zu, dass diese Kreaturen mich nicht mehr würden finden können. Und ich rannte. Das Gehölz des Waldes wurde dichter und dichter. Und wurde mir Zufluchtsort.

Der junge Parzival

Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Daran, wie lange ich im freien Fall nach unten gestürzt sein mochte. Daran, wie hart mein Aufprall auf den Boden gewesen sein mochte.

Als ich zu mir kam, war ich allein. Unter mir feuchter, modriger Waldboden. Langsam erhob ich mich und ließ den Blick schweifen. Um mich herum reihten sich Kiefern, Fichten und anderes Gehölz aneinander. Und verloren sich irgendwo im Dunkel, das diesen Ort vollständig unter sich begrub. Noch etwas anderes waberte hier: Traurigkeit, Einsamkeit. Es ging eine deprimierende Symbiose mit dem omnipräsenten Dunkel ein. Langsam kroch es mir unter meine Haut. Irgendwie aber strahlte dieser Ort auch etwas mir seltsam Vertrautes aus. Mit einem Mal war mir, als erkannte ich diesen Ort wieder. Oder als erkannte dieser Ort mich wieder.

Neben mir rottete eine kleine, hastig zusammengezimmerte Baracke vor sich hin. Die Tür stand einen Spalt weit offen, das Schloss hielt sie nicht mehr. An mehreren Stellen tropfte es durch das Dach ins Innere der Baracke. Die Scheibe des viel zu kleinen Fensters hinter den zerrissenen und angeschimmelten Vorhängen war gebrochen. Die Innenverkleidung aus Holz an mehreren Stellen aufgeqollen. Fauliger Geruch. Rechts, über die ganze Länge der Wand, lag eine notdürftige Matratze mit Decke und Kissen auf dem Boden. Daneben eine kleine Kiste, darauf ein Bilderrahmen ohne Bild. Irgendjemand schien hier zu hausen. Doch hatte er in diesem Raum keinerlei persönliche Note hinterlassen.

Ein paar Meter von der Baracke entfernt stand ein rundliches Häuschen aus Lehm, dessen Dach mit Stroh eingedeckt war. Kleine eckige Fenster ließen lediglich die Ahnung von Helligkeit ins Innere. So wie dieses Häuschen hatte ich mir immer die Hexenhäuschen in den alten Märchen vorgestellt. Von der Eingangstür aus erschloss sich sogleich eine kleine Küchenzeile mit Lehmofen und mehreren hölzernen Vitrinenschränkchen und Regalbrettern. Diese quollen förmlich über von Gefäßen mit allerlei Kräutern und Pulvern gefüllt und Fläschchen in allen Formen und Größen. In der Mitte des Häuschens befand sich eine offene Feuerstelle. Der Geruch erkalteten Rauchs lag in der Luft. An der einen Stelle an der Wand stand ein alter massiver Holztisch mit ebenso massiven Holzbänken drumherum. An einer anderen Stelle an der Wand ein kunstvoll verziertes hölzernes Bett mit verblasstem und verwaschenem Bettzeug darauf.

Neben dem Bett befand sich ein Nachttischchen und auf diesem ein stark verstaubter Bilderrahmen. Ich nahm das Bild in die Hand. Es zeigte eine alte Patriarchin. Mit jeder Pore strahlte sie Anmut und Dominanz aus. Sie war es, die über diesem Ort das Zepter schwang. Niemand und nichts konnte neben ihr erblühen. Ihre Präsenz erstickte alles Männliche. Vor der Patriarchin saß ein kleiner Junge: Kraftlos. Schwächlich. Einsam. Ödipal. Plötzlich wusste ich: Dies war der Junge, der die Baracke bewohnte. Die Patriarchin hatte ihm ihre Hand auf die Schulter gelegt. Der Junge war unter der Hand zusammengesackt. Ich wischte den Staub vom Bild, um das Gesicht des Jungen erkennen zu können. Als ich das getan hatte, erkannte ich, dass das Gesicht des Jungens mein eigenes Gesicht war.

#Gedanke: Allein die Reise

„Wir saßen lang am Ufer
und schifften in den Wind.
Wir wurden fett und träge.
Wir wurden taub und blind.
Vergaßen die Versprechen,
verloren Lust und Mut.
Erloschen war die Flamme,
kalt die Glut.

Wir setzen die Segel,
wir lichten die Anker,
fahren hinaus.
Wir gehen neue Wege,
niemals zurück,
immer voraus.
Die Leinen los!

Um uns Naturgewalten.
Das Herz wird wieder leicht.
Es zählt allein die Reise,
nicht das, was man erreicht.“

(Subway to Sally,
aus: „Leinen los“)